Kommentar

Piz Cengalo: Wie lange noch schläft die Justiz?

Kurt Marti © Christian Schnur

Kurt Marti /  Der Bergsturz am Piz Cengalo forderte acht Tote. Die Experten lenken ab. Die Bündner Justiz schaut zu. So geht das nicht.

Die Experten, die der Kanton Graubünden rief, haben letzte Woche in eigener Sache gesprochen: Der Bergsturz mit anschliessendem Murgang war laut Expertenbericht «eine extrem seltene Prozessverkettung». Diese Bemerkung kommt zwar deskriptiv, wissenschaftlich daher, zielt aber auch auf die normative, juristische Ebene.

Am besten gab die NZZ diese juristische Stossrichtung des Expertenberichts wieder: Der Bergsturz war «fatal» und folglich «nicht vorhersehbar». Was fatal und unvorhersehbar ist – also schicksalhaft – kann juristisch auch nicht belangt werden. Das scheint zwar logisch, aber ist trotzdem falsch.

Infosperber hat letzte Woche auf die Befangenheit der Cengalo-Experten hingewiesen, die bisher für die Überwachung des Piz Cengalo zuständig waren und jetzt ebenfalls in der neuen Expertengruppe des Kantons sitzen.

Das Bündner Tagblatt hat Regierungsrat Mario Cavigelli darauf angesprochen, worauf dieser erklärte, die Befangenheit – die er nicht bestritt – sei kein Problem, weil es sich nicht um eine rechtliche Einschätzung zur Frage der Sorgfaltspflicht handle, sondern um eine rein fachliche Bestandesaufnahme.

Die Frage der Sorgfaltspflicht muss nun die Bündner Justiz abklären. Der Expertenbericht ist da nur am Rande von Nutzen. Denn zur Beurteilung einer möglichen Verletzung der Sorgfaltspflicht in Bezug auf die acht Toten ist die Betonung der «extrem seltenen Prozessverkettung» von Bergsturz und anschliessendem Murgang nicht ausschlaggebend, sondern lenkt nur von der zentralen Frage ab.

Die zentrale Rolle zur Beurteilung der Sorgfaltspflicht spielt nämlich das Wissen um die generelle Gefahr eines Murgangs im Bondasca-Tal. Dafür braucht es keinen unmittelbar vorausgehenden Bergsturz.

Fakt ist: Seit dem Sommer 2012 rechnete man mit einem Murgang durch das ganze Bondasca-Tal bis nach Bondo, und zwar ohne gleichzeitigen Bergsturz. Davon zeugt das grosse Rückhaltebecken bei Bondo.

Die Gefahr eines Murgangs in den Sommermonaten war also bestens bekannt. Folglich hätte die Gefahrenzone auf den Warntafeln bis nach Bondo reichen müssen und nicht nur bis zum Ende der Alpstrasse. (siehe Infosperber: Piz Cengalo: Bergtouristen in falscher Sicherheit)

Deshalb lauten die zentralen Fragen inbezug auf eine mögliche Verletzung der Sorgfaltspflicht:

  • Wer war dafür verantwortlich, dass auf den Warntafeln nur die Gefahrenzone eines Bergsturzes im hinteren Teil des Bondasca-Tales eingezeichnet war und nicht auch die Gefahrenzone eines Murgang durch das ganze Tal bis nach Bondo?
  • Wer hat in wessen Interesse dafür gesorgt, dass die Gefahr eines Murgangs auf den Warntafeln völlig ausgeblendet wurde und sich damit die Bergtouristen in falscher Sicherheit wiegten?

Auf die Beantwortung dieser Fragen muss sich nun die Untersuchung der Bündner Staatsanwaltschaft fokussieren und sich nicht vom Fatalitäts-Gerede der involvierten Experten und der Medien ablenken lassen.

Zwar haben die Experten die Situation falsch eingeschätzt und erstaunlicherweise weder mit dem reichlich vorhandenen Wasser noch mit dem – auch für Experten – gut sichtbaren, abschüssigen Gletscher als Wasserquelle gerechnet.

Doch zur Beantwortung der Frage, wieso nicht vor einem Murgang gewarnt wurde, ist das bloss sekundär, weil die Murgang-Gefahr wegen der grossen Ansammlung von früherem Bergsturz-Material auch ohne unmittelbar vorausgehenden Bergsturz bestand.

Folglich ist die Fehleinschätzung der Experten höchstens ein zusätzlicher Grund für die Ausblendung der Murgang-Gefahr auf den Warntafeln.

Ob die Bündner Justiz die Fokussierung auf die richtigen Fragen schafft, ist fraglich, wenn man bedenkt, was die Staatsanwaltschaft bisher geleistet hat. Wie das «Rendez-vous» von Radio SRF berichtete, erklärte die Staatsanwaltschaft nämlich, es sei noch unklar, ob sie ein eigenes Gutachten in Auftrag geben wird. Offenbar hat die Staatsanwaltschaft zuerst den offiziellen Expertenbericht abgewartet.

Seit dem Bergsturz sind vier Monate vergangen. Genug Zeit also für die Staatsanwaltschaft ein unabhängiges Gutachten von nicht involvierten Experten in Auftrag zu geben, um die Sorgfaltspflicht abzuklären.

Stattdessen wartete die Staatsanwaltschaft das Gutachten der Experten ab, die zum Kreis der Verantwortlichen gehören, gegen die möglicherweise wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht Anklage erhoben werden muss.

So geht das nicht! Die Bündner Justiz muss endlich aufwachen.

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Zum Infosperber-Dossier:

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3 Meinungen

  • am 22.12.2017 um 19:59 Uhr
    Permalink

    Wo bleibt die Eigenverantwortung? Jeder moderne Mensch masst sich an Experte in der Gebirgswelt zu sein. Jeder moderne Mensch masst sich an ein Experte in der Natur zu sein. Dabei haben viele die Gebote der Natur vergessen, bzw. verloren. Dank modernen Kleidungen und Instrumenten glaubt jeder ein Bergkenner zu sein. Wenn der moderne Mensch seine Vorstellung überschätzt, dann müssen Gerichte auf dem Plan! Das ist unsere moderne Welt! Wo bleiben Verstand und menschliche Scheu?

  • am 22.12.2017 um 23:50 Uhr
    Permalink

    @Gérald Donzé
    Es geht nicht um die Frage, ob es auch Eigenverantwortung braucht. Natürlich braucht es sie!

    Es geht darum, weshalb man für die einen (die Dorfbewohner) einen Damm errrichtete und ein Alarmsystem einrichtete, für die anderen (die Wanderer) aber nur irreführende Warnschilder aufstellte (welche vor einem Bergsturz im hintersten Teil des Tales, aber nicht vor einem Murgang durch das ganze Tal warnten).

    Dass sich ein Murgang ereignen könnte, wurde offenbar vorausgesehen (sonst hätte man den Damm für Bondo nicht gebaut). Nun behaupten einige, es sei nicht zu erwarten gewesen, dass der Murgang direkt durch den Bergsturz ausgelöst werden könnte. Spielt dies überhaupt eine Rolle? Wäre denn ein Murgang, der nicht direkt nach dem Bergsturz erfolgt wäre, weniger gefährlich gewesen? Die Schlammmassen wären wohl kaum langsamer zu Tale geflossen, und sie wären für die Wanderer genauso überraschend gekommen.

  • am 30.12.2017 um 17:55 Uhr
    Permalink

    Zitat:
    "Stattdessen wartete die Staatsanwaltschaft das Gutachten der Experten ab, die zum Kreis der Verantwortlichen gehören, gegen die möglicherweise wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht Anklage erhoben werden muss."

    Wer den in sich geschlossenen Kreis erkannt hat, wird feststellen, dass es sich um weit mehr als einen Murgang handelt. Es geht um die 3. Gewalt einer Demokratie, die sich längst von der Demokratie gelöst hat und ein Eigenleben führt.

    Die Definition der Unabhängigkeit der Judikative lautet in der Verfassung:
    "Das Justizwesen organisiert sich selbst."

    Man nehme sich die Aussage des langjährigen Gerichtskorrespondenzen Markus Felber zu Herzen:
    https://www.infosperber.ch/Artikel/FreiheitRecht/Die-Justiz-liebt-das-Geheimnis

    Solange sich Medien nur darum kümmern wie weiss das Pepsodent-Lächeln einer Person der 1. und 2. Gewalt ist, wird man nur noch den Justizskandal abwarten können. Dann auf Experten zu verweisen wird das Gegenteil auslösen.

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