Kommentar

Selbstbestimmung erkämpft – nicht «erlaubt»

Niklaus Ramseyer ©

Niklaus Ramseyer /  Selbstbestimmung von unten schützt vor Fremdbestimmung von oben. Sie wird erkämpft, nicht «erlaubt».

DUPLIK VON NIKLAUS RAMSEYER

In seiner Replik «Selbstbestimmungsrecht nicht verabsolutieren» wirft mir Jürg Müller-Muralt vor, meine Analyse unter dem Titel «Machthaber missachten Selbstbestimmungsrecht» sei «historisch fragwürdig, juristisch falsch und politisch unklug». Zudem hätte ich «ein eigenartiges Medienverständnis» – und den früheren US-Präsidenten Woodrow Wilson «hochgelobt». Müller behauptet, selbstbestimmte Sezession sei «grundsätzlich nicht erlaubt». Schliesslich versucht er mich als Witzbold hinzustellen, indem er schreibt, die selbstbestimmte Abspaltung der ersten drei Urschweizer Orte von Österreich ab 1291 habe «nichts aber auch gar nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu tun». Was ich da ausführe sei «ein kleines Witzlein».
1. Zum «Witzlein»: Nein, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht geht, ist mir ebenso wenig zum Scherzen zu mute, wie den mutigen Peschmerga-Kommandantinnen in Kurdistan, oder furchtlosen Jugendlichen im illegal besetzten Palästina.
2. Zur «fragwürdigen, unhistorischen Betrachtungsweise» konkret: Fest steht, dass die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden ab 1291 (Rütlischwur – ja ja, ein Mythos) die strategischen Zugänge in die Geländekammern ihres Territoriums vom Brünig bis an den Urnersee mit Letzi-Sperren (kein Mythos) systematisch befestigt haben. Warum wohl? Fest steht auch, dass die Habsburger im Herbst 1315 im Aargau eine Kampftruppe unter dem Kommando eines Herzogs Lüpold mit 2000 Kavalleristen und 7000 Mann Fussvolk zusammenzogen, die dann Richtung Schwyz marschierten. Dort wurden sie am Ägerisee (Morgarten, schon wieder Mythos) am 15. November von den urschweizer Infanteristen der drei Orte vernichtend geschlagen. Und schon am darauffolgenden 12. Dezember einigten sich die drei siegreichen Stände durchaus «selbstbestimmt» (jedenfalls ohne «Erlaubnis» von der Habsburg herunter) auf einen neuen «Bundesbrief» (kein Mythos, kein Witz), in welchem sich diese «Eidgenozen» (erstmals in Deutsch, der Sprache des Volks – und nicht im Latein der damaligen Herrschaften!) gegenseitige Hilfe gegen Angreifer und Unterstützung gegen Unterdrücker (Vögte) zusagten. Schon im Sommer 1318 folgte ein Waffenstillstand mit den Habsburgern. Und das soll alles «unhistorisch» sein, und nichts mit Selbstbestimmung zu tun haben?
3. Zur «nicht erlaubten» Sezession: Da unterliegt Müller einem fatalen Grundlagenirrtum. Selbstbestimmungsrecht, Selbstverwaltung, Autonomie wurde und wird den Völkern kaum je von oben «erlaubt». Sie erkämpfen sich dies meist in langwierigen Prozessen von unten gegen lokale oder koloniale Machthaber. Dabei «bestimmen» diese Völker «vor Ort» stets auch gleich «selbst», wer sie sind und wo – ohne auf Definitionen oder gar Erlaubnis irgendwelcher Juristen zu warten. Genauso die alten Eidgenossen: Deren vernichtender Erfolg gegen Lüpolds weit überlegene Armee lag 1315 mitunter darin begründet, dass bewaffneter Widerstand gegen noch so brutale Besatzungstruppen damals dem gewöhnlichen «Volk» eigentlich «nicht erlaubt» war. Die Eidgenossen foutierten sich darum ­– sie überraschten und überrumpelten die feindlichen Reiterverbände im starken Gelände am Ägerisee dadurch total. Und ihr Beispiel machte Schule: Die selbstbewussten Innerschweizer zählten schon 8 Stände, als sie den Österreichern 1474 einen veritablen Selbstbestimmungsvertrag abgerungen hatten («Ewige Richtung», kein Witzlein). Dass derlei Selbstbestimmung nun endlich auch als Völkerrecht verbrieft ist, stellt einen enormen Fortschritt dar. Was soll daran «juristisch falsch» sein?
4. Den früheren US-Präsidenten Wilson habe ich nirgends «hochgelobt», das tat seinerzeit das Nobelpreis-Komitee.
5. In punkto «Medienverständnis» und Medienkritik brauche ich keine Belehrung. Wer mir «stramme Haltung und warmen Applaus» für «politische Gremien» unterstellt, der kennt mich nicht. Der genannte Befund trifft indes oft für die in Brüssel «eingebetteten» EU-Korrespondenten zu.
6. Müller, der (wie auch sein im Chor mit ihm kommentierender Parteigenosse Rolf Zimmermann) politisch irgendwo rechts in der SP anzusiedeln ist, warnt mich, mein Kommentar sei «politisch unklug». Das ist interessant. Noch bis 2010 stand nämlich im Programm der SPS: «Jedes Volk hat das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung.» Und: «Selbstverwaltung ist ein grundlegendes Prinzip, eine Grundhaltung.» Das bedeute nämlich «Dezentralisierung der Macht». Im neuen SP-Programm gibt es das Kapitel «Selbstverwaltung» nicht mehr. Dafür fordert die Partei nun «rasche Einleitung von Beitrittsverhandlungen mit der EU». Dazu müssten Demokratie und Föderalismus hierzulande «so reformiert werden, dass es der Schweiz möglich wird, die EU mit zu regieren». Weniger Selbstbestimmung daheim von unten also, dafür mehr Fremdbestimmung aus der Machtzentrale Brüssel – um dort auch etwas «mitregieren» zu können? Beides geht jedenfalls nicht gleichzeitig. Die schäbige Nicht-Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (nach Vorgabe und «Erlaubnis» der EU) in den Eidgenössischen Räten hat dies eindrücklich gezeigt. Wie «politisch klug» die Abkehr der SP und Müllers vom Grundsatz der Selbstbestimmung (im Gegensatz zu meinem «unklugen» beharren darauf) sein könnte, ist schwer zu sagen. Fest steht hingegen, dass gemäss neusten ETH-Forschungen keine 10% der Schweizer Stimmberechtigten zusammen mit der SP «die EU mitregieren» möchten – zum Preis vermehrter Fremdbestimmung aus Brüssel schon gar nicht. Die übrigen gut 90% bevorzugen mit mir zusammen die solide Selbstbestimmung in unserer direkten Demokratie.
7. Fazit: Der Autor hält an seiner Darstellung fest – und weist Müllers Kritik als unbegründet vollumfänglich ab.


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3 Meinungen

  • am 14.11.2017 um 11:53 Uhr
    Permalink

    Darf ich als unbeteiligter Dritter bei dieser im Katalanien-Zeitalter wichtigen Debatte meinen Senf auch noch dazu geben, und das ganz klar zugunsten des Autors?

    Er schreibt «Selbstbestimmung von unten schützt vor Fremdbestimmung von oben. Sie wird erkämpft, nicht ‹erlaubt›.» Treffender geht es gar nicht mehr. Danke.

    Ich wundere mich immer wieder über das Grundverständnis von ‹Politik› in dieser Schweizer ‹direkten Demokratie›.
    – Ich erlebe dieser Schweiz nicht wirklich als demokratisch.
    – Und ich erlebe uns Schweizer*Innen grossmehrheitlich als Analfabeten, wenn es um echte Demokratie in einer ‹freiheitlichen + solidarischen + rechtsstaatlichen Gesellschaft geht. Da hat uns die deutsche Zivilgesellschaft inzwischen in Vielem überholt.

  • am 15.11.2017 um 10:12 Uhr
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    Guten Tag, ich habe mich bereits über den Artikel von Herrn Müller im Infosperber gewundert. Vergleiche ich das Zusammengehen in einem Staat mit einer Ehe, so kann man sich doch heute (ohne einander die Köpfe einzuschlagen) auch scheiden lassen, oder etwa nicht? Besten Dank für die Richtigstellung.

  • am 15.11.2017 um 10:54 Uhr
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    Das Problem:
    – Bei Scheidungen im Paar gehen dann die beiden Erwachsenen (und ihre Kinder) getrennte Wege: Schlimm genug bei dieser Häufung + richtig schlimm für die Kinder.
    – Bei Scheidungen in der Gesellschaft gehen dann ganze Regionen (Katalanien) eigene Wege + es betrifft womöglich Millionen von Menschen.
    — Da lohnen sich demokratische Spielregeln im gemeinsamen Staat + für Zugänge + Abgänge. Die Alternative heisst ‹Bürgerkrieg›.
    — Da lohnt sich die demokratische Grundhaltung dann auch, welche nicht nur bei schönem Wetter tragen, sondern eben auch bei unterschiedlichen Vorstellungen für die Zukunft.

    Und für die Selbstbestimmung gilt dann halt (Zutat): «Selbstbestimmung von unten schützt vor Fremdbestimmung von oben. Sie wird erkämpft, nicht ‹erlaubt›.». Super.

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