Kommentar
kontertext: Ich rufe DU! Und sage in Wahrheit ICH!
Titel sind das Gesicht der Texte. Ein Titel springt an. Im Titel liegt nicht die Vollständigkeit, aber eine Art Essenz. Im Titel zeigt der Text seine Haltung. Wobei man gerechterweise sagen muss, dass es sich nicht um die Haltung der AutorInnen handeln muss, da oft RedakteurInnen für die Titel zuständig sind.
Titel besitzen viel unerkannte Macht. Sie können uns zu jeder Tages- und Nachtzeit einsuggerieren, was wir schlussendlich zu glauben haben. Morgens, wenn wir verschlafen an der Tramhaltestelle dösen. Mittags, wenn wir gelangweilt im Gratisblatt blättern. Abends, wenn wir die Zeitung müde vom Tramsitz wischen. Nun bereits gereizt: Nein! Nicht schon wieder! Doch dann ist es vermutlich zu spät.
Ganz zu schweigen von den Titeln der Newsticker und den Titeln, die uns über die Newsletter der Onlineausgaben erreichen.
Was könnte also die Geschichte einer Titelung über den Zustand unseres kollektiven Unterbewussten erzählen?
Rückkehr des Patriarchats am Beispiel der Titel von «20 Minuten»
Wallis erklärt Flüchtlingen die weibliche Lust: Was die Neugier weckt, wer denn diese aussergewöhnliche Person mit dem wohlklingenden Namen Wallis sein könnte, lässt aber auch äusserst besorgt aufhorchen, denn es wurde ein Neuer Tuberkulosekeim bei Flüchtlingen entdeckt. Aber noch viel gefährlicher wird es angesichts dieser Tatsache: Diese Flüchtlinge reisen unbehelligt durch die Schweiz, was aber noch nicht das grösste Skandalon ist, denn 9 von 10 Flüchtlingen beziehen Sozialhilfe. Doch wir können erleichtert aufatmen, denn eine mutige Deutsche Stadt nimmt keine Flüchtlinge mehr auf, wobei die Europäische Union auch nicht mehr ist, was sie mal gewesen ist, und die südlichen Länder endlich begriffen haben, dass sie sich gegen die Hegemonie im Norden wehren sollten, denn ein Dorf in Italien will seine Migranten zurück haben, was Folgen hat: Flüchtlinge nutzen Carpooling-Apps, eine unverzichtbare Dienstleistung, wenn man zwischen deutschen Städten und italienischen Dörfern unbehelligt durch die Schweiz reisen will, damit man endlich zum wohlverdienten Sexualunterricht bei Mutter Wallis kommt. Und immer wieder steht sie im Raum, die grosse Menschheitsfrage: Bald keine Sozialhilfe mehr für Flüchtlinge? Die dürfte jedoch bald gelöst sein, denn Parteichefs einigen sich auf Flüchtlingsobergrenze. Doch wo die auch immer sitzen, diese Parteichefs, die Sache mit der Obergrenze wird ihnen so richtig mies gemacht, denn bereits steht die nächste ungelöste Frage im Raum: Wieso wollen plötzlich mehr Georgier Asyl? Aber auch davor müssen wir uns nicht ängstigen, denn die AfD-Delegation trifft Assads Grossmufti. Und damit denen die Themen nicht ausgehen, zeigt «20 Minuten» unverdrossen mit dem Finger auf zwei ungewöhnliche Frauen: Diese Hebammen wollen Flüchtlingen helfen!
Dass nach so vielen Parteichefs, Georgiern, Migranten, anderen männlichen Flüchtlingen und Grossmuftis endlich Frauen in Form von Hebammen ins Spiel kommen, macht Sinn, denn wenn die Lust am weiblichen Körper so richtig geweckt worden ist, muss man ja mit gewissen Konsequenzen rechnen.
Nun ist also passiert. wovor gewisse rechte Kreise nicht müde geworden sind, uns zu warnen: Die Rückkehr der männlichen Vorherrschaft, die Wiederherstellung des finsteren Patriarchats durch den unbehelligt reisenden Flüchtling. Eine Welt, in der nur Männer Subjekte sind und die Frauen lediglich als weibliche Lust und als Geburtshelferinnen erwähnt werden dürfen. Und es ist beunruhigend, dass die titelgebende Redaktion einer der meistgelesenen Zeitungen bereits so vollumfänglich unterwandert worden ist. Das sollte uns aufhorchen lassen!
Unfassbare Gespenster – fassbare Gesichter
Das wohl unheimlichste Gespenst unserer Zeit, das unter dem geheimnisvollen Namen Flüchtling durch unsere europäischen Albträume geistert, verfügt über wahrlich subversive Kräfte. Obwohl diese unfassbaren Geschöpfe Träger von seltsamen Krankheiten sind, über kreative kriminelle Energien verfügen, um die Sozialsysteme ungehindert zu schröpfen, reisen sie unbehelligt durch die Länder, verfügen über aufregende Apps, von denen normale Bürger und Bürgerinnen nicht gewusst haben, dass es sie gibt, einige Städte im reichen Norden müssen gar ihre mittelalterlichen Tore schliessen, während Dörfer im krisengeschüttelten Süden das Possessivpronomen für sich entdecken und die mysteriösen Reisenden zu ihrem persönlichen Besitz machen – wenn schon keine Jobs, dann wenigstens ein paar Migranten – was seine Richtigkeit hat, denn die Menschen im Süden sind sowieso faul und arm, aber dafür viel gastfreundlicher – jedenfalls wenn man den Titeln des besagten Blatts glauben will. Aber schlussendlich können wir erleichtert aufatmen: Das Gespenst bekommt endlich einen Namen und ein Gesicht: Der Georgier! Ob dieser allerdings an der weiblichen Lust zu belehren ist, steht weiterhin offen, aber solange es eine AfD, Grossmuftis und ein paar entschiedene Parteichefs gibt, die sich des nun fassbar gewordenen Problems annehmen, sind wir unzweifelhaft in Sicherheit.
Schäbiger Opportunismus
Nun aber mal konkret: Gewisse dieser Titel sind richtig gemein. 9 von 10 Flüchtlingen beziehen Sozialhilfe, titelt «20 Minuten». Obwohl jeder Redakteur oder jede Redakteurin wissen muss, in welches gesellschaftliche Umfeld, in welche Stimmung eine solche Aussage gesetzt wird. Obwohl sie genau wissen müssen, welche Wirkung sie damit erzielen. Im Artikel wird zwar angedeutet, dass viele der Geflüchteten nicht arbeiten dürfen, oder wenn sie dann endlich arbeiten dürfen, das ganze Prozedere dermassen kompliziert ist, dass nicht nur die Geflüchteten, sondern vor allem die potenziellen ArbeitgeberInnen aufgeben. Viele ArbeitgeberInnen wollen auch gar keine AsylbewerberInnen einstellen, weil sie fürchten, dass diese jederzeit abschlägigen Bescheid bekommen und das Land verlassen könnten. Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten mit ausländischen Diplomen und Berufsabschlüssen, die hierzulande nicht anerkannt sind. Aber so richtig fies wird dieser Titel angesichts der unerwähnten Tatsache, dass viele Geflüchtete in den sogenannten Sozialprogrammen arbeiten. Da darf man zum Beispiel einen Tag lang Schnee schippen, Pärke und Strassen putzen oder Fussballfelder warten und bekommt gerade mal 30 Franken am Tag. Und jede Person, die in einem solchen Programm arbeitet, gilt offiziell als SozialhilfebezügerIn. Dass hier Gratisarbeit (30 Franken kann man ja nicht als Tageslohn bezeichnen) als potenzieller Betrug und Parasitentum hingestellt wird, ist eine unverantwortliche redaktionelle Haltung. Und vor dem Hintergrund der geplanten Ausschaffung von über 3’000 EritreerInnen durch den Bund steht der Zwischentitel, dass jeder zweite Bezüger aus Eritrea komme, schon fast für schäbigen Opportunismus.
In Zeiten jedoch, in denen keine Kosten und Gesetzesverletzungen gescheut werden, um SozialhilfebezügerInnen zu tracken, in denen allenthalben Renten und Sozialhilfen gekürzt und abgeschafft werden sollen, macht es aus merkantiler Sicht natürlich Sinn, ein solches Reizthema in die erhitzten Köpfe zu platzieren. Hauptsache: Klick!
Aber nochmals zum Beginn. L’Origine du Monde. Weibliche Lust im Wallis. Im besagten Artikel wird erzählt, dass sich die jungen Männer vor allem mit ihrem eigenen Körper beschäftigen. Es geht also auch um die männliche Lust. Die Beschäftigung mit dem männlichen Sex. Und es geht um Macht. Oder um den Willen zum Wissen, wie Michel Foucault den ersten Band seines Werks Sexualität und Wahrheit titelt, ein Werk, das sich mit der Geschichte der Körper beschäftigt, und der «Art und Weise, in der man das Materiellste und Lebendigste an ihnen eingesetzt und besetzt hat.» (Foucault, Frankfurt 1983. S. 181)
Und so stellt sich zwangsläufig nochmals eine Frage: Warum nehmen am Sexualunterricht im Wallis nur junge Männer teil? Verfügen allein sie über den Willen zum Wissen? Oder anders gefragt: Wer entscheidet darüber, wer diesen Willen besitzt oder nicht? Oder reicht es, wenn man die jungen Männer dazu anleitet, wie sie die weiblichen und die männlichen Körper und die dazugehörigen Lüste gebrauchen sollen?
Sind die jungen Frauen nicht in der Lage dazu? Wahrscheinlich nicht. Und schuld daran ist nicht das hausgemachte Patriarchat, sondern vermutlich die fremde Kultur.
Und welcher Titel würde diesen Tatsachen gerecht?
P.S.: Damit keine Missverständnisse entstehen: Das Projekt der zwei jungen Hebammen ist grossartig und verdient jeden Respekt. Es entspricht nicht dem Willen der Autorin, sich darüber lustig zu machen. Der Spott gilt lediglich dem Demonstrativpronomen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Johanna Lier ist Schriftstellerin und Journalistin. Veröffentlichung von Gedichtbänden, Romanen und Theaterstücken. Tätigkeit bei der WoZ, aber auch in der NZZ, dem St.GallerTagblatt und dem Bund. Längere Aufenthalte u.a. in Iran, Nigeria, Israel, Argentinien und Ukraine. Lehrtätigkeit an der Hochschule für Kunst und Design in Luzern.
- Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.