Kommentar
kontertext: Think global, read local?
Was heisst eine zentralisierte Presselandschaft für den Lokaljournalismus? Blüht er auf? Ist der Lokalteil der letzte Ort in den Einheitsblättern, wo eigenständiger, relevanter Journalismus noch möglich ist? Was für Themen setzt die Redaktion «Zürich und Region» des Tages-Anzeigers heute? Sieben Jahre nachdem die Tamedia die Zeitungsredaktionen im Kanton Zürich zusammengelegt und 37 Mitarbeitenden gekündigt hatte? Und welche Auswirkung wird die neuste Zentralisierung des Konzerns haben? Seit dem 1. Januar 2018 werden die zwölf Tageszeitungen der Tamedia aus den drei «Kompetenzzentren» in Zürich, Bern und Lausanne mit überregionalen Themen beliefert, betreut von zwei «Mantelredaktionen» (vgl. Infosperber 26.3.2018).
Machen Sie den Selbstversuch, geehrte kontertext-Leserin, geehrter kontertext-Leser und studieren Sie für einmal den Regionalteil Ihrer Tageszeitung eine Woche lang gründlicher als sonst. Es ist klar, dass eine solche Lektüre alles andere als repräsentativ ist, aber es ist eine interessante Momentaufnahme.
«Zürich» meint die Stadt Zürich der Chronistinnen-Seelen, Nostalgiker und Lifestyle-Interessenten
Beim Lesen der Druckausgabe des Tages-Anzeigers (Montag bis Samstag, 19. bis 24. März 2018) fällt zuallererst auf, dass der Lokalteil namens «Zürich» eigentliche «Stadt Zürich» heissen müsste. Die umfangreicheren Artikel behandeln Stadtzürcher Themen. Berichte von andernorts finden sich mit wenigen Ausnahmen nur noch in den Kurznachrichten und den vermischten Meldungen. Gut möglich, dass dies eine Folge der Schliessung der Regionalredaktionen in Uster, Bülach, Stäfa und Horgen ist.
Einen rechten Umfang des Lokalbundes nehmen günstig produzierte Serien ein: «Der Tagi wird 125» ist eine Artikelserie zum Zeitungsjubiläum mit historischen Texten und Bildern, die aus dem hauseigenen Archiv stammen. Weiter wird in einer sechsteiligen Serie «Zürcher Caféprotokolle» täglich ein Kaffeehaus in der Stadt Zürich vorgestellt. Solche Serien mögen wie die vermischten Meldungen zum Regionalteil gehören, geschätzt von Chronistinnen-Seelen, Nostalgikern und Lifestyle-Interessenten und von allen anderen vielleicht gern gelesen, aber sicher auch schnell vergessen.
Lokales erscheint irrelevant, wenn der Kontext fehlt
Was aber bei der täglichen Zeitungslektüre viel nachdenklicher stimmt, ist die Art und Weise, wie im Regionalteil gesellschaftlich gewichtige Themen verhandelt werden. Sie erscheinen oft isoliert vom überregionalen Weltgeschehen. Es mangelt an Verweisen und an Vergleichen. Ja, es fehlt schlichtweg die Einordnung in einen grösseren politischen, sozialen oder geografischen Zusammenhang.
Das zeigt sich beispielhaft beim Thema Bauen, welches in der täglichen Berichterstattung viel Platz beansprucht. Praktisch täglich werden gescheiterte oder sich verzögernde Bauvorhaben in der Stadt Zürich (z.B. Hardturmstadion, Langstrassenunterführung, Labitzke-Überbauung) verhandelt. Im besten Fall sind es nette Vignetten, im schlechtesten Fall müssiger Empörungsjournalismus.
«Hühner statt Grasshoppers» ist die Headline über einer Zeitungsseite der Montagsausgabe. Der Artikel dreht sich um die Brache des Heimstadions des Zürcher Fussballclubs Grasshoppers, wo inzwischen ein «kleines Quartierparadies» entstanden ist. Das Hardturmstadion wurde abgerissen, ohne dass es eine Baubewilligung für einen Neubau gab. Die Realisierung des dritten Versuchs eines Stadion-Neubaus zieht sich hin. Seit neun Jahren wird das Gelände vielfältig zwischen genutzt (Skating-Anlage, Gemeinschaftsgarten, Mittagstisch, Hühnerverein usw.). Ein Vorstandsmitglied der IG Freiräume Zürich-West wird zitiert: «Experimentieren, etwas bauen, ein bisschen graben, Dinge pflanzen, all das geht in den öffentlichen Parks nicht.» Die Brache müsse in ein künftiges Bauprojekt integriert werden, so die Forderung.
Dieses Votum wäre ein Steilpass für eine interessante Debatte über die Nutzung des öffentlichen und privaten Raums in Zürich und anderen Städten, für das Nachdenken über freie und besetzte Räume, über selbstverwaltete, städtische und staatliche Orte. Wie geht man mit Brachen oder fehlendem Freiraum in Städten um? Welche politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen welche Bauten und Räume? usw. usf. Das Lokale steht jedoch isoliert da und damit scheint auch seine Relevanz begrenzt.
Die Kontextualisierung fehlt auch bei anderen Textbeiträgen: Der Artikel in der Dienstagsausgabe zur Debatte im Kantonsrat – ob der Vaterschaftsurlaub für Kantonsangestellte von fünf auf zehn Tagen erhöht werden solle – endet an der Kantonsgrenze. Nur ein Satzfragment weist darauf hin, dass sich «mit dieser Frage» «die Parlamente landauf, landab» beschäftigen und es sich also um eine überregionale Thematik handelt. Die Online-Ausgabe des Tages-Anzeigers funktioniert diesbezüglich besser, weil neben dem Artikel wenigstens weitere thematisch verwandte Artikel aufgelistet sind.
Florierender Lokaljournalismus sieht anders aus
Der Bericht in der Mittwochsausgabe über die regelmässigen Demonstrationen von Kurdinnen, Kurden und Sympathisanten in der Stadt Zürich gegen die türkische Militäroffensive Operation Olivenzweig ist ein Gegenbeispiel, wenn auch kein sehr gelungenes. Hier wird die lokale Berichterstattung in den internationalen Kontext eingeordnet. Patrice Siegrist schildert zuerst das Anliegen der Demonstrierenden in Zürich (Medienpräsenz und Druck erhöhen auf UNO und EU) und erläutert dann den internationalen Kontext. Anschliessend geht er fast ebenso ausführlich auf die «Verbindungen der Kurden mit der linksradikalen Szene» in Zürich ein, worüber die Polizei «nicht erfreut» sei. Der Text endet mit folgendem Hinweis: «Bericht zur Lage in Deutschland: Seite 7».
So blättert man nach vorne zum Zeitungsteil «International», wo Dominique Eigenmann über die Anschläge auf türkische Einrichtungen und Moscheen durch gewaltbereite kurdische Aktivisten schreibt. Inhaltlich ist diese Verbindung zwischen den Anschlägen in Deutschland und den bisher 40 Kundgebungen in Zürich, die laut Siegrist «meist friedlich» verliefen, problematisch. Aber das wäre wieder eine andere Geschichte und ein anderer kontertext. Hingegen zeigt sich an diesem Beispiel, wie über die einzelnen Zeitungsressorts hinaus Kontextualisierung funktionieren könnte. Festzustellen ist, dass das Verweissystem eine Einbahnstrasse ist. Am Ende des Artikels von Eigenmann findet sich kein Hinweis auf jenen von Siegrist. Liegt es am Modell der Kompetenzzentren und an der Mantelredaktion, wo man sich wenig darum kümmert, was im Regionalressort steht?
Nach einer Intensivlesewoche des Tages-Anzeigers ist das vorläufige Fazit: Ein florierender Lokaljournalismus sieht anders aus.
Die Hoffnung stirbt zuletzt (in Bern)
Dass die regionale Berichterstattung bald anderswo als in Zürich aufblüht ist unrealistisch, angesichts der aktuellen Debatte zur Tamedia-Landschaft in Bern. Der Chefredaktor Peter Jost verkündete anfangs Jahr der Leserschaft der Bernerzeitung (BZ): «Die Bündelung der Ressourcen», gemeint ist die Schaffung der Kompetenzzentren und der Mantelredaktionen, «ermöglicht schlagkräftige Teams mit hoher Dossierkompetenz.» «In der regionalen und kantonalen Berichterstattung wird die BZ mit dem Bund weiterhin voll im Wettbewerb stehen. Dafür sorgen eine eigene BZ-Chefredaktion und Redaktionsteams in Bern, Burgdorf, Langenthal, Thun und Interlaken.»
Ob dieses martialische Versprechen eingelöst wird, ist angesichts der jüngsten Entwicklungen zu bezweifeln. Als die Gewerkschaft syndicom über die Zusammenlegung der beiden Tamedia-Titel Bund und BZ spekulierte, dementierte der Unternehmenssprecher Christoph Zimmer vorsichtig: «Wir glauben an zwei Tageszeitungen in Bern, solange das Interesse der Leserinnen und Leser in Bern an zwei regionalen Stimmen weiterhin besteht». Man werde die Entwicklung der Werbeeinnahmen und der Abonnemente weiterhin beobachten, meint er und erklärt: «Wir wollen die Kostensenkungen in erster Linie über Fluktuation erreichen. Wenn das nicht ausreicht, können wir Kündigungen nicht ausschliessen.» Nach Stärkung des Lokaljournalismus klingt das nicht.
Die Redaktionen von Bund, BZ und auch der Nachrichtenagentur SDA haben genug. Sie protestierten am 22. März 2018 erstmals gemeinsam gegen den Sparkurs der Tamedia, als ihr Chef, Pietro Supino, für den Business Club Bern zum Thema «eine starke Mediengruppe als Voraussetzung für unabhängigen Journalismus» referierte. Der vereinte Auftritt der Berner Tageszeitungen lässt hoffen.
Auch ist es zu wünschen, dass die hier diskutierte Lektüre des Tages-Anzeigers ein verzerrtes Bild des Lokaljournalismus zeigt und Sie, geehrter kontertext-Leserin, geehrter kontertext-Leser, ergiebigere Lektüreerfahrungen machen. Teilen Sie es mit. Die Freude über journalistische Regionalperlen wäre gross!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Anna Joss ist Historikerin mit den Schwerpunkten Sammlungs- und Museumsgeschichte sowie Raum-, Wohn- und Baugeschichte. Beim Hier und Jetzt Verlag für Kultur und Geschichte in Baden erschien 2016 ihre Dissertation "Anhäufen, forschen, erhalten. Die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseum 1899 bis 2007". Heute arbeitet sie bei der Denkmalpflege der Stadt Zürich als stellvertretende Leiterin.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.