Glosse
Sprachlust: So steht die Schweiz im neuen Duden
Der Neuzuzüger stellte den Korb für die Grünabfuhr bereit und fuhr seine Tochter in den Kinderhütedienst; zum Glück war die Morgenspitze schon vorbei. Von einer Temporärangestellten, die gerade ihr Gottenkind hinbrachte, erfuhr er nebenbei, er könne beim Steuervogt den Kinderabzug geltend machen, aber er dürfe den Eingabetermin nicht verpassen. Und warum steht diese doch etwas banale Geschichte hier? Sie enthält neun Wörter, die der Duden dieses Jahr neu in seinen Band «Rechtschreibung» aufgenommen hat, versehen mit dem Zusatz «schweizerisch». Und mit diesen Erklärungen: jemand, der neu zugezogen ist, Abholung kompostierbarer (Garten-)Abfälle, Kinderbetreuung, Stossverkehr am Morgen, Leiharbeitnehmerin, Kind einer Patin, Fiskus (abwertend), Kinderfreibetrag, Einreichungsfrist.
Bei vielen Wörtern ist uns nicht bewusst, dass es sich um Helvetismen handelt, dass sie also nur oder vor allem in der Schweiz verwendet werden. Hochdeutsch können sie gleichwohl sein; sie sind es dann, wenn sie mit einer gewissen Regelmässigkeit im (hochdeutsch gemeinten) schriftlichen Gebrauch sind; die Duden-Redaktion stellt das vor allem anhand einer elektronischen Datenbank fest. Sie hat diesmal in erster Linie solche Helvetismen neu aufgenommen, die schon im letztes Jahr erschienenen Spezial-Duden «Schweizerhochdeutsch» stehen. Dort hätte sie auch sehen können, dass das Gottenkind nicht das Kind einer Patin ist, sondern eben ihr Patenkind.
Mundart bleibt zu Hause
Gut die Hälfte der 3000 «Schweizerhochdeutsch»-Einträge stand schon zuvor im allgemeinen Duden, von der andern Hälfte haben bei Weitem nicht alle den Sprung in die Neuauflage geschafft. Zum Beispiel «gottenfroh» (sehr froh, erleichtert) nicht; es ist im Spezial-Duden als «mundartnah» markiert. Im Rechtschreibe-Duden gibt es den Vermerk «schweizerisch mundartlich»; im Altbestand tragen ihn an die 200 Wörter, darunter «Pflotsch» und «Züglete». Unter den rund 80 Neuaufnahmen, die eine Liste der Duden-Redaktion umfasst, ist nichts «mundartlich». Denkbar wäre dieser Vermerk bei «Snöber» und bei «Körnlipicker»; das erste ist «umgangssprachlich», das zweite «scherzhaft».
Unter den übrigen sprachlichen «Neuzuzügern» fallen neben amtlichen Begriffen auch politische auf, wie Sesselkleber oder Parteipräsident, und kulinarische wie Fotzelschnitte, Gitzi, Hahnenwasser, Hobelkäse, Huft. Zudem ist eine Reihe französischer Schreibweisen in den Duden gelangt, die in der Schweiz nie den Eindeutschungen wie «Resümee» gewichen waren: so neben Résumé auch Entrée oder Communiqué.
Erlaubt ist alles, aber…
Bedeutet erst die Aufnahme in den Duden, dass wir diese Wörter in hochdeutschen Texten verwenden dürfen? Nein, aber so brauchen wir keine Zweifel mehr zu haben; «mundartliche» Wörter empfehlen sich indessen nur dann, wenn Mundartnähe beabsichtigt ist. Problemlos verwendbar sind auch Wörter, die allein im Band «Schweizerhochdeutsch» und nicht in der «Rechtschreibung» stehen. Und sogar solche, die weder hier noch dort verzeichnet sind, sind erlaubt. Wer sollte sie denn verbieten? Wir müssen uns nur bewusst sein, dass sie vielleicht nicht im ganzen deutschen Sprachraum verstanden werden – nicht einmal von Leuten, die nachschlagen.
Wer ein Wort gern in der nächsten Duden-Auflage sehen möchte, kann es dem schweizerischen Dudenausschuss melden, möglichst mit Belegen. Der Ausschuss sichtet die Vorschläge, und was er der Duden-Redaktion empfiehlt, wird in aller Regel aufgenommen – diesmal sogar für «Bock» die Bedeutung «Sitz des Parlamentspräsidenten». Bereits vorgeschlagen ist «Tourengänger/-in», denn laut der jüngsten Auflage heissen diese sportlichen Leute in der Schweiz (wie in Süddeutschland und Österreich) «Tourengeher».
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.
Meiner Meinung nach ist «Gottenkind» nicht identisch mit dem «Kind einer Patin". Ein Kind ist mein Gottenkind, wenn ich sein(ihr) Pate/in bin. Das Kind meiner Patin ist nicht mein Gottenkind.
Eben – darum schrieb ich (vor dem ersten Zwischentitel), die Duden-Redaktion hätte in «Schweizerdeutsch» die richtige Definition nachschauen können. Hingegen finden beide Wörterbücher, nur eine Frau könne ein Gottenkind haben. Dem Mann geben sie den «Göttibub"; ist’s ein Mädchen, so lassen uns beide Duden-Bände ratlos.
Ja, das sind halt Schreibtischtäter die für den Duden arbeiten.
Noch etwas Allgemeines:
Zuerst ärgerte ich mich damals, als so viele Regeln in der deutschen Sprache auf einen Chlapf geändert wurden. Ich soll jetzt umlernen?! Schon bald schaute ich das dann aber als Befreiung an. Die alten Regeln sind aufgebrochen und werden durch neue ersetzt. Das heisst für mich, mit den alten gelernten fühle ich mich jetzt viel freier im Schreiben.
Eigenartig ist, dass ich, wenn ich schreibe, hochdeutsch denke, also schreibe ich hochdeutsch. Spreche ich diese Sprache übersetze ich vom Schweizerdeutsch ins hochdeutsche. So schreibe ich hochdeutsch und spreche Schriftdeutsch. Dementsprechend ist bei mir das gesprochene Schriftdeutsch vollgespickt mit Helvetismen. Beim Schreiben hält sich das im Rahmen.
Zum «Gottenkind": das gehört schon zur Frau, der Gotte. Zum Götti eben das Göttichind oder Göttimeitli.
Aber in der Schriftsprache verwende ich nicht das, sondern das Patenkind (allerdings ist das ja ein Neutrum – oder?).
Unverständlich ist mir das Wort «wiegen» für Gewicht abwägen. Wurde ‹behende› durch den Hinweis auf ‹Hand› mit ‹behände› ersetzt, so geht der gesunde Menschenverstand davon aus, dass zur Waage ‹wägen› gehört. ‹Wiegen› hingegen gehört zur Wiege. Aber Sprache ist halt nicht logisch – und eben regional unterschiedlich.
Das Idiotikon bestätigt, dass das Gottenkind (in jüngerer Zeit) zur Gotte gehört, zitiert aber einen Text von 1699: «Wann Einer ein Gotta-Kind hat, soll er nit mehr als 10 fl. vermachen mögen.» Im Duden müsste als Entsprechung «Göttikind» stehen, und «Göttibub» wäre entweder zu streichen oder durch «Gottenbub» zu ergänzen, und in diesem Fall müssten «Gottenmeitli» und «Göttimeitli» dazukommen. Diese Wörter sind aber «mundartlicher» als jene auf «-bub". Gofen (Duden-Helvetismus) machen halt (dito) Sorgen!
Anglizismen, Helvetismen, Teutonismen, Dudeldismen….
Mich stören vorallem die Begriffsmutationen.
Z.B. «schreiten» ist doch ein stil- und würdevolles gehen, (abschreiten der Statisten bei einem Ehrenempfang…) Mit der Vorsilbe «aus» erhält das Verb eine ganz andere Bedeutung, obwohl «ab» und «aus» gar nicht sooo gegensätzliches sagen. Irgendjemand machte einmal diese Verdrehung zwecks stilvollem texten. Weshalb? und noch wesshalberer )-; machten soviele diesen Blödsinn nach? und am weshalbsten werden solch mutierte Begriffe zum germanistisch anerkannten Gut?
Zusammensitzen ist klar, eine Auseinandersetzung???? An unsrem Kulturradio hörte ich den Satz: «wir müssen uns mehr zusammensetzten um sich damit auseinander zu setzen…» (Es ging um Integration von Fremdsprachigen!!) Codierte Worthülsen. Der Duden regelt, damit auch solcher Unsinn seine Richtigkeit erhält… Viele Leute unterscheiden gerne in «richtig» und «falsch", nur deshalb braucht es Kataloge. Solche Schreibkultur dient der Verständigung wenig.
Wie kann ein flüssiges Medium «treten"? – und doch wird behauptet, dass Flüsse über die Ufer «treten". Wasser fliesst und schwemmt, dies erkennen wir in der «Ortho"-Natur und nicht in irgendeinem «ortho"-grafischen Katalog.