Kommentar
Corona und die Sommermode
Experten aus der Medizin hätten jetzt ihre «five minutes of fame», sagt Swiss Re Verwaltungsratspräsident Walter Kielholz im Interview mit der Aargauer Zeitung. «Entsprechend inszenieren sie sich», fügt er an. Zunehmend stelle sich aber die Frage, wer eigentlich das Land regiere, wer legitimiert sei, weitreichende Entscheidungen zu treffen. «Gilt als Grundlage für diese Entscheidungen einzig die Meinungen von Virologen und Epidemiologen? Ich glaube, es setzt eine Gegenbewegung ein. Die Politik will wieder selber entscheiden», so Kielholz, «die liberalen Kräfte müssen dagegen halten». Er fordert, dass Läden «beispielweise Juweliergeschäfte oder Möbelhäuser» wieder geöffnet werden. Das gelte auch für andere Geschäfte, etwa Kleiderläden. Die Sommermode muss bald weg.» Auch Nationalrätin und Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher will eine Öffnung der Wirtschaft. Coiffeure können bei ihr zum Selbstkostenpreis Gesichtsmasken bestellen, damit sie sicher arbeiten könnten. Denn, ein Coiffeurbesuch tue auch der Seele gut.
Von der Welt abhängig
Wer möchte dem widersprechen? Nur, die Öffnung der Wirtschaft erreicht man nicht einfach dadurch, dass die Läden wieder öffnen. Seit März ist die Zahl der Arbeitslosen um 36’200 gestiegen. 1’900 Menschen verlieren täglich ihre Stelle.
Die Wirtschaftsprognosen sind so düster wie zuletzt in den 1970er Jahren, als die Schweiz in eine tiefe, mehrere Jahre dauernde Rezession geriet. Weltweit sieht es noch düsterer aus: Die Welthandelsorganisation WTO prognostiziert einen Einbruch des Welthandels um 13 bis 32 Prozent, je nachdem, wie lange die Krise dauert. Der Internationale Währungsfonds IWF seinerseits geht vom massivsten Einbruch seit der grossen Depression in den 1930er Jahren aus.
Kein einziges Land wird sich dieser Rezession entziehen können, zu vernetzt und globalisiert ist die heutige Wirtschaft. Das gilt insbesondere für die Schweiz, die jeden zweiten Franken im Export verdient. Ohne boomende Nachfrage auf den Weltmärkten läuft gar nichts. Also ist es ebenso wichtig, welche Öffnungspolitik die anderen Länder haben und nicht nur, ob in der Schweiz die Läden wieder öffnen.
Bei Öffnung kein Corona-Schutzschirm mehr
Die Corona-Krise ist eine Krise der Unsicherheit, des Nicht-Wissens, des Versuchs und Irrtums. Niemand weiss, was das richtige Rezept ist. Jedes Land experimentiert und erst im Rückblick wird man wissen, was funktioniert hat und was nicht. Das drückt auf den Konsum – in Zeiten der Unsicherheit sparen die Menschen mehr, sie geben nicht leicht Geld aus. Die Öffnung im Bereich des Kleingewerbes kann deshalb für die Betroffenen zu einem Bumerang werden: Mit der behördlich angeordneten Schliessung hat ihnen der Bundesrat eine Corona-Entschädigung zugestanden. Die Verordnung ist auf drei Monate ausgelegt, verliert aber ihre Wirkung, sobald die Geschäfte wieder geöffnet werden dürfen. Wenn dann die Kunden ausbleiben, stehen die kleinsten der Kleingewerbe vor dem definitiven Aus.
Aufpassen, was man sich wünscht
Die Politik hat sich übrigens zurück gemeldet. Die Wirtschaftskommissionen von National- und Ständerat fordern nämlich zusätzliche Hilfen: Für die Selbständigen in Branchen, die nicht geschlossen sind, denen aber die Einnahmen einbrachen, für Kitas und für den Tourismus. Die NZZ ist konsterniert: «Die Staatsgläubigkeit erreicht in der Krise neue Dimensionen. Viele scheinen zu meinen, dass der Staat jedes Problem lösen könne – und lösen müsse.»
Walter Kielholz› Wunsch hat sich erfüllt – die Politik meldet sich zurück. Allerdings wohl nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Küchenpsychologen wissen: Man muss sich immer gut überlegen, was man sich wünscht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Herr Kielholz fordert, Juweliergeschäfte wieder zu öffnen – stupende Prioritätensetzung eines freisinnigen Wirtschaftsführers. Auf dass die Arbeitslosen in ihrer neu gewonnen Freizeit Gübelin, Bucherer und Co stürmen, um sich mit den neuesten Sommerjuwelen für die Strandpromenade einzudecken! Man gönnt sich in diesen harschen Zeiten ja sonst nichts. Fazit: Diesem Hobbysegler ist wohl der intellektuelle und moralische Kiel weggebrochen.
Frau Ryser Sie schreiben: in Zeiten der Unsicherheit sparen die Menschen mehr, sie geben nicht leicht Geld aus. Die Öffnung im Bereich des Kleingewerbes kann deshalb für die Betroffenen zu einem Bumerang werden: Mit der behördlich angeordneten Schliessung hat ihnen der Bundesrat eine Corona-Entschädigung zugestanden. ALSO DIE EINFACHSTE KORREKTUR WäRE DA NUR: DASS DER BUNDESRAT DIESEN BESCHLUSS TROTZ LOCKERUNG SOGAR VERLäNGERT, ANSTATT ab Dato AUFHEBT. Schliesslich ist er verantwortlich für die ganze Misere.
Und welches wäre dann die Alternative? Warten auf bessere Zeiten, darauf, dass der internationale Reiseverkehr wieder beginnt? Ziemlich mager, der Artikel.
Ein medizinisch unbegründeter weiterer Lock-down wird die Finanzkrise, welche so oder so kommt, täglich verschärfen, die Behörden unglaubwürdig machen und die Kleinen noch mehr treffen. Immerhin gibt es auch einen Binnenmarkt. Je mehr Länder wieder auf «Normal» umstellen, desto schneller wird auch grenzüberschreitendes Reisen wieder möglich sein. Und für die Riskikogruppen hat die lange Isolation hingegen erst gerade begonnen…