Kommentar

kontertext: Ach, nur Reden

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Medien wirken auch durch das, was sie nicht sagen. Am Beispiel von Navid Kermani: Die Unterschätzung der politischen Rede.

Navid Kermani ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller. Er ist habilitierter Orientalist, gläubiger Moslem und erfolgreicher Vermittler der engen Verwandtschaft von Orient und Okzident. Er ist Publizist und «grand réporter». Er ist – nicht zuletzt aufgrund seiner Reden – einer der einflussreichen öffentlichen Intellektuellen Deutschlands.
Wenn Kermani ein Buch veröffentlicht, drängeln sich die Rezensenten und Rezensentinnen. Normalerweise. Nicht so bei seiner letzten Veröffentlichung. Der Band «Morgen ist da», der Kermanis gesammelte Reden der letzten 20 Jahre enthält, ist am 15. Oktober erschienen und hat bis heute keine Rezension erhalten.
Um präzise zu sein: Kermani ist derzeit auf Lesereise und seine Auftritte werden von lokalen Medien durchaus wahrgenommen. So hat z.B. der Hessische Rundfunk im Hinblick auf die Lesung in Frankfurt ein längeres Gespräch mit ihm gesendet. Das Buch selbst aber ist in überregionalen Medien nicht wahrgenommen worden. Der Unterschied zu den Reaktionen auf Kermanis sonstige Veröffentlichungen ist augenfällig. Und ein grosses Versäumnis, denn:
In Kermanis Reden erklingt eine Stimme, die unsere emotionalisierte und von Twitter«botschaften» zerrissene Öffentlichkeit braucht. Es ist die Stimme der radikalen kritischen Vernunft, die heftige Emotionen erzeugen kann, ohne je die scharfe Rationalität zu verraten. Eine Stimme, die im Umgang mit ihren politischen Gegnern ebenso deutlich wie respektvoll ist. Es ist auch die Stimme des bunten und vielfältigen Deutschland, welche die enge Verwandtschaft der Kulturen von Islam, Christentum und Judentum kenntnisreich feiert. Die Stimme eines engagierten Europäers schliesslich, die die Europamüdigkeit versteht und der Europäischen Union neue Zukunftsperspektiven eröffnet. Kermani reist mit Joseph Roth in der Tasche an die Grenzen Europas und spricht dort mit Flüchtlingen. Auch so verbindet er Kulturen in Berichten von konkreten Erfahrungen und analytischem Scharfsinn. In seinen besten Reden gelingt ihm, was er als «höchste Kunst der öffentlichen Rede» bezeichnet, nämlich «im Namen von vielen zu sprechen, aber so, wie es nur ein einzelner Mensch sagen kann, literarisch und zugleich repräsentativ». Jede einzelne seiner Reden ist eine Herausforderung, denn er sucht das Verstörende, die Erwartung Brechende. Er wagt es beispielsweise, von Engeln und Heiligen zu reden – in einem ganz diesseitigen Sinne allerdings, und, was den Heiligen betrifft, in Zusammenhang mit Rupert Neudeck. Ja, das ist ungewohnt. «Das kann ja nicht sein», sagte Kermani in einem Interview, «dass man 45 Minuten lang redet, und am Ende denken alle das, was sie vorher auch schon gedacht haben.» Die Unterschätzung von Kermanis Reden ist vor allem eine kultur- und gesellschaftspolitische Fehleinschätzung.

Wie kommt’s?

Was nicht nur im Falle Kermani sondern überhaupt auffällt, ist die weitgehende Einheitlichkeit des deutschsprachigen Feuilletons. Bei 71’500 Neuerscheinungen pro Jahr (so viele waren es 2018, würde man denken, jedes Feuilleton rezensiert andere Bücher. Weit gefehlt. Landauf, landab werden öfter dieselben Titel besprochen und dieselben Themen bearbeitet.
Das liegt vermutlich an zwei Auswahlkriterien, die wohl in nahezu allen Redaktionen dominieren: Zuerst die Kategorie des «Neuen». «Haben wir schon gehabt», ist ein Todesurteil. Wer jemals Mitglied einer Literaturredaktion war, wird die verinnerlichten Selektionsmechanismen jederzeit mühelos abrufen können: Man sitzt, zweimal im Jahr, vor einem entmutigend hohen Berg von Verlagskatalogen und hält den Katalog des Verlages C.H.Beck in den Händen. «Oh, ein neuer Kermani!» – «Ach so, nur alte Reden. Warten wir, bis er wieder was Neues bringt». Und Erleichterung stellt sich ein. Die fleissige Ameise hat wieder ein Körnchen vom Berg abgetragen.
Das zweitwichtigste Kriterium ist meist: «Wird zu reden geben, da müssen wir dabei sein.» Reden haben da einen schweren Stand. Sie erregen eine gewisse Aufmerksamkeit im Moment, in dem sie gehalten werden. Danach: «Ist schon durch». Selbst die Reden von Obama wurden wenig beachtet, als sie auf Deutsch in Buchform erschienen.
Natürlich ist Kermani auch ein Grenzgänger. Es ist nicht von vornherein klar, ob seine Reden ins Ressort Politik, Literatur oder Religion fallen. Auch sind die Entscheidungen, welche Titel in den Medien berücksichtigt werden und welche nicht, oft sehr oberflächlich, weil sie unter den heutigen Produktionsbedingungen meistens ohne vorherige Prüfung der Bücher fallen müssen. Eine Argumentation, die aus politischen Gründen Kermanis Reden befördert, scheitert vielerorts schon daran, dass sie eine politische, der Aufklärung verpflichtete Berufsauffassung voraussetzt.

Gedruckte Rede?

Vor allem aber ist die Gattung der gedruckten Rede problematisch. Die Rede selbst war ja keine freie, spontane Rede, sondern die akustische Realisation eines vorher in der Einsamkeit des Büros geschriebenen Textes. Abweichungen vom Manuskript waren allerdings möglich. Es galt dann das gesprochene Wort, das nun wieder gedruckt wird und in einer Besprechung oder gar am Radio oder in Veranstaltungen vom Autor oder dem Journalisten zu neuem Leben erweckt werden muss.
Da ist es bei den Möglichkeiten der heutigen Medien schwer verständlich, dass dem Buch nicht eine CD beigelegt wurde, auf der Kermani zu hören wäre. Überhaupt wird das akustische Erlebnis Rede zu wenig genutzt. Es gibt zwar Einzelaktionen wie die Serie «Grosse Reden» von ARTE und Deutschlandfunk, oder das Vorhaben des Parlando-Verlages, vier von Kermanis Reden auf CD zu pressen, aber meines Wissens unterhält keine Radiostation eine regelmässige Rubrik wie «Die Rede des Monats». Das wäre aber dringlich. Denn es gibt viele gute Reden, nicht nur von Kermani. Reden sind, noch immer, wichtig, das erleben wir in Wahlkämpfen. Obamas Aura beruhte nicht zuletzt auf seinen Reden. Reden kommen den Bedürfnissen eines Publikums entgegen, das zwar, wie alle, wenig Zeit hat, aber sich doch mit den Twitterschlägen nicht begnügen will. Zur Bestärkung könnte man einen Blick nach Frankreich werfen, das ein viel positiveres Verhältnis zu öffentlichen Reden und Erzählungen pflegt. Vor allem aber: Wir brauchen in den öffentlichen Diskursen Kristallisationspunkte der Vernunft gegen die Hetze von ganz rechts.
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  • Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

    Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium Deutsch, Französisch, Geschichte. Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

      Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Robert Ruoff, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Matthias Zehnder.

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