Kommentar

Putins Milde im Umgang mit Erdoğan ist keine Überraschung

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Die Türkei geniesst als Mitglied die Rückendeckung der NATO. Das beeinflusst Russlands Politik – zum Nachteil auch Europas.

Im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien schweigen die Waffen. Das ist, wenn man an die noch unbekannte Anzahl, aber möglicherweise in die Tausende gehenden Kriegsopfer vor allem auf armenischer Seite denkt, schon mal eine gute Nachricht.

Der Krieg war von Anfang extrem einseitig. Armenien hat drei Millionen Einwohner, Aserbaidschan hat zehn Millionen Einwohner, mehr als dreimal mehr. Armenien ist ein Binnenland ohne Bodenschätze, Aserbaidschan hat Anschluss an das Kaspische Meer und ist reich an Bodenschätzen, nicht zuletzt an Öl. (So etwa werden auch in der Schweiz die heute 190 SOCAR-Tankstellen von der «State Oil Company of Azerbaijan Republic» beliefert. Im Jahr 2013 waren es erst 148 Tankstellen.) Vor allem aber wurde Aserbaidschan in seinem Krieg mit Armenien von der Türkei unter Staatspräsident Tayyip Erdoğan – bedingungslos und «bis zum Ende», wie er ausdrücklich sagte – unterstützt, unter anderem auch mit dschihadistischen, von der Türkei bezahlten Söldnern.

Das in Moskau von Staatspräsident Wladimir Putin ausgehandelte (noch sehr provisorische) Friedensabkommen kommt einem Sieg Aserbaidschans und einer Niederlage Armeniens gleich. Jetzt rätselt die Welt – sogar die Experten in Russland sind sich uneinig –, warum Putin die wohl siegesentscheidende Parteinahme Erdoğans nicht stärker verurteilt und bestraft hat. Hat Putin vor Erdoğan Angst?

Der Blick zurück klärt Vieles

Ein Blick in die Geschichte Russlands und in die Geschichte der Region Schwarzes Meer zeigt: Russland stand im Süden über Jahrhunderte hinweg unter dem Druck des Osmanischen Reiches, jenem gigantischen Imperium fast rund ums Mittelmeer, ums Schwarze Meer und bis hin zum Kaspischen Meer, das schon im 13. Jahrhundert gegründet wurde und erst nach dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach. In den besten Zeiten umfasste das Osmanische Reich eine Fläche von über fünf Millionen Quadratkilometern, war also dreimal so gross wie Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien zusammen. Nicht zuletzt die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer war Schauplatz etlicher Konflikte zwischen den Osmanen und den Russen. Im Krimkrieg 1853-1856, der – im wörtlichen Sinne – eigentlich der erste richtige «Weltkrieg» war, halfen die Briten, die Franzosen und einige italienische Fürstentümer den Osmanen, Russland zu schlagen und wirtschaftlich auszubluten. Russland musste anschliessend Alaska an die USA verkaufen, um wieder ein wenig Geld zu bekommen. (Siehe dazu den vor Ort recherchierten Bericht über Sewastopol und die Krim auf Infosperber, hier anklicken.)

Und heute?

Heute ist es genau so. Wenn es gegen Russland geht, sind die «Osmanen» – heute die Türken – den westlichen Staaten hochwillkommen. Die NATO – North Atlantic Treaty Organisation! – akquirierte die Türkei (obwohl weit weg vom Nordatlantik) schon im Jahr 1952, drei Jahre nach der Gründung der NATO, um Russland auch von Süden her einzuzingeln – dies also drei Jahre vor der Gründung des Warschauer Paktes und neun Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer. Spätestens in den späten 1990er Jahren zeigte die NATO mit ihren «humanitären Bombardierungen» im auseinandergebrochenen Jugoslawien, dass sie alles andere als nur ein Verteidigungsbündnis ist. Und ihrem Mitglied Türkei erlaubt sie heute den Versuch, ein dem Osmanischen Reich vergleichbares Imperium neu aufzubauen – mit kriegerischen Mitteln. Die türkische Rüstungsindustrie – siehe etwa Aselsan mit ihrer Tochtergesellschaft in Baku Aserbaidschan – ist stark am Wachsen. Die Türkei mischt sich mit Söldnern und Waffen in Libyen ein, sie beansprucht zuungunsten Griechenlands und anderer Mittelmeer-Anrainer die Seerechte über grosse Teile des Mittelmeeres, sie hat und hält im Norden Syriens eine grössere Region mit Waffengewalt besetzt, sie bekämpft im eigenen Land und weit darüber hinaus die Kurden und jetzt hilft sie unter Einsatz dschihadistischer Söldner Aserbaidschan, gegen Armenien Krieg zu führen. Die NATO aber schaut dem äusserst aggressiven Treiben ihres Mitgliedes zu – und schweigt.

2015 schoss die türkische Luftwaffe versehentlich eine russische Suchoi Su-24 über syrischem Territorium ab. Russland verzichtete darauf, aus dieser Verletzung des syrischen Luftraumes durch die Türkei eine politische Krise entstehen zu lassen. 2016 erschoss ein türkischer Attentäter an der Vernissage einer Fotoausstellung in Ankara den russischen Botschafter Andrej Karlow. Der 22-jährige Täter war Mitglied einer türkischen Spezialeinheit und war im Einsatz in der Leibgarde von Erdoğan . Russland verzichtete auch hier darauf, aus diesem Attentat eines Dschihadisten eine politische Krise entstehen zu lassen. Russland weiss, dass die Türkei die NATO zu Hilfe rufen darf, wenn sie von dritter Seite mit Waffen angegriffen wird. Ein Krieg mit der Türkei kommt also eh nicht in Frage. Es gilt vielmehr, von türkischer Seite einen gewissen Goodwill zu erhalten, auch, um die internen Diskussionen NATO/Türkei am Leben zu erhalten. Aber Erdoğan, der gegenwärtig aggressivste und gefährlichste Staatschef in der westlichen Einflusszone, weiss das mit einem perfiden Doppelspiel zwischen der NATO und Russland zu nutzen und operiert skrupellos weit über seine eigenen Staatsgrenzen hinaus – mit Waffengewalt und ohne jeden Einspruch seiner NATO-Kollegen.

Wie lange schaut die NATO dieser Situation noch schweigend zu? Wie lange akzeptiert das «Verteidigungsbündnis» NATO ein Mitglied, das nicht nur mit Waffengewalt eine klar territoriale Expansion anstrebt, sondern sogar Dschihadisten einsetzt, um seine territorialen Interessen auch im Kaukasus durchzusetzen? Warum hilft die NATO nicht wirklich einmal, weitere Kriege zu verhindern, zum Beispiel mit einer – beschränkten, kleinen – Absprache mit Russland, Erdoğans Expansionspläne nicht weiter zuzulassen?

Aber auch die Bevölkerung in Westeuropa könnte zeigen, dass sie die Kriegsaktivitäten der Türkei und jetzt von Aserbaidschan nicht einfach akzeptiert. Warum fahren Millionen von Touristen immer noch in die Türkei in die Ferien, allein aus Deutschland – 2019 – über fünf Millionen? Es gibt auch andere preisgünstige Sonnenplätze. Warum tanken Hunderttausende ihr Benzin oder ihren Diesel-Treibstoff an den 190 SOCAR-Tankstellen in der Schweiz und an den über 80 «A1»-Tankstellen in Österreich, die ebenfalls SOCAR gehören? Warum kaufen Sportschützen und Jäger Gewehre von türkischen Waffenherstellern, von Akkar, Derya, Typhoon, Armsan und anderen?

Dass Taggyp Erdoğans aggressive Politik unter Einsatz von Waffen Richtung Westen, in Libyen, Richtung Süden – gerade auch jetzt wieder – nach Zypern, und Richtung Osten, in Syrien und nun auch in Armenien, einfach ungebremst weitergehen kann, ist ein geopolitischer Skandal. Und der ist nur möglich, weil die NATO noch immer ihre schützende Hand über ihr Mitglied Türkei hält.

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Siehe auch

«Russland ist von Westeuropa tief enttäuscht – mit gutem Grund» (auf Infosperber)

«So schaffte sich die NATO ihren notwendigen Feind» (auf Infosperber)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Zum Autor deutsch und englisch. Christian Müller kennt die russische Seite nicht nur aus russischen Publikationen, sondern auch aus der persönlichen Kommunikation mit Russen in Russland und in anderen Ländern.

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Eine Meinung zu

  • am 17.11.2020 um 14:57 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank, Herr Müller, für den klaren Überblick. Sie stellen die entscheidenden Fragen, aber den Doppelstandards der westlichen Politik ist damit natürlich nicht beizukommen. Die USA und die von ihnen geführte NATO haben im eigenen imperialen Interesse die Türkei bereits mit der Intervention in Syrien 2011 und der Unterstützung von Terroristen, die als „Rebellen“ gegen Assad bezeichnet werden, „verlockt“, das Osmanische Reich auf diese Weise wieder herstellen zu können und so das Einflussgebiet der NATO erheblich zu ver-größern. Diese Strategie galt auch schon in Tschetschenien oder im Kosovo, ebenso in Af-ghanistan, Irak, Libyen oder Ukraine et al. Erdogan nützt die neue West–Ostkonfrontation für sich aus, aber er war es nicht, der diese entsprechend dem „Washington Consensus“ von 1989 in den 1990ern wiederbelebt hat. Die Kriegstreiber sind vor allem in der US-Rüstungsindustrie tätig, ihre Erfüllungsgehilfen in der US-Regierung, z.T. wird dazu auch die „Drehtür“ benützt. Kriege lassen die USA nicht auf eigenem Boden führen, seit ihrem Bestehen 1776 waren es lediglich 16 Jahre, in denen sie keinen Krieg führten. Der Putsch-versuch gegen Erdogan hat diesen erst in die komfortable Lage gebracht, zwischen West und Ost zu lavieren. Russland kann sich so gegen seine feindliche Einkreisung einigermaßen schützen.

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