Kommentar
Wenn es schief geht, ist es immer «die EU»
Red. Der Brexit noch immer eine Zitterpartie, die Wahlen in Ungarn ein Sieg der EU-Kritiker, der pro-EU-engagierte französische Staatspräsident Emmanuel Macron buchstäblich an der Hand von Donald Trump: Wie kann das gut kommen, oder, weniger skeptisch, wie geht es weiter mit der EU? Die Hoffnungen sind gross, die Prognosen kontrovers. Der hier folgende Gastkommentar eines intimen Kenners der EU-Mechanismen ist der Blick aus Brüssel, der «Blick aus dem Innern». Für die Schweiz ist es der – ebenso notwendige – «Blick von draussen».
Nachtgedanken zu Europa
Unter dem Eindruck des Giftanschlags in Salisbury und der recht unterschiedlichen Reaktionen der Europäer gegenüber Russland und vor allem der wie üblich aufkommenden EU-Schelte sollte man sich an folgendes erinnern: Immer, wenn eine Politik komplett daneben geht oder unsinnig erscheint – oder auch schlechterdings nur unverständlich daher kommt – redet man sehr schnell vom Versagen der EU.
Aber wie fast immer, so ist es im Falle der Diplomatenheimholungen wegen des Russland zugeordneten Mordversuchs in England ebenso wie bei der Migrationspolitik und ähnlichen Desastern nicht die Kommission, die alleinige und ausschliesslich europäische Institution, sondern der Rat, d.h. die Ansammlung – und ich sage: die unsägliche Ansammlung – der nationalen Regierungen, die verantwortlich ist.
Zum Vergleich: Wenn in Deutschland der Freistaat Bayern und der Freistaat Sachsen ein von der Bundesregierung vorgelegtes Gesetz im Bundesrat blockieren, dann schreibt keiner, dass die Bundesregierung wieder mal nicht zu Potte kommt, sondern man berichtet korrekt von der Blockade der beiden Freistaaten. Das aber ist auf europäischer Ebene umgekehrt.
Im Falle der Migrationspolitik hatte die Kommission ein gutes Gesetz zur Vorlage gebracht, das aber unter anderen von den Visegrad Vier und Grossbritannien abgelehnt worden war. Und Polen, das unter seiner alten Regierung noch unterschrieben hatte, erklärte diese Unterschrift unter der Nachfolgeregierung Szidla und Duda für ungültig. Aber schuld war «die EU», wie man allenthalben hörte.
Ich bin zur Zeit wieder mal an einen Artikel von mir erinnert, vor zwei Jahren glaub’ ich, hab ich den geschrieben, der trug die Überschrift: «Zerreissproben ohne Ende». Daran hat sich nichts geändert, die Headline wäre auch heute noch richtig.
Solange nationale Regierungen im Rat Sitz und Stimme haben, deren selbsterklärte raison d’être es ist, eine Reform und Vertiefung der EU zu verhindern, wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Echtes Entscheiden wird nicht möglich sein. Im Gegenteil: Es wird verhindert – und das ganz bewusst.
Den Verhinderern geht es dabei ganz offenkundig nicht um Europa, sondern um Europas Geld. Länder wie die Visegrad Vier (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Red.) haben längst begriffen, dass ihr wachsender Wohlstand vom ununterbrochenen ‹revenue stream‹ der EU abhängt. Das zu erkennen ist, wie man heutzutage zu sagen pflegt, ein ‹no-brainer‹.
Was die Genannten aber auch begriffen haben, ist der Fakt, den Mario Monti klipp und klar schon 2016 zum Ausdruck gebracht hatte, nämlich, dass der Rat in erster Linie über die Zuteilung «materieller Güter» entscheidet. Kurzum: Von dort kommt das Geld.
Daher wollen diese Staaten auch, wie in ihrer Erklärung von 2016 niedergelegt, die Kommission, die «Hüterin der ideellen Werte», und vor allem ihren Präsidenten Juncker abschaffen. Den Rat als Geldsilo will man selbstredend beibehalten. Der allerdings sollte wieder wie früher einstimmig entscheiden. Also mit Vetorecht. Damit allerdings wäre Europa wohl erledigt.
Macron, Merkel und Juncker wollen das verhindern. Und vor allem Macron und Juncker drängen auf Veränderung, auf echte Reformen, auf Vertiefung, auf nachhaltige Stärkung der EU-Kommission gegenüber dem Rat. Dabei drängen sie logischerweise auf die Schaffung einer EU-Exekutive, die diesen Namen auch verdient, wo eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik gemacht und angeordnet wird. Damit wäre der Angriff der Visegrad-Staaten neutralisiert und Europa auf eine solide Basis gestellt. Oder, in der Terminologie von Karl Marx: der unabdingbar notwendige Überbau wäre geschaffen.
Angriffe von aussen
Aber just in diese Gemengelage dringt Subversives von allen Seiten ein, von Seiten, soviel darf man vermuten, die eine reformierte und gestärkte EU verhindern wollen.
Signifikanterweise gibt es einen subversiven Angriff, wie im Falle der Cyberattacke vom vergangenen November/Dezember in Deutschland, der darauf schliessen lässt, dass er entweder eine russische Quelle hatte oder von einer Quelle ausging, die sich als russische Quelle tarnen konnte. Hier darf spekuliert werden.
Spekulieren kann aber auch zu den richtigen Schlüssen führen. Denn ausser Russland gibt es noch wenigstens zwei weitere Staaten, deren Staats- beziehungsweise Regierungschefs schon wiederholt ihren «Kummer mit Europa» hatten und diesen immer noch haben. Aus wirschaftlichen wie auch aus ideellen Gründen. Aber noch liegen Beweise nicht vor. Und das gilt auch für den Giftanschlag in England, der neuesten Erkenntnissen nach auch keine überwältigende Fülle eindeutiger Indizien ans Licht brachte.
Aber Europa braucht jetzt Ruhe an der Brexitfront. Die führenden Kräfte wie Frankreich und Deutschland haben so entschieden. Und dabei gilt, dass man die 27 Verbliebenen noch bis zum 29. März nächsten Jahres zusammenhalten muss, um zu einem aus europäischer Sicht guten Brexit-Ergebnis zu kommen.
Die Zeit drängt
Im Mai 2019, nach der Europaparlamentswahl, wird auch die Zeit von Jean-Claude Juncker zu Ende gehen. Bis dahin müssen die strukturellen Voraussetzungen für ein neues Europa zumindest erkennbar sein. Sollte das gelingen, dann hätte sich das Europaparlament in seiner jetzigen Form 2019 wahrscheinlich das letzte Mal konstituiert.
Hoffentlich. Denn man kann jetzt schon eine zu erwartende, grosse Fraktionsstärke der Völkischen in diesem Parlament erkennen. Und einen Jean-Claude Juncker würde es mit einem solchen Parlament nicht geben.
Es ist keine Zeit zu verlieren. Die Vorbereitungen zur EU-Reform gehen in den nächsten Wochen in overdrive. In Berlin. Man ist aufgewacht. Endlich.
Und auch das ist richtig: Man ist in Brüssel durchaus kundig in europäischer Geschichte. Und weil das so ist, weiss man sehr wohl, was man tun sollte und auch, was man tun kann. Beispielsweise in den ungelösten Konflikten um Europa herum, die eine entscheidungsfähige EU verlangen. Das war zunächst im Osten Europas vordringlich geworden, wo es bislang nur der deutsch-französischen Initiative (Minsker Abkommen) – unter Ausschaltung des Rats – gelang, wenigstens einen teilweise eingehaltenen Waffenstillstand herbeizuführen. Unter Einbeziehung Russlands, ohne das im Osten nichts geht.
Die Initiative wurde aber von den USA nicht unterstützt, wobei man sich dabei recht gut an die Vulgärsprache der U.S.-Diplomatin Nuland («Fuck the EU») erinnert. Davon abgesehen wäre das damals handelnde Team Merkel-Sarkozy von den üblichen Schlangen im Gras im Rat behindert worden.
Auch dieses sollte man nicht vergessen: Gerade weil man sich der Geschichte Europas in der Kommission sehr bewusst ist – wie man mit einem Blick auf die Präambel des Vertrags von Rom erkennen kann – weiss man sehr wohl um den Charakter des Selbstbestimmmungsrechts der Völker. Und der ist in der Gedankenwelt des Nationalismus entstanden, der stets beste Voraussetzungen für bewaffnete Konflikte geschaffen hat.
Man setzt daher auf den Gedanken der einst von Genscher propagierten OSZE-Philosophie, die Grenzverschiebungen nur mit Zustimmung der Betroffenen zulässt, ausschliesslich auf friedlichem Wege. Das soll einhergehen mit dem garantierten Schutz von Sprache und Kultur von Minderheiten. Damit könnten auch die baltischen Staaten leben. Russland möglicherweise auch, nachdem es seine Leute und seine Gebiete im Donbas und der Krim «heimgeholt» hat.
Ukrainer und Polen hingegen sehen das anders, wie auch die Tschechen. Dort feiert das 19. Jahrhundert in den Köpfen noch fröhliche Urständ. Ebenso wie in Serbien. Deren Saat darf in Europa niemals wieder aufgehen. Das lehrt die Geschichte. Emmanuel Macron hat dies sehr deutlich in seiner Septemberrede an der Sorbonne ausgesprochen.
Macron und Merkel können im Moment nichts anderes tun, als verhandeln und als alleiniges Druckmittel ihre Wirtschafts- und Handelskraft einsetzen. Gemeinsame europäische Streitkräfte sind Jahrzehnte von einer beeindruckenden Struktur, Organisation und Bewaffnung entfernt.
An der Südostflanke der EU und auch der Nato hat zur selben Zeit Vladimir Putin mit dem (Noch)-Nato-Mitglied Türkei als aktivem Kriegsalliierten eine neue Front in Syrien eröffnet, wo’s auch gegen die Kurden geht, die von Deutschland und Frankreich militärisch unterstützt werden. Man sieht sich allmählich in der Zwickmühle.
Und damit nicht genug: Tsipras, Regierungschef von Griechenland, EU-Mitglied und wie die Türkei Nato-Verbündeter, findet offenbar mehr und mehr Gefallen an einer engeren Beziehung mit dem Kreml-Chef. Das Selbstbewusstsein des Griechenpremiers scheint durch die leicht wachsende heimische Wirtschaft und vor allem dank der Milliarden aus Europa sichtlich gestärkt – und so braucht er Europa nicht mehr so dringend. Offenbar hat er auch verstanden, dass die Südostflanke der Nato nicht mehr zu halten ist.
Dafür hat Amerika durch einflussreiche Lobbyisten und deren Anwendung des im First Amendment seiner Verfassung verbrieften Rechts auf Petition und der daraus resultierenden exklusiven Hinwendung zu Israel längst die Voraussetzungen geschaffen. Das Ergebnis war, dass der ehemals äusserst zuverlässige Natopartner Türkei durch Israel abgelöst wurde. Der Preis für Amerika, die Nato, den gesamten Nahen Osten und auch für Europa ist enorm. Die letzte Ratenzahlung ist nicht in Sicht.
Es ist lange her, dass die Türkei das Süostbollwerk der Nato war. Jetzt muss es Tsipras um gute Nachbarschaft mit der Türkei und dem mächtigen Russland gehen. Dort liegt für Griechenland der Vorteil.
Angesichts solcher Zerreissproben, die noch durch parochiales Verhalten quer durch Europa und das immer lauter und aggressiver werdende Strotzen der Völkischen an Intensität zugenommen haben, gehen Berlin und Paris an die Reformaufgaben der EU. Diese sollten dann hoffentlich bis zum März nächsten Jahres so weit in den Vorbereitungen abgeschlossen sein, dass die 19 Länder der Eurozone «ihr neues Europa» Zug um Zug umsetzen können, demokratisch, parlamentarisch, frei.
Die 19 in der Eurozone, die sich vor allen anderen zu Europa bekannt haben, werden sehr wohl wissen, warum sie das tun: nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ihrer Geschichte bewusst sind.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor war lange Jahre Brüsseler Korrespondent der deutschen Zeitschrift DIE GAZETTE. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über die USA und die EU, sieht sich aus gegebenem Anlass aber herausgefordert, gelegentlich auch aktuell zu kommentieren. Es gibt keine Interessenkollisionen.
Harry Elhardt hält es offenbar für unbestritten, dass eine sehr rasche Vertiefung der EU hin zu «Vereinigten Staaten von Europa» das wahre und richtige Ziel ist. Für ihn geht die Diskussion nur noch darum, wie dies am schnellsten und besten zu erreichen wäre.
Der vorliegende Text verdeutlicht gut, warum man in dieser Frage aneinander vorbei redet. Elhardt geht auf allfällige Probleme einer starken Zentralisierung überhaupt nicht ein. Die Visegrad-Staaten werden einfach als Schmarotzer verunglimpft. Demokratisch gewählte nationale Regierungen werden als «unsägliche Ansammlung» abgetan. Elhardts ganze Sympathie gilt der Kommission. Fragen nach deren demokratischer Legitimation werden keine gestellt. Seine Aussagen zum Europaparlament sind etwas dubios. Möchte er es lieber ganz abschaffen, weil bei den nächsten Wahlen ein «falsches» Resultat droht?
Ob die Euro-Turbos oder die Euro-Skeptiker recht haben, ob es ein objektives «recht» in einer solchen Frage überhaupt gibt, kann hier nicht ausdiskutiert werden. Die Befürworter einer vertieften Union täten allerdings gut daran, einen offeneren Dialog zu suchen. Denn wenn die Diskussion weiterhin so verfahren bleibt, werden – aus strukturellen Gründen – die Skeptiker gewinnen.
– Die Frage nach der demokratischen Legitimation der EU-Kommissare wird nie gestellt.
– Russland als Sündenbock: «….im Falle der Cyberattacke vom vergangenen November/Dezember in Deutschland, der darauf schliessen lässt, dass er entweder eine russische Quelle hatte oder von einer Quelle ausging, die sich als russische Quelle tarnen konnte….»
– Interessen der Griechen, Polen, Serben, Spanier etc. plus der USA und NATO sind NICHT dieselben. Da braucht es eine höhere Diktatur.