Glosse
Wie "negatives Wachstum" positiv schrumpfen kann
Das Bruttoinlandprodukt der meisten EU-Staaten ist im letzten Quartal 2011 geschrumpft. Diesen einfachen Sachverhalt präzisierte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) mit folgendem, nicht ganz einfachen Satz: «Von den 19 Ländern, für die bereits vollständige Daten vorliegen, haben 12 ein negatives und 5 ein positives Wachstum gegenüber der Vorperiode verzeichnet; Finnland und Zypern meldeten ein Nullwachstum.»
Seither frage ich mich, was die NZZ uns damit sagen will. Ist «positives Wachstum» positiver als Wachstum an sich? Oder ist Wachstum an sich schon positiv? Worin unterscheidet sich «negatives Wachstum» von Schrumpfung? Und was würde sich in den wachstumsgläubigen Köpfen ändern, wenn die Medien die Wortschöpfung «Null-Wachstum» durch «Null-Schrumpfung» und «positives Wachstum» ebenso konsequent durch «negative Schrumpfung» ersetzten. Der zitierte Satz lautete dann: «Von 19 Ländern haben 12 eine positive und 5 eine negative Schrumpfung verzeichnet.» Bei dieser Formulierung käme selbst ein NZZ-Redaktor ins Sinnieren.
Sprache entlarvt. Wer Schrumpfung in «Null-» oder «Negativwachstum» umdeutet, signalisiert: Wachstum ist das Mass aller Dinge. Wer davon abweicht, ist null oder nichtig. Dieser unbedingte Glaube ersetzt die Fragen, was denn wachsen soll, wozu, und wem es dient: Soll die Versorgung mit Nahrung und Kleidung für alle wachsen? Oder der Luxus für wenige? Der Verbrauch von Heizöl? Der Verkehr auf den Autobahnen? Die Bauwirtschaft im Oberengadin? Oder das Gesundheits- respektive Krankheitswesen? Auch Krebszellen wachsen – unheimlich schnell –, und mit ihnen die Umsätze von Onkologen und Pharmaindustrie.
Weniger kann mehr sein, zum Beispiel, wenn wir krankhaftes Wachstum gesund schrumpfen.
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Nachtrag: Nach dem «negativen Wachstum» im vierten Quartal 2011 scheint sich der Trend schon wieder zu wenden. «Die Experten der KOF und eine ganze Reihe hiesiger Konjunkturforscher schätzen die Aussichten für das Wirtschaftsjahr 2012 mittlerweile positiver ein», frohlockte Wirtschaftsredaktor Robert Mayer im «Tages-Anzeiger» (TA) vom 24. März. Nur eines «ängstigt» den Wirtschaftshoffnungs-Schreiber an der Zürcher Werdstrasse: «Nicht auszudenken, was passiert, wenn der Konflikt um den Iran an Schärfe zunimmt oder gar militärisch eskaliert.» Irrtum, die Ängste des TA-Kommentators gelten nicht menschlichen Opfern, die ein Krieg gegen den Iran auslösen würde, sondern dem Ölpreis, denn, so konstatiert Robert Mayer unter dem Titel «Jetzt ängstigt noch der Ölpreis»: «Schon auf seinem jetzigen Stand von gegen 130 Dollar je Fass stellt er ein gewichtiges globales Wachstumshemmnis dar.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Sehr schön formuliert. Als Medienkonsument fallen einem solche «Wortspiele» bzw. Wortmanipulationen wohl in 99% der Fälle gar nicht auf.