Kommentar
kontertext: Globale Erwärmung in der Geschichtswissenschaft
Im Jahr 2000 wurde der Begriff «Anthropozän» erstmals von Naturwissenschaftlern vorgeschlagen, um das Erdzeitalter zu bezeichnen, in dem wir uns befinden. Dahinter steckt die Idee, dass der Mensch mit seinen technologischen und industriellen Tätigkeiten begonnen habe, die Bestandteile des Planeten so umzugestalten, dass die Spuren davon noch jahrtausendelang geologisch nachweisbar seien: Der Ausstoss von Treibhausgasen verändert die Zusammensetzung der Atmosphäre und führt zur globalen Erwärmung sowie Übersäuerung der Meere, während intensive Landwirtschaft, Urbanisierung und Schelfbewirtschaftung ganze Topographien umwälzen und zusammen mit Chemikalien biologische Habitate zum Verschwinden bringen.
Die Geschichtswissenschaft hat das Konzept aufgegriffen und in eine ganze Reihe von Fragen eingebettet: Kann man von ‹der Menschheit› als ‹geologischem Akteur› sprechen? Hat das Nachdenken über den Einfluss des Menschen auf das Klima eine eigene Geschichte? Gibt es keine Natur mehr, nur noch vom Menschen gestaltete Umwelt? Wie sprechen wir über Klimawandel, wenn nicht alle gleich dafür verantwortlich sind? Darf/Soll Wissenschaft politisch sein?
Anthropozän in Schweizer Medien
Die Auseinandersetzungen mit diesen Fragen sind in Deutschschweizer Printmedien wenig vertreten. Das Thema Anthropozän wird entweder in Bezug auf naturwissenschaftliche Fakten erwähnt oder taucht im Feuilleton anhand künstlerischer Auseinandersetzungen (Literatur, Ausstellungen, Science-Fiction) auf. Selbst die Archivsuche bei Radio SRF ergab bloss zwei Treffer für das Jahr 2013. Geisteswissenschaftliche Fragestellungen aus der akademischen Auseinandersetzung fehlen – ausser in der WOZ – weitestgehend. Die Online-Plattform Geschichte der Gegenwart erfüllt hier eine wichtige Funktion. Müssen also selbst- und spendenfinanzierte Online-Magazine in die mediale Lücke springen? Oder sollte nicht auch darüber gesprochen werden, dass verschiedene Medienerzeugnisse schlicht einen Forschungsstand verschlafen und damit einen wesentlichen Teil der demokratischen Diskussion im Schnittfeld von Naturwissenschaften, Gesellschaft und Politik verpassen?
Zum Beispiel die 10. Jahrestagung von «infoclio.ch Fachportal für die Geschichtswissenschaften in der Schweiz»: «Archive der Umwelt. Naturwissenschaften und Geschichte». Am 23. November 2018 wurden im PROGR in Bern die naturwissenschaftliche und die historische Rekonstruktion der Geschichte der Umwelt in Zusammenhang gebracht.
Nichtlineare Geschichte
Dass das Verhältnis Natur und Kultur keine gleichförmige Geschichte hat, wurde bereits mit dem Eröffnungsvortrag von Jon Mathieu (Luzern) klar. Er stellte die «heiligen Berge» vor, welche 1793/94 auf Pariser Plätzen errichtet wurden: künstlich angelegte Haufen von Erde und anderen Materialien für die öffentliche Inszenierung der Versöhnung von Gesellschaft und Natur. Die «heiligen Berge» entstanden gerade in der Phase der Aufklärung, die meist mit zunehmender Rationalität und Entzauberung der Welt verbunden wird. 1992, in der Agenda 21 im Anschluss an die UNO-Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio de Janeiro, tauchte die «sacredness» der Berge wieder auf, als Naturwissenschaftler damit explizit den Appell für einen speziellen Schutz von Gebirgen begründeten. Damit war die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft schon von Beginn weg auf die Komplexität der Phänomene gelenkt: Geologie, Geschichte, Religion, Politik und Kunst können je nach historischem Kontext wechselseitig füreinander fruchtbar gemacht werden.
Vielschichtige Methoden und Fragestellungen zeigten sich auch um 1800 in der «historischen Klimatologie», die Jean-Baptiste Fressoz (Paris) in seinem Vortrag vorstellte. Einerseits kombinierten die frühen Klimatologen im Sinne der klassischen Naturgeschichte verschiedene Wissensbereiche (Astronomie, Phänomenologie, Vegetation und Messdaten), andererseits war der imperiale Kontext massgeblich für ihr Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Menschen und Klima. Die Besiedlung Nordamerikas sowie Bilder aus den Kolonien beispielsweise dienten als Blaupause für Werturteile über den Umgang mit der Umwelt. Es hatten also in diesem Wissenszweig um 1800 vielfältige Fragestellungen Platz – von den Wasserzyklen und der Entwaldung über Migration bis hin zu Kolonialismus.
Quellen der historischen Klimaforschung
Durch die Konzeption der Tagung wurden methodologische Aspekte stark gewichtet. Die Teilnehmenden lernten verschiedene Initiativen und Forschungsprojekte kennen, die Daten-, Objekt- und Dokumentensammlungen bereitstellen. Zum Beispiel das SwissCollNet, das anstrebt, sämtliche paläologischen, geologischen, botanischen und zoologischen Bestände der naturhistorischen Sammlungen in der Schweiz zu registrieren und zu digitalisieren (Fotografie), um den internationalen Informationsaustausch zu befördern. Christian Rohr (Bern) stellte das Oeschger Center for Climate Change Research in Bern vor. Er beschrieb, wie Wasserstands-Messungen und Reparaturrapporte mit Tagebucheinträgen und Gemälden verglichen werden, um Vorkommen und Frequenz von Flusshochständen vom Hochmittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert zu bestimmen. Ein anderes Projekt möchte ein weltweites Inventar der Wetterstationsdaten erstellen, das mittelfristig eine historische Auflösung «Tag für Tag» von circa dem 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts ergeben soll. Daten über Wetterextremereignisse, die dann in historischen Quellen auf ihre zeitgenössischen Wahrnehmungen und Auswirkungen hin befragt oder umgekehrt mit Thesen aus der historischen Forschung (etwa Ernteausfälle) verglichen werden (Stefan Brönnimann, Bern und Franziska Hupfer, Zürich).
Die Ausführungen zur Quellenlage verdeutlichten zweierlei: Erstens unterliegen alle Daten – auch Messungen – der historischen Quellenkritik und müssen mit anderen Dokumenten abgeglichen werden. Denn selbst steinerne Erinnerungsplaketten für Fluthochstände können aus architektonischen Gründen verschoben worden sein. Zweitens kann man an den aktuellen Initiativen beobachten, wie wir jetzt gerade dabei sind, die «Archive der Umwelt» für die Zukunft mitzugestalten.
Wintergemälde und Zuckmücken
Interessant zu sehen war, dass HistorikerInnen, geschult durch kulturgeschichtliche und wissenshistorische Fragestellungen, die Quellenbasis für ihre Narrative sehr weit auszudehnen bereit sind. Zu Recht tauchte deshalb auch die Frage auf, ob die Naturwissenschaften denn umgekehrt den «state of the art» der Kunstgeschichte in ihre Analysen von Wetterdaten einbezögen. Christian Rohr, der den empirischen Wert von impressionistischen Wintergemälden hervorgehoben hatte, schilderte, dass es für das gleiche Thema meist zwei verschiedene Publikationen benötige, die je an das natur- oder geisteswissenschaftliche Fachjournal angepasst wurden. Eine ähnlich gelagerte Frage zum Austausch zwischen den Wissenschaftskulturen ging an den Paläoökologen Oliver Heiri (Bern), der Sedimentbohrungen aus Schweizer Alpenseen als «Umweltarchive» bezeichnete. In diesen Bohrungen findet er biologische Überreste und kann dadurch auf die «wahrscheinlichsten Wassertemperaturen» in Schweizer Alpenseen der letzten 11’400 Jahre schliessen. Offenbar wird der Begriff «Umweltarchiv» in der Paläoökologie seit langem benutzt; analytische Bezüge zu einem historischen oder kulturwissenschaftlichen Archivbegriff fehlen jedoch bisher.
Das Planetarische in der Geschichte
Wie können wir heute solche komplexen Lebenswelten, in denen die geologische mit der historischen Zeit zusammenzufallen scheint, beschreiben? Sind in der Geschichtswissenschaft in Anbetracht der globalen Klimakrise neue Narrative vonnöten? Mit Dipesh Chakrabarty (Chicago) hatten die Veranstalter einen Historiker als Keynote Speaker eingeladen, der diese Fragen seit über zehn Jahren erörtert. Die grossen Erzählungen der Moderne, so Chakrabarty, seien auf industrielle, ressourcentechnische, emanzipatorische, demokratische und informatische Prozesse konzentriert und stets auf eine «Welt» oder einen «Globus» bezogen. Die «earth system sciences» hätten jedoch bewusst gemacht, dass auch die Geschichte des Planeten und des Lebens auf der Erde beachtet werden müssen. Mit einem anschaulichen Beispiel erklärte Chakrabarty, wie sich diese Zeitverläufe unterscheiden: Die Biodiversität könnte sich wieder erholen, falls wir 150 Millionen Jahre Zeit hätten zu warten. Unsere politische Zeit überblicke aber kaum zwei Generationen. Deshalb forderte Chakrabarty ein neues politisches Denken, eine «new political anthropology», die auch «das Planetarische» berücksichtigt. Dieses Denken tritt quasi noch einmal einen Schritt zurück, um nach der Geschichte unserer Gegenwart zu fragen, die von zunehmendem Energiebedarf, aber auch allgemein steigender Lebenserwartung geprägt sei. Es gehe darum, sich noch einmal klar zu machen, was es heisst, einen «bewohnbaren» Planeten zu haben und was es ist, was diesen «lebensfreundlich» mache.
Im anschliessenden Round Table waren sich Chakrabarty und Fressoz einig, dass man die Antworten auf die Klimakrise nicht dem Geoengineering überlassen dürfe. Die «new political anthropology», welche Chakrabarty einforderte, kann letztlich auch als Aussage gegen eine technokratische Hybris interpretiert werden, also gegen die Idee, dass die Technik schon ‹alles richten› werde.
Akteure
Der letzte Vortrag (Alexander Elsig, Fribourg) pointierte das Problem von demokratisch geführten Diskussionen, die unter Druck einseitig in politische Handlungen übersetzt werden können, und brachte noch einen weiteren Akteur ins Spiel: die Industrie. Das Fallbeispiel von Walliser Aluminiumfabriken im 20. Jahrhundert veranschaulichte die Deutungskämpfe um die mögliche (gravierende) Verschmutzung der Umwelt zwischen sogenannten ‹Laien› und sogenannten ‹Experten› und machte nur zu deutlich, in welchem diffizilen Kräfteverhältnis sich die Wissensproduktion befindet. Informationen über Umweltzerstörung und menschliche Gesundheit prallten da auf ökonomische Interessenpolitik, Lobbyismus sowie politische und mediale Macht.
In diesem Kräfteverhältnis befindet sich letztlich auch die Geschichtswissenschaft, wenn sie die «Archive der Umwelt» entschlüsselt, die immer auch einen Teil von unserer Zukunft erzählen. Das Nachdenken darüber, was dies für die Geschichtswissenschaft disziplinär, methodisch und gesellschaftspolitisch bedeutet, hat mit der Tagung in Bern entscheidende Impulse erhalten: neue Quellenarten, neue Kooperationen, neue Narrative. Um diese neuartigen Formen von Zusammenarbeit anzugehen, sollten «wir uns als Spektrum denken» (Marcus Hall, Zürich). Oder wie Jon Mathieu es zum Schluss seiner Ausführungen ausdrückte: Eine «Einheit» zwischen Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaften sei gar nicht erwünscht, geschweige denn demokratisch durchführbar. Was es seiner Meinung nach brauche, sei ein «problembezogener, kritischer Pluralismus».
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Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung des Tagungsberichts der Autorin zu «Archive der Umwelt. Naturwissenschaften und Geschichte», der am 7. Dezember 2018 auf der Website von infoclio erschien.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Ariane Tanner ist Historikerin und Texterin aus Zürich. Sie wandert zwischen Forschung, Lehre, Journalismus und Performancekunst.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.