Kommentar
kontertext: Extremisten der Mitte
Ende 2019, als alle Welt noch über die Klimakrise debattierte, konnte man beobachten, wie eine grün vermummte Gestalt das riesige C des CDU-Logos von der Berliner Parteizentrale wegtrug – eine Greenpeace-Aktion gegen die laue Klimapolitik der Regierung. An der Fassade blieb ein lautes «DU» stehen. In der Schweiz wiederholt sich nun die Szene, hier ist aber der CVP-Präsident Gerhard Pfister ganz ungetarnt selber der C-Dieb und hinterlässt ein rätselhaftes «VP».
Bald nach seiner Wahl zum Parteipräsidenten (2016) bescherte uns der Zuger Nationalrat eine Wertedebatte auf den Grundfesten des jüdisch-christlichen Abendlandes (NZZ 8.10.2016, S. 15), und ein Jahr später proklamierte er vor einem prächtig geschmückten Weihnachtsbaum das Christentum zur lautersten Quelle der Aufklärung: «Die Aufklärung ist letztlich ein christlicher Gedanke», (Luzerner Zeitung, 24.12.2017 ). Nur ungern möchte ich mir die Aufklärung von Herrn Pfister durch das Christentum austauschen lassen, denn ich halte es eher mit Theodor Fontane, der in höherem Alter einem Freund schrieb: «Das Bedenkliche am Christentum ist, dass es beständig Dinge fordert, die keiner leisten kann, und wenn es mal einer leistet, dann wird einem erst recht angst und bange.»
Der christliche Pfister («Die Schweiz ist und bleibt christlich», ideaSpektrum Mai 2020) möchte nun also aus «VP» und «BDP» ein «MITTE» werden lassen – oder etwas Ähnliches: «Ich habe keine Präferenz – ich will nur den Erfolg» (Der Bund, 15.2.2020), meint er und verhehlt nicht, aus rein wahltaktischen Gründen das C streichen zu wollen. Sein engster Geschäftspartner in dieser Fusion, BDP-Präsident Martin Landolt, spricht ohnehin von «MARKE».
Dichtestress in der Mitte
Nun stellt sich aber das Problem, dass sich in der Schweizer Parteienlandschaft neben CVP und BDP mindestens noch vier weitere Parteien (FDP, Liberale, GLP, EVP) tummeln, die für sich in Anspruch nehmen, in der Mitte zu stehen, was einen ziemlichen Dichtestress verursacht. Laut Duden ist die Mitte ein «Punkt oder Teil von etwas, der von allen Enden oder Begrenzungen gleich weit entfernt ist», im Idealfall also das Zentrum eines Kreises oder die mittlere Proportionale. Alle diese Parteien auf einem solch idealen Mittelpunkt versammeln wollen, ähnelt dem scholastischen Problem, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen.
Geschichtlich betrachtet ist die Links-Rechts-Topik zur Zeit der Französischen Revolution in der Assemblée Nationale entstanden, als die Anhänger der Monarchie rechts oben vom Präsidenten sassen, die Anhänger einer neuen Verfassung links. Unten und zwischen diesen beiden Lagern, in der «Ebene» (plaine), resp. dem «Sumpf» (marais), sassen die Unentschlossenen, die je nach Sachfrage die Partner wechselten. Vom geschichtlichen Ursprung her gehören die Mitteparteien also zum «Sumpf».
Nach dem Zerfall der Blöcke des Kalten Kriegs behaupteten viele, die Links-Rechts-Topik sei obsolet, trotzdem verwenden sie die meisten immer noch. Auch die geplante CVP-BDP-Fusion in einer mittigen «MITTE» macht ja nur im Rahmen des traditionellen Schemas Sinn. Das Selbstbild der Mitteparteien als nicht ideologisierte Kräfte, als umsichtige Brückenbauer und Vermittler bringt eben weiterhin einen moralischen Bonus, weil man sich damit gegen jede Kritik immunisiert, man handle voreingenommen oder vertrete blanke Sonderinteressen: Man will ausgewogen sein und ganz gewiss nicht extrem. Die Extremisten, das sind die andern, während die Mitte gleichsam die Engel im Sumpf geben. Das ist eine extrem anspruchsvolle und krisenanfällige Position.
Lipsets «Extremismus der Mitte»
Um die Krisenanfälligkeit der Mitteposition begrifflich zu fassen, hat der amerikanische Soziologe Seymore Lipset (1922–2006) in seiner Studie «Political Man» (1959) den Ausdruck «Extremismus der Mitte» geprägt. Er untersuchte das Wahlverhalten am Ende der Weimarer Republik und widerlegte die verbreitete Meinung, die Extremisten aller Couleur hätten die Diktatur herbeigeführt, während die Mitte eine Kraft der Mässigung gewesen sei und die Demokratie verteidigt habe. Die Wählerbewegungen zeigten das Gegenteil: Viele Wähler seien von der Mitte aus nach rechts abgewandert. Es ging Lipset aber nicht allein um die Weimarer Republik, er hatte eine soziale Konstellation im Blick. Da sich die Mitte am Durchlauf von Mobilitäten und sozialen Verschiebungen befinde, sei sie nicht besonders stabil und stets anfällig auf Krisensituationen. (Die Details dieser Argumentation kann man in einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung nachlesen.
In der Phase der wirtschaftlichen Hochkonjunktur erschien Lipsets Analyse überholt, denn der unaufhaltsame Aufschwung wirkte als Sedativ und die «nivellierte Mittelstandsgesellschaft» (Helmut Schlesky) erschien als Hort der Ruhe und Stabilität. Das hat sich inzwischen wieder radikal verändert. Die Angst vor sozialem Abstieg, vor prekären Lebenslagen oder vor der Zuwanderung ist enorm gestiegen und hat in vielen Demokratien den politischen Mittelwert markant nach rechts verschoben.
It’s economy, stupid!
Das ist auch in der Schweiz zu spüren, und so erreichen uns aus der Mitte heraus immer häufiger Wortmeldungen, die bei genauerer Betrachtung alles andere als ausgewogen sind.
So nahm die FDP-Nationalrätin Regine Sauter gegen die Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» mit dem denkwürdigen Satz Stellung: «Wenn Sie nur beschränkte Mittel zur Verfügung haben, dann müssen Sie halt dorthin ziehen, wo Sie sich eine Wohnung leisten können.» (Tagesschau, 9.1.2020).
Am 2. März 2020 lag dem Nationalrat eine Revision des Geldwäschereigesetzes vor, die unter anderem wegen einem internationalen Netz von Finanz-Strohfirmen zur Geldwäsche und Steuervermeidung nötig geworden war, von dem die Weltöffentlichkeit im Frühjahr 2016 erfuhr («Panama-Papers»). Zu diesem Netz gehören viele Banken, aber auch Treuhänder und Anwälte, auch in der Schweiz. «Das Wichtigste vorweg: Die Mitte-Fraktion CVP-EVP-BDP ist für Nichteintreten», teilte Philipp Bregy (CVP) dem Rat mit. Der Walliser Anwalt war einer aus einer Phalanx von Anwälten, die sich gegen die «Aushöhlung des Anwaltsgeheimnisses» ins Zeug legten, unter ihnen auch Vincent Maitre (CVP) und Christian Lüscher (FDP). Bregy hat die Abwehrlinie am handfestesten formuliert: «Bis heute gilt: Wer Geld in die Hand nimmt oder Geld verschiebt, gilt als Finanzintermediär und wird dem Geldwäschereigesetz unterstellt und hat die entsprechenden Pflichten zu erfüllen. Neu wäre es demnach nicht mehr so, dass man faktisch Geld in die Hand nehmen müsste, sondern jegliche Beratung in diesem Zusammenhang würde dem Geldwäschereigesetz unterstellt werden.» (Ratsprotokoll vom 2.3.2020, S. 15). Im Klartext: Die reinen Einfädler solcher Transaktionen, die faktisch kein «Geld in die Hand nehmen», sollen unbehelligt bleiben. Eine solche Haltung spiegelt die gegenwärtigen Tendenzen in der internationalen Finanzindustrie wider, in der Exzesse der Steuervermeidung und Wertabschöpfung immer normaler werden, wie es die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem lesenswerten Buch «Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern» aufzeigt. Aber wie war es nur möglich, dass sich am 2. März die Advokaten im Nationalrat durchsetzen konnten und die Abgeordneten mit 107 Nein zu 89 Ja das Eintreten auf die Revision verweigerten? Ganz einfach: Der «Sumpf» wollte es so.
Die Mitte und die Konzernverantwortungsinitiative
In den nächsten Wochen wird die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) die politische Diskussion beherrschen. Treibende Kraft der Initiative ist mit Dick Marty bekanntlich ein FDP-Mann, einer aus der Tradition der Radikalen von 1848, von denen es leider nicht mehr viele gibt. Für ihn sind die Forderungen der Initiative, dass Unternehmen mit Sitz in der Schweiz auch im Ausland Menschenrechte und internationale Umweltstandards achten müssen und dafür haften, eine Selbstverständlichkeit. Treibende Kraft der Gegner ist bekanntlich mit Ruedi Noser ebenfalls ein Mann aus der FDP. Für ihn ist die KVI Gift für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Gegenüber der WoZ meinte er: «Ohne Novartis, Roche oder Glencore wären wir hier auf dem gleichen Wirtschaftsniveau wie Portugal» (WoZ, 4.6.2020). Noser muss über eine eigene Arithmetik verfügen, denn 2019 lag das BIP der Schweiz bei rund 760 Mia US-Dollar, dasjenige Portugals bei 237 Mia US-Dollar. Die drei genannten Firmen müssten also eine Wertschöpfung von 523 Mia US-Dollar generieren – eine abenteuerliche Rechnung. Nosers Drohung, die grossen Multis würden bei Annahme der Initiative aus der Schweiz wegziehen und unser Land in die dritte Liga versenken, unterstellt, dass diese Unternehmen ihre Gewinne wesentlich unter Verletzung von Menschenrechten und Umweltstandards erzielen.
Noser kämpft schon länger gegen die KVI, als ginge es um Leben und Tod. Tatsächlich geht es auch um Leben und Tod, aber nicht für ihn. Formen moderner Sklaverei sind weit verbreitet. Der Global Slavery Index schätzt, dass etwa 40 Millionen Menschen davon betroffen sind, darunter auch viele Kinder. International operierende Konzerne sind in diese Formen der Zwangsarbeit verstrickt, direkt oder über unkontrollierte Lieferketten. So berichtete «Solidar Suisse» 2019 über verbreitete Kinderarbeit in der Baumwollproduktion Burkina Fasos, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen.
Obwohl sich zahlreiche bürgerliche Organisationen, Unternehmer und Exponenten der politischen Mitte für die Anliegen der Initiative einsetzen, haben sich auch in dieser Frage auf parlamentarischer Ebene die Extremisten der Mitte durchgesetzt und im Juni alle Vorschläge für einen valablen Gegenvorschlag begraben: Neue Regulierungen seien für die Schweizer Wirtschaft untragbar, hiess es aus der «konstruktiven» Mitte, vor allem aber dürfe es kein Schweizer Unikum mit Haftungsfolgen geben. Die Ablehnung der Initiative verhindere im übrigen nicht, «dass man sich zukünftigen Entwicklungen, insbesondere im europäischen Bereich, anpassen kann» (Protokoll der Nationalratssitzung vom 8. Juni 2020, S. 732). Das klingt wie ein Echo aus dem Jahr 1864, als Wilhelm Joos im Nationalrat beantragte, den Schweizer Plantagenbesitzern in Brasilien die Sklavenhaltung zu verbieten, und der Bundesrat antwortete, ein solches Verbot komme überhaupt nicht in Frage – doch «wenn einmal die brasilianische Regierung die gänzliche Aufhebung der Sklaverei durchführt, so wird dies durch gewisse Übergangsstadien geschehen, die den Umschlag weniger fühlbar machen.»
Wie es Pfisters neue «MITTE» mit dem C hält, wird man sehen. Die Schweizer Gesellschaften gegen die Sklaverei, die im 19. Jahrhundert für Abschaffung der Sklavenhaltung kämpften, handelten jedenfalls nicht zuletzt aus christlichen Motiven.
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Siehe dazu auch:
- «Ecuadors Bananenplantagen, ein Nest der Sklaverei»
- «Wenn ein Faktencheck zu Behauptungen verkommt»
- «Schub für Sorgfaltspflicht der Konzerne»
- «Konzernverantwortung ernst genommen – als Sorgfaltspflicht»
- «Weihnachtsbescherung für Glencore?»
- DOSSIER: kontertext: Alle Beiträge
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Christoph Wegmann, geboren 1948, lebt in Basel. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und unterrichtete an Gymnasien und in der Erwachsenenbildung. Im Mai 2019 erschien im Berliner Quintus Verlag seine Bildstudie «Der Bilderfex. Im imaginären Museum Theodor Fontanes».
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.
Die FDP, die übrigens schon vor Jahren mit den Liberalen fusioniert hat und jetzt «FDP, die Liberalen» heisst, als Mittepartei zu bezeichnen erscheint mir doch sehr gewagt. Sie hat einige Politiker (wie den Solothurner Stadtpräsidenten Kurt Flury), die man durchaus in der Mitte verorten kann. Aber ihre Grundposition liegt doch klar rechts der Mitte zwischen CVP und SVP. Also bleiben noch GLP und EVP, die in verschiedenen Kantonen ebenfalls mit der CVP Fraktionsgemeinschaften bilden bzw. gebildet haben. Von einem Dichtestress in der Mitte kann also keine Rede sein. Damit fällt die ganze wortreich aufgebaute Konstruktion in sich zusammen.
Die Mitte verkörpert weder noch! Wer in der Mitte politisiert kann auf den kann in Zukunft locker verzichtet werden. Wer keine klare Meinung hat gehört nicht mehr in die Politik der Zukunft. Wir haben keine Zeit mehr für Handorgeltaktik. Es stehen grössere Herausforderungen an als in der Gegenwart und da sind Macher gefragt nicht Schaukelskrobaten!!
Die «Mitte» ist kein eigenständiger Standort. Der Mitte-Politiker muss jeden Morgen den Kopf zum Fenster hinaushalten um zu sehen, woher heute der Wind weht, ob es regnet oder schneit, kalt oder warm ist, um dann festzustellen, wo heute die «Mitte» ist. Da die generelle Aufteilung des politischen Spektrums in «links» und «rechts» schon lange nicht mehr funktioniert, ist die dauernde und opportunistische Suche nach der «Mitte» nicht nur streng, sondern auch sinnlos.
Ich nehme an, dass es Pfister mit dem «christlich» ernst ist. Da müsste er sich eigentlich um die EVP bemühen, Reformierte sind auch Christen. Und «christlich» ist eine klare Standortbezeichnung.
Ruedi Noser über die KVI….. Gegenüber der WoZ meinte er: «Ohne Novartis, Roche oder Glencore wären wir hier auf dem gleichen Wirtschaftsniveau wie Portugal»
Kann ja sein. Aber die Suizidrate in Portugal ist auch lange nicht so hoch , wie in der Calvinisten – Schweiz.
Warum wohl?