Kommentar
Kontertext: Europas dunkles Gewissen
Mein Freund aus Libyen entschuldigt sich zutiefst beschämt. Er schaut sich das Video an, das die NGO Sea Watch nach der Katastrophe vom 6. November, die sich 30 Kilometer vor der libyschen Küste ereignet hat, auf ihrer Homepage und auf YouTube veröffentlicht. Darauf ist zu sehen, wie durch das aggressive Vorgehen der libyschen Küstenwache mehrere junge Männer und ein Kleinkind während der Rettungsaktion ertrunken sind. (Infosperber berichtete darüber). Ich entschuldige mich umgehend ebenfalls – wird die libysche Küstenwache doch von der Europäischen Union mit millionenschweren Beträgen finanziert, ausgerüstet und ausgebildet. Eine erfolgreiche Kooperation von Kräften, die im Elend der Verfolgten und der Ärmsten ein grosses Business und denen, die in der Notlage der Verfolgten und Ärmsten eine fundamentale Bedrohung sehen.
«Die schmerzliche und unheilbare Erfahrung von Unsicherheit ist ein Nebeneffekt der Überzeugung, dass absolute Sicherheit möglich ist, wenn man nur über die entsprechenden Fähigkeiten verfügt und sich ausreichend anstrengt.» (Zygmunt Bauman)
Eine Woche darauf findet unter der Leitung von Justizministerin Simonetta Sommaruga das Treffen der Kontaktgruppe Mittelmeer in Bern statt. Eingeladen sind Minister und Ministerinnen aus Afrika und Europa, um über das Thema Migration zu diskutieren. Die Utopie der Runde für die Beseitigung von Fluchtursachen könnte man folgendermassen zusammenfassen: Libyen ist stabilisiert und befriedet, die Staaten in der Subsahara erleben einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Korruption und die Auswirkungen des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums sind bewältigt, multinationale Rohstoffkonzerne bezahlen Steuern, faire Löhne und sind um den Schutz ihrer ArbeiterInnen und der Umwelt besorgt, in der WTO werden ausgeglichene Handelsverträge abgeschlossen, die Waffenindustrie hat abgedankt, die postkolonialen Kriege sind beendet, die Schlepper üben anständige Berufe aus, die Flüchtenden kehren erleichtert und geläutert in ihre Herkunftsländer zurück, der Terrorismus gehört ebenso der Vergangenheit an wie die Forderung nach sicheren und legalen Wegen für Asylanträge, weil schlicht niemand mehr migrieren will, was konsequenterweise zu einem Niedergang aller rechtsextremen Parteien in Europa führt. (Warum werden eigentlich die Ursachen für den Aufstieg der Rechten in der Migration und nicht im Inneren der europäischen Befindlichkeit gesucht?)
Vor den Ohren der staunenden Zuhörerin entfaltet sich also ein schwindelerregendes Programm, das die Lösung (fast) aller aktuellen Probleme verspricht. Und Simonetta Sommaruga betont im WoZ-Interview vom 2.11.2017, man müsse die Sicherheitslage der Menschen auf den Fluchtrouten verbessern, sonst würde unsere Zeit demnächst als dunkles Kapitel in die Geschichte Europas eingehen. – Diese Zeit ist jedoch längst angebrochen, und das dunkle Kapitel kann nicht wirklich als dunkles bezeichnet werden, da ausnahmslos alle wissen, was Sache ist.
«Für Menschen, die ihres wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kapitals beraubt worden sind, kann es nur einen kollektiven Schutz geben oder gar keinen.» (Zygmunt Bauman)
Was spricht gegen dieses Programm, das sich so humanitär gibt? Einiges. Die genannten Fluchtursachen zu bekämpfen resp. eine globale Gerechtigkeit zu etablieren, ist seit Jahrhunderten nicht gelungen. War gar nie das Ziel oder die Absicht. Wenn nun aber, wider alle Erwartungen, die politischen Akteure diese Vorhaben tatsächlich anpacken würden, bräuchten solche Entwicklungen enorm viel Zeit, das geht ja nicht einfach so zack zack von heute auf morgen (vgl. das Gespräch mit dem Ökonomen Michael A. Clemens auf «spiegel online»). Geschlossene Grenzen lassen sich jedoch über so lange Zeit nicht aufrechterhalten. Und man kann die Menschen nicht auf den Fluchtrouten sterben lassen, bis sich die internationale Gemeinschaft dazu durchringt, eine Politik aufzugeben, die den Protektionismus, den Investitionsschutz und die Liberalisierung über alles stellt.
Das weiss vermutlich auch Simonetta Sommaruga. Und deshalb kündet sie Zwischenlösungen an. Zum Beispiel die Resettlementsprogramme. Die verwundbarsten Menschen, Frauen und Kinder sollen ausgewählt und ins sichere Europa geflogen werden. Die Schweiz will gerademal 500 Menschen aufnehmen! Und auch das nicht ohne Bedingungen. Die Ausgewählten müssen noch vor Ort zu einem Interview erscheinen. Bestehen sie diesen Test, besuchen sie Kurse, damit sie informiert über ihr zukünftiges Leben in der Schweiz ankommen. Was auf der Website der IOM offensichtlich gut gemeint daherkommt, erscheint in der Realität von Krieg und griechischen oder libyschen Lagern als unfassbarer Zynismus – oder gar Grausamkeit. Die Prämissen sehen vor, die Schwächsten und Verwundbarsten zu Vorstellungsgesprächen einzuladen, damit sie sich für einen sicheren Platz bewerben können. Dieses Verfahren zeugt auch von einem grenzenlosen Ego(Euro-)zentrismus. Und wer weiss, wie es zum Beispiel nur schon in griechischen Lagern ausschaut, und sich vorstellt, dass da jemand mit Flipchart und Moderationskoffer über Grüezi und uf Wiiderseh aufklärt, muss entweder lachen oder weinen. Und: Wer wählt eigentlich aus? Nach welchen Kriterien? Wer wird eine solche Auswahl überhaupt treffen wollen? Mal abgesehen davon, dass ein solches Verfahren eine schwere Verletzung der Genfer Konvention darstellt.
Die Zahl der Verwundbarsten ist begrenzt. Also stecken wir den Rest in Lager. Und damit uns diese Zustände nicht zu sehr die Laune verderben, weiten wir die EU Zone bis an die Südgrenzen von Niger und Mali aus, innerhalb derer man immer mehr staaten- und rechtlose (vogelfreie?) Menschen, in sogenannten Schutzlagern oder Schutzzonen zwischenlagern kann; ein Zwischen, das sich nicht selten zum Immer wandelt. Der Kontrolle über das eigene Leben weitgehend enthoben, sind die Betroffenen den Launen der administrativen, politischen oder auch kriminellen Akteure völlig ausgeliefert, ihr Leben dreht sich in einer nicht absehbaren Warteschlaufe. Damit das nicht allzu schlimme Folgen hat – und folglich das Gewissen entlastet ist – sollen solche Schutzlager oder Schutzzonen unter die Kontrolle der internationalen Gemeinschaft kommen, damit Menschenrechte und ein Mindeststandart an Infrastruktur garantiert sind.
«Die Staatsmänner der Europäischen Union verwenden einen Grossteil ihrer Zeit und Hirnkapazität darauf, immer ausgefeiltere Mechanismen zur Grenzsicherung zu entwerfen sowie zweckdienlichste Verfahren zu ersinnen, mit deren Hilfe man diejenigen wieder los wird, denen es auf der Suche nach Nahrung trotzdem gelungen ist, die Grenzen zu überwinden.» (Zygmunt Bauman)
In seinem Buch «Flüchtige Zeiten», aus dem die Zitate in diesem Beitrag stammen, zitiert Zygmunt Bauman Naomi Klein, die auf den Punkt bringt, was sich hinter den Lippenbekenntnissen der EU und der Schweiz verbirgt: «Ein Festungskontinent ist ein Block aus Staaten, die sich verbünden, um gegenüber anderen Ländern vorteilhafte Handelsvereinbarungen durchzusetzen, und zugleich die gemeinsamen Aussengrenzen streng kontrollieren, um Menschen aus jenen Ländern an der Einreise zu hindern. Wenn es einem Kontinent jedoch ernst ist mit seinem Festungscharakter, dann muss er innerhalb seiner Mauern auch ein oder zwei ärmere Länder aufnehmen, denn irgendjemand muss ja schliesslich die Drecksarbeit machen und die schweren Lasten tragen.»
Also nicht nur Italien und Griechenland sind für die in der Dublingesetzgebung vorgesehene Drecksarbeit abkommandiert. Durch die Erweiterung der europäischen Grenzen bis hin zum Äquator sind nun auch die nordafrikanischen Staaten und die subsaharischen Länder zuständig für «Schutzzonen für potentielle Asylbewerber», wie Bauman sie nennt, «die möglichst heimatnah eingerichtet werden sollen, also in sicherer Entfernung von den reichen Staaten, die vor nicht allzu langer Zeit noch ihre bevorzugten Ziele waren.» (vgl. dazu «spiegel online» vom 6.9.2017)
Ausgehend von der These, dass in den Gesellschaften der reichen Länder das solidarische Handeln und das Bewusstsein der sozialen Verantwortung sowohl im Leben der Individuen wie auch auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene, an Bedeutung verliert, entwirft Zygmunt Bauman das Bild einer Zukunft, in der man alle Menschen, die durchs soziale Netz fallen, die hilfebedürftig, andersartig und nicht weiterhin ökonomisch verwertbar sind, ausscheidet und der Exklusion aussetzt. Man operiert sie aus dem Gesellschaftskörper, bringt sie in Ghettos, in Lager oder Zonen, wo sie für die Gemeinschaft unsichtbar, unhörbar und geruchsneutral sind und niemanden stören. Und so stellt Bauman die vermutlich berechtigte Frage, «inwieweit man Flüchtlingslager als Laboratorien betrachten kann, in denen die neue, dauerhaft provisorische Lebensform der flüchtigen Moderne getestet und erprobt wird.»
Das würde bedeuten, dass die Ausschaffung und Isolierung von MigrantInnen als soziale und politische Praxis letztendlich ununterscheidbar auf jeden Menschen auf diesem Planeten angewendet werden kann. Dazu Hannah Arendt: «Es liegt in der Natur menschlicher Angelegenheiten, dass, ist eine Tat erst einmal in Erscheinung getreten und in der Geschichte der Menschheit verzeichnet worden, sie potentiell in der Menschheit fortbestehen bleibt.» («Eichman in Jerusalem»)
So scheint es mir, als sässen wir alle zu jeder Zeit und an jedem Ort in sinkenden Booten, in grausamen Lagern, in der tödlichen Wüste, so lange wie wir akzeptieren, dass wir die Boote sinken, die Menschen in den Lagern sterben, in der Wüste verdursten und erfrieren und in extra für sie eingerichteten Schutzzonen ihr Leben in völliger Ungewissheit und Ausgeliefertheit fristen lassen.
Wer die Flüchtenden und Reisenden auch sind, woher sie kommen und um wie viele es sich handelt: Es sind Menschen, die in den Körper der Gemeinschaft gehören. Die Milliarden von Euro, die bereits in die Grenzsicherung geflossen sind, hätte man für gegenseitige Inklusion verwenden müssen. Der malische Minister Abdramane Sylla nimmt denn auch kein Blatt vor den Mund: «Wer weniger Tote will», wird er in der WoZ vom 16.11.2017 zitiert, «muss mehr Visa ausstellen.»
«Wenn wir gerettet werden, fühlen wir uns gedemütigt, und wenn man uns hilft, fühlen wir uns erniedrigt.» (Hannah Arend: «Wir Flüchtlinge»)
Geradezu symptomatisch unerwähnt bleibt die zentrale Frage nach der Bewegungsfreiheit: Wer bestimmt eigentlich, wer reisen darf und wer nicht? Haben die Bewohnerinnen der reichen Länder eine Krise oder sind sie gelangweilt oder wollen sie sich erholen oder bilden, den Horizont erweitern, sich beruflich und persönlich entwickeln, studieren oder schlicht nur verlieben und amüsieren, buchen sie im Internet einen Flug, im Extremfall beantragen sie bei der Botschaft des Ziellandes ein Visum.
Den wirtschaftlichen Akteuren wiederum bieten Freihandelsabkommen globale Niederlassungsfreiheit und einen totalen Investitionsschutz.
Aber was, wenn man zum Beispiel in Tunesien wohnt? Ohne Visum dürfen TunesierInnen gerade mal, was Europa betrifft, nach Serbien reisen. Und ohne Einladung sind Visa für Europa schlicht unerreichbar. Einer meiner tunesischen Bekannten hat mir folgendes Gedankenspiel vorgeschlagen: Stell dir vor, du bist ein normaler junger Mensch, im Internet mit der Welt verbunden, umringt von TouristInnen, du bist lebenshungrig, aufgeweckt, neugierig, vielleicht auch ehrgeizig, du stehst am Strand, schaust aufs Meer Richtung Italien und fragst dich: Warum darf ausgerechnet ICH da nicht hin? Warum dürfen die da drüben jedoch überall hin?
In Tunesien nehmen viele junge Menschen diese Art der globalen Ungerechtigkeit nicht mehr hin. Mit dem Boot nach Europa zu fahren, ist nicht nur migrantische Notwehr, es handelt sich auch um einen Akt des zivilen Widerstands, der besagen will: Wir haben genug. Wir akzeptieren diese Ungleichbehandlung nicht. Was für Jugendliche in Europa die unbewilligte Demo, der Farbbeutel und das Occupy-Zelt, ist für viele Jugendliche in Tunesien das Boot.
Mein libyscher Freund, der in einem isolierten, weil abgelegenen, weitgehend unerreichbaren Bundeszentrum in den Schweizer Bergen auf seinen Entscheid wartet und der hin und zurück fünf Stunden laufen muss, damit wir im Dorf einen Kaffee trinken können, rührt in seinem Cappuccino: «Eines Tages trifft es vielleicht auch euch.» «Das will hier niemand hören», antworte ich. Und er schüttelt konsterniert den Kopf: «Thats Creazy! Thats so unbelievable Creazy!»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Johanna Lier ist Schriftstellerin und Journalistin. Veröffentlichung von Gedichtbänden, Romanen und Theaterstücken. Tätigkeit bei der «WoZ», aber auch in der «NZZ». Längere Aufenthalte u.a. in Iran, Nigeria, Israel, Argentinien und Ukraine. Lehrtätigkeit an der Hochschule für Kunst und Design in Luzern. Kämpft als Aktivistin bei Watch the Med - Alarmphone für sichere und legale Migrationswege.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
Die Aktivitäten der Kontaktgruppe liegen im Wesentlichen auf der Linie, die auch hinter der massiven Einschränkung der Flüchtlingsrechte in der Asylrechtsreform stand. Zum Glück gibt es Stimmen wie die Ihre und die von Anna Jikhareva.
Die Schilderung der Lage ist treffend, und sie zeichnet kein schönes Bild. Aber wie könnte eine bessere Migrationspolitik aussehen, die irgendwo in Westeuropa auch nur den Hauch einer Chance auf Realisierung hätte?