Kommentar

700 Millisekunden können Karrieren schädigen

Beat Gerber © bg

Beat Gerber /  Digitalisierung und Schutzmasken verändern seit Corona die Verständigung. Das zeigt ein Tracing der nicht-virologischen Forschung.

Derweil Superspreader die Schweiz verunsichern und die Politik nervös reagiert, sieht sich unsere neu geschaffene Corona-Gesellschaft auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation mit neuartigen Herausforderungen konfrontiert. Die Schutzmassnahmen haben ungewohnte Folgen, die unser Empfinden und Verhalten meistens unbewusst beeinflussen und verändern. Solche Phänomene im coronasierten Alltag sind ein Fundus für die Wissenschaften ausserhalb der Virologie.
Vor einigen Jahrzehnten waren Ferngespräche sehr teuer, internationale Anrufe geradezu ruinös und Gespräche via Bild und Ton allenfalls Stoff für Science-Fiction. Heute ist die Videokommunikation übers Internet bei uns ein kostenloses Allgemeingut geworden, nicht zuletzt dank den Büros und Schulzimmern zuhause während des Corona-Lockdowns.
Audio unvereinbar mit Sprachgewohnheiten
Doch hauptsächlich beim Homeoffice hat sich eine gewisse Müdigkeit eingeschlichen, Experten sprechen von «Zoom Fatigue» (The Economist, 16.05.2020), benannt nach dem weit verbreiteten Videochat-Programm «Zoom». Oft wird der fehlende Augenkontakt bemängelt, der Hauptgrund für diese mentale Erschöpfung hängt aber mit dem Audio zusammen. Bei der Tonübermittlung widersprechen die Einschränkungen der Technologie den üblichen Sprachgewohnheiten.
Die meisten Kulturen folgen den Regeln eines kontinuierlich fliessenden, nicht überschneidenden Gesprächs («keine Lücken, keine Überlappung»). Diese Konvention wird dagegen in Online-Meetings zerstört oder zumindest gestört. Audio und Video werden in kleine Stücke geschnitten, über verschiedene Kanäle an den Empfänger gesendet und dann wieder zusammengesetzt.
Verzögerte Datenpakete mit Folgen
Eine solche Paketübermittlung ist technisch robust und leistungsfähig. Einige Datenpakete können jedoch aufgrund des Zusammenbaus verzögert werden, dabei hat die Software eine grundlegende Wahl: Warten und Verzögerungen verursachen oder bereits verfügbare Informationsinhalte sammeln und integrieren, was jedoch zu unerwünschten Fehlern, Störungen und schwerwiegenden Pannen führen kann.
Videoanruf-Plattformen verwenden in der Regel schnelles Audio in mittlerer Qualität. «Zoom» etwa will höchstens eine Verzögerung von bloss 150 Millisekunden zulassen – schneller als ein Augenzwinkern. Selbst wenn dieses Ziel erreicht wird (meist jedoch nicht, insbesondere im Fall einer Überlastung des Internets), ist die Zeit in der Praxis viel länger als bei theoretischer Betrachtung.
Mit der Regel «keine Lücken, keine Überlappung» beträgt in einem Face-to-Face-Gespräch die typische Ruhezeit beim Wortwechsel zwischen einer Person und der nächsten etwa 200 Millisekunden. Diesen Schwellenwert kann die Wartezeit aber leicht überschreiten, wenn das letzte Wort eines Sprechers sich bei seinem Gegenüber um 150 Millisekunden verzögert, und auch eine Antwort erst 150 Millisekunden später eintrifft.
Technik nagt an Überzeugungskraft
Aufgrund solch technisch bedingter Pausen können die Sprecher weniger überzeugend wirken. Eine von Felicia Roberts von der Purdue University (US-Staat Indiana) durchgeführte Studie ergab, dass einfache, schnell positiv zu beantwortende Fragen als weniger echt entschlossen und gewillt beantwortet beurteilt werden, wenn die Antwort dazu (z.B. «ja», «klar» oder «selbstverständlich») mehr als 700 Millisekunden braucht. Der Grund: Um sich zu einer solchen Frage zu äussern, braucht es effektiv weit weniger Zeit.
Ist der Aufwand dazu grösser, bekommt der Fragende das Gefühl, die Befragte müsse sich winden und vielleicht eine Ausrede oder ein höfliches «nein» formulieren. Das bedeutet, dass Kollegen, die glauben, eine klare Antwort gegeben zu haben, bei Videoanrufen (aufgrund von Netzwerkverzögerungen) als sehr vorsichtig, zögernd und ausweichend beurteilt werden können. In gewissen Situationen kann dieser kommunikative Stolperstein infolge audiotechnischer Hindernisse über Karrieren entscheiden.
Nachteilig kommt hinzu, dass diejenigen Kollegen, die schwer zu verstehen sind, auch wenn dies nur aus technischen Gründen geschieht, als weniger glaubwürdig angesehen werden. Die Studie von Roberts belegte zudem, dass ausländische Akzente die Glaubwürdigkeit von Tatsachenbehauptungen (wie etwa «Giraffen können länger ohne Wasser überleben als Kamele») verringerten, genauso wie wenn solche Aussagen in unscharfen oder kontrastarmen Schriftarten gedruckt werden.
Bestraft durch störanfälliges Internet
In der Humanpsychologie gilt, je einfacher ein Ding zu verstehen ist, desto leichter wird es geglaubt. Diese Voreingenommenheit bestraft unfairerweise den Videokonferenzteilnehmer mit einer vertrackten, störanfälligen Internet-Verbindung. Unter Anstrengung kann er jedoch Störungen, Verzögerungen und Ausfälle mental kompensieren, was aber ermüdet. Generell gilt, dass jedes Meeting, bei dem es leicht ist vorauszusagen, was die Kollegen sagen werden, in guter Erinnerung bleibt.
Auch das Homeschooling hat seine Tücken. Nicht nur, dass der entspannende Pausenschwatz mit den Kolleginnen und Kollegen fehlt. Der Fernunterricht leidet im Vergleich zu den Lektionen im Schulzimmer an einem weiteren bedeutenden Verlust. Professor Masanori Yatagai, Spezialist für Bildungstechniken an der Frauenuniversität Kyoritsu in Tokio, sieht das Manko darin, dass der Blick des digital Ausbildenden nie denjenigen seiner Schülerinnen und Schüler kreuzt (Courrier international, No. 1547, Juli 2020).
Blickkontakt entscheidend für Lernerfolg
Yatagais Studie mit einer Kamera und einem Einwegspiegel kam zum klaren Schluss, dass der Blickkontakt den Lernfortschritt wesentlich beeinflusst. Wenn die Lernenden das Gefühl haben, ihr Dozent schaue sie nicht an, sinkt die Aufmerksamkeit rapide. Blickt die Lehrerin hingegen im physischen Unterrichtsraum direkt in die Klasse, erzeugt sie eine gewisse Spannung, die beim Homeschooling fehlt. Sie kann jederzeit spontan Fragen stellen, die Klasse ermüdet so deutlich weniger rasch, der Lernerfolg steigt.
Für den Unterricht über grössere Distanzen empfiehlt Professor Yatagai folglich den Einsatz grösserer Bildschirme, die das Handicap etwas kompensieren. Ausserdem sollte die Lehrperson in die Kamera schauen, damit die Zöglinge ihren Blick wahrnehmen können. Zumindest virtuell.
Masken schaffen emotionale Distanz
Der Augenkontakt ist ebenso bei den Schutzmasken ein zentraler Faktor, auf eine andere Art. Das Tragen der Masken gegen die Ausbreitung des Coronavirus ist hierzulande umstritten und harzig durchzusetzen. Vielleicht sind die Schweizerinnen und Schweizer diesbezüglich besonders heikel, weil die Auswirkungen dieser Massnahme auf das soziale Miteinander ungewiss sind. Masken können emotionale Distanz herstellen und befremden. Gefühle wie Freude oder Furcht werden besonders im (nun verdeckten) Mundbereich wahrgenommen, nicht nur in den Augen, dem sogenannten Spiegel der Seele
Die Augen würden weit überschätzt, sagt der Neuropsychologe Hennric Jokeit (SonntagsZeitung, 31.05.2020). Der Institutsleiter am Epilepsie-Zentrum in Zürich verweist auf Studien, die zeigen, dass besonders starke Emotionen schneller und deutlicher in der Mundpartie registriert werden. Man denke an heftige Wut oder tiefe Trauer, aber auch ans Zähnefletschen bei Tieren. Trägt nun jemand eine Maske, sind wir erheblich verunsichert, was die Person fühlt. Es fehlt an emotionaler Transparenz, sagen die Psychologen.
Gefühlserkennung via Augen oder Mund
Subtile, komplexe Gefühle wie Ironie, Arroganz oder Genervtheit spiegeln sich hingegen sehr viel besser in den Augen wider. Sonnenbrillen können solche Empfindungen bekanntlich bestens verdecken. Auch die kulturelle Herkunft spielt eine Rolle. In Japan beispielsweise, wo der emotionale Ausdruck des Gesichts zurückhaltend ist, läuft die Interpretation der Gefühle vorwiegend über die Augen, wie eine internationale Studie unter Federführung der Hokkaido University nachwies. In den USA demgegenüber mit einer offenen emotionalen Ausdrucksweise werden die Gefühle hauptsächlich anhand der Mundpartie gedeutet.
Maskierte Mimik ist riskant
Die maskierte Mimik kann ungeahnte Folgen haben. Privat, in der Öffentlichkeit und im Berufsleben. Man weiss weniger genau, was das Gegenüber empfindet und meint. Man tappt buchstäblich im Dunkeln, kann sich auch täuschen und danach falsch reagieren. Das Risiko einer Fehleinschätzung ist eindeutig grösser.
Die Mehrheit des Schweizervolks, zumindest im deutschsprachigen Landesteil, gilt gefühlsmässig als eher zurückhaltend und manchmal sogar verkrampft. Wir scheuen generell die spontane Ausdruckskraft und das zwangslose Aufeinandertreffen. Drücken wir uns deshalb so umständlich um die neue Herausforderung des Maskentragens? Die jüngst angeordnete Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr wird darauf interessante Antworten liefern.
Links zu den wissenschaftlichen Studien: Felicia Roberts (Zoom Fatigue); Masanori Yatagai (Blickkontakt im Fernunterricht); Masaki Yuki (Kulturelle Differenzen bei der Gefühlserkennung)


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist des «Tages-Anzeiger» war bis 2014 Öffentlichkeitsreferent der ETH Zürich. Auf seiner Webseite «dot on the i» sind weitere Texte und Karikaturen zu finden.

Zum Infosperber-Dossier:

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Beat Gerber: Tüpfelchen auf dem i

Die Welt ist Satire. Deshalb ein paar Pastillen für Geist und Gaumen.

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Beat_Gerber_200

Beat Gerber

Der langjährige TA-Wissenschaftsjournalist und ehemalige ETH-Öffentlichkeitsreferent publiziert auf www.dot-on-the-i.ch Texte und Karikaturen. Kürzlich erschien sein erster Wissenschaftspolitkrimi «Raclette chinoise» (Gmeiner-Verlag).

2 Meinungen

  • am 8.07.2020 um 13:51 Uhr
    Permalink

    Es gibt etwas viel «wissenschaftliche Studien» über unser Kommunikationsverhalten. Mir reicht das Anhören einer typischen Talkshow, wo der Moderator jeden Formulierungsversuch eines Gesprächsteilnehmers unterbricht, damit ja keine Zusammenhänge entstehen können. Es geht um Show und Nabelshow, nicht um Meinungsaustausch.

  • am 8.07.2020 um 19:17 Uhr
    Permalink

    Worin die „Herausforderung des Maskentragens“ bestehen soll, erschliesst sich mir nicht, es sei denn, man betrachte den Verzicht auf Mündigkeit und Selbstbestimmung sowie die kritiklose Akzeptanz von irrationalem Verhalten als „Herausforderung“.
    Weiter schreibt Herr Gerber: “Die jüngst angeordnete Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr wird darauf interessante Antworten liefern.“
    Ich finde es auch sehr schön, dass solche Fragen endlich in Feldversuchen mit (fast) freilebenden Menschen geklärt werden können. Um so mehr als diese ja ganz klaglos mitmachen, obwohl seit Anfang Juni laut BAG in der Schweiz genau 52 Hospitalisationen wegen C-19 zu verzeichnen sind.
    Mit zusammenhanglosen „Fallzahlen“ lassen sich aber offenbar auch absurde und kontraproduktive Ersatzhandlungen wie eine Maskenpflicht problemlos durchdrücken, und der gewiefte Wissenschaftsjournalist freut sich sogar noch über die grosse Auswahl an menschlichen Versuchskaninchen, die so anfallen.
    Wie sich diese Versuche auf die physische und psychische Gesundheit von solcherart Degradierten auswirken werden, wird in Zukunft sicher noch manchem Wissenschafter interessante Forschungsfelder und Karrierechancen eröffnen.
    /Sarkasmus off

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