Glosse
Der Spieler: Wie der Teufel das Weihwasser
Das ist das Spiel für den Silvesterabend. Wir befinden uns in den Privatgemächern eines Luxushotels am Tavistock Square in London. November 1896. Draussen ein neblig-grauer Abend, die Strassen fast leer. Doch bei uns herrscht Hochbetrieb, die Stimmung ist knisternd. Denn für heute ist ein einzigartiger Wettbewerb angekündigt, ein Ereignis, wie es London noch nie erlebt hat: 50 berühmte Handleserinnen und Handleser – «Chiromanten», wie sie sich selber nennen -, Kristallkugeldeuter, Kaffeesatzleser und Astrologen kämpfen um den Titel des weltbesten Mediums.
Als Medium dabei
Jeder von uns schlüpft in die Rolle eines Mediums. Mit von der Partie sind Rami Sakar, der in Indien durch sein übernatürliches Talent aufgefallen ist, die junge Handleserin Tzciska Parovic aus Rumänien, John-Paul Kramer aus Boston, der im Verdacht steht, ein Betrüger zu sein, sowie Lord Edmund Fischner III, der sich seit seiner Jugend mit übersinnlichen Methoden befasst. Er hat den Wettbewerb finanziert und will, sofern er ihn gewinnt, das Preisgeld einem wohltätigen Verein zukommen lassen. Engländer sind halt so.
Die Aufgabe, welche die vier ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu lösen haben, ist nicht einfach: Sie müssen die Karten ihrer Gegner vorhersagen. Zu Beginn kennt man nur seine eigene Kartenhand und das Maximum der Karten für die vier Deutungsarten (Handlesen, Kristallkugel, Kaffeesatzlesen und Astrologie). Erschwert wird die Aufgabe dadurch, dass nicht alle 36 Karten im Spiel sind. Welche zu Beginn aussortiert worden sind, bleibt ein Geheimnis. Wer eine Karte ausspielt, muss gleich anschliessend wetten, wieviele gleichfarbige Karten im Spiel sind. Dafür aber darf man nur freie Tippfelder benutzen. Pech gehabt, wenn ein Wahrsager schneller war und das möglicherweise richtige Feld schon besetzt hat! In jeder Runde werden mehr Karten bekannt, so dass man seine Prognose laufend verfeinern kann. Bessere Voraussagen sollte man auch treffen können, wenn man die Informationen, die man durch Kartentausch zusätzlich erhält, sorgfältig auswertet. Diese Regelbestimmung hilft einem allerdings nur, wenn der Abend noch jung und das Gedächtnis noch wach ist … Wer gut schätzt, bekommt dafür Punkte, nach Ablauf von vier Runden hat gewonnen, wer am meisten Punkte hat.
Esoterik als Tabu
Das Spiel, bei dem der beste Wahrsager oder die beste Wahrsagerin gekürt wird, heisst «Divinare». Es handelt sich um ein schönes Deduktionsspiel für die ganze Familie. Es ist unkompliziert. Der Plot allerdings ist auf den ersten Blick eher ungewöhnlich. Denn Spielverlage meiden esoterische Themen wie der Teufel das Weihwasser. Der Grund dafür ist klar: Sie wollen nicht, dass ihre Spiele in die Ecke des Übersinnlichen gedrängt werden. Zwerge, Elfen, Drachen, welche die Welt der klassischen Sagen und Mythen bevölkern, das liegt noch drin, ja hat derzeit sogar Hochkonjunktur. Märchenthemen oder märchenhafte Themen sind für Kinderspiele reserviert, für Familienspiele höchstens in Ausnahmefällen, wie etwa «Sagaland». Die Wahl des Themas bestimmt letztlich auch das Zielpublikum. Und weil es im Bereich der Spiele auch ums Geschäft geht, sind Esoterik-Spiele ein No Go oder höchstens als Nischentitel gedacht für ein entsprechendes Publikum. Eine der wenigen Ausnahmen, an die ich mich erinnere, sind «Die drei Magier» von Johann Rüttinger, die Tarot-Elemente enthalten (erschienen 1990).
Dabei haben Tarotspiele und andere Kartenspiele eine lange gemeinsame Geschichte. Es gibt sie in Europa seit dem Ende des 14. Jahrhunderts. Massenhaft verbreitet wurden sie allerdings erst 100 bis 150 Jahre später, als die Erfindung Johann von Gutenbergs die Welt des Geschriebenen und Gezeichneten revolutionierte und preiswerte Druckerzeugnisse das gesammelte Wissen der Zeit auch den Gewöhnlichsterblichen zugänglich machte. Und jetzt konnten auch Karten gedruckt werden!
Die Menschen des späten Mittelalters verwendeten Karten nicht nur zum Spielen, sondern auch zum Deuten der Zukunft. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden sie als «Gebetbuch des Teufels» vielerorts von der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit verboten. Getrennte Wege gingen Tarot und die übrigen Kartenspiele erst, als sich Tarot ab Mitte des 19. Jahrhundert zum bekanntesten Deutungssystem mit esoterischem Hintergrund entwickelte. Damit verabschiedete es sich längerfristig als Spielvorlage. Denn Spielerinnen und Spieler suchen neben der Unterhaltung und der intellektuellen Herausforderung nicht noch zusätzlich Zukunftsdeutung.
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Divinare: Deduktionsspiel von Brett J. Gilbert’s für 2 bis 4 Spielerinnen und Spieler ab 10 Jahren. Asmodée-Verlag. Fr. 25.–
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».
"Denn Spielverlage meiden esoterische Themen wie der Teufel das Weihwasser.» Das freut mich sehr, denn es bedeutet, dass ein grösserer Teil der Bevölkerung nichts hält von Esoterik.