Kommentar

Machthaber missachten Selbstbestimmungsrecht

Niklaus Ramseyer ©

Niklaus Ramseyer /  Die UNO sollte das demokratische «Selbstbestimmungsrecht der Völker» fördern. Doch es wird zusehends missachtet und angegriffen.

cm. Das Thema Selbstbestimmungsrecht wird kontrovers diskutiert, weil die UNO den Begriff «Volk» («people») nicht näher definiert und weil es keine Instanz gibt, die legitimiert ist, aufzuzeigen, wo genau die Grenzen eines «Volkes» verlaufen. Wie jeder Kommentar gibt auch der hier folgende die Ansicht des Autors wieder. Infosperber wird auf das Thema zurückkommen und einige Fälle, zum Beispiel den Wechsel des Saarlandes von Frankreich zu Deutschland im Jahr 1955, die Forderung Schottlands nach Abtrennung von England, aber auch die sogenannte Annexion der Krim durch Russland unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung – des «right of self-determination» – näher beleuchten.

Wo Demokratie über simple Wahlen hinaus konkret wird, hat sie immer häufiger einen schweren Stand:

  • Die Briten etwa haben genug von der EU – sie entscheiden sich demokratisch für den Brexit, den EU-Austritt. Und werden postwendend mit hämischen bis bösartigen Kommentaren konfrontiert (auch in sonst der Demokratie verpflichteten Medien).
  • Die Kurden und Kurdinnen schlagen sich im Krieg gegen den grässlichen Terror-IS mutig und erfolgreich. Dann entscheiden sie friedlich und demokratisch, sie möchten in Kurdistan nun ihre Geschicke selber in die Hand nehmen. Und schon drohen ihnen (sonst sich demokratisch gebärdende) grosse Medien mit bösen «Konsequenzen». Prompt schickt ein prekäres Regime (von US-Gnaden) in Bagdad seine Panzer los und schlägt die zaghaften Demokratieversuche der Kurden gewaltsam nieder.
  • Zuerst will Spaniens Zentralregierung einen demokratischen Entscheid der Katalonen verhindern, bei dem es darum ging, ob sie ihre Geschicke selber in die Hand nehmen wollen. Dann antwortet sie mit Schützenpanzern und bewaffneter Polizei, statt mit Vernunft und Dialog. Doch sogar in der doch direkt-demokratischen Schweiz klatschen Kommentatoren Madrid dazu Beifall. Man reibt sich die Augen.

«Selbstbestimmung fördern und achten»

Diese (teils deutschen) Kommentatoren verteidigen nicht nur Verhinderer der direkten Demokratie. Sie schreiben auch noch unverdrossen und unbedarft gegen zwingend verbrieftes Recht an – gegen das «Selbstbestimmungsrecht der Völker».
Seit 1977 steht es so in der UNO-Charta: «Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.» Dieses Recht erlaube ihnen «frei über ihren politischen Status zu entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturellen Entwicklung zu gestalten».

Zudem kann man da lesen: «Alle Völker können für ihre Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen.» Und dies «unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen.» Mehr noch: «Die Vertragsstaaten … haben entsprechend der UNO-Charta die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.»
Dieses «Selbstbestimmungsrecht» ist ein universelles Recht höherer Bedeutung (ius cogens). Eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf. Verträge die gegen eine solche Norm verstossen, sind ungültig.

Selbstbestimmung meint Demokratie

Entstanden ist diese Grundregel des Menschen- und Völkerrechts bereits 100 Jahre vor ihrer Niederschrift in der UNO-Charta: Schon Mitte des 19. Jahrhunderts beriefen sich bürgerliche Bewegungen gegen willkürliche Monarchien und autoritäre Kirchen in ganz Europa auf das Selbstbestimmungsrecht. Noch früher war dieses Recht von unten in der Französischen Revolution aber auch im Unabhängigkeitskrieg der US-Amerikaner gegen die Briten als Entscheidungsrecht des Volkes gegen die Ansprüche feudaler Erb-Herrscher konkret formuliert worden. Grundsätzlich bedingen sich Selbstbestimmungsrecht und Demokratie gegenseitig: Es ist ja ein Recht «der Völker» und nicht ihrer Herrscher und Machthaber.

Russen und Amerikaner gemeinsam

Nachdem Europas feudale Gewaltherrscher (von Gottes Gnaden) den grässlichen Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) entfesselt und sich damit auch selber erledigt hatten, gewann das demokratische Selbstbestimmungsrecht erst recht an Bedeutung. Lenin berief sich gegen deutsche Gebietsansprüche darauf. Und schon 1915 hatte Leo Trotzki in Zimmerwald bei Bern festgehalten: «Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein.»

Unterstützung bekamen die beiden Kommunisten von unerwarteter Seite: Dass «die Welt sicher werde für jede friedliche Nation, welche – wie die unsere – ihr eigenes Leben leben, und über ihre Institutionen selber zu entscheiden wünscht», forderte in seiner Grundsatzrede über einen 14-Punkte-Friedensplan am 8. Januar 1918 vor dem Kongress in Washington kein Geringerer, als der damalige US-Präsident Woodrow Wilson. Sein Plan hatte zum Ziel, dass sich alle Besatzungstruppen zurückziehen – und die Völker Europas ihr Selbstbestimmungsrecht endlich wahrnehmen sollten.

Für Kosovo sofort – für Palästina nie?

Könnten Trotzki und Wilson (der für seinen Friedensplan mit dem Nobelpreis geehrt wurde) heute sehen, was aus ihren vernünftigen Vorschlägen 100 Jahre später geworden ist, würden sie sich wohl wundern und ärgern: Statt «gefördert und geachtet» (wie es für jedes UNO-Mitglied Pflicht wäre) wird das Selbstbestimmungsrecht immer mehr verdrängt und missachtet.
Oder (noch schlimmer) völlig willkürlich missbraucht: Dem Kleinstaat Kosovo wurde dieses Recht sofort zugestanden. Dies vor allem auch darum, weil die US-Armee dort ihre überdimensionierte Militärbasis Bondsteel eingerichtet hat. Und die Europäer (leider sogar auch die «neutrale» Schweiz) liefen den US-Besatzern hinterher und spielen dieses willkürliche Spielchen mit.

Ganz anders steht es derweil nämlich um das Selbstbestimmungsrecht in manchen Gegenden, wo dieses Prinzip sehr viel zur Konfliktlösung beitragen könnte: In Kurdistan oder in Palästina etwa. Aber auch in Tibet oder in Tschetschenien und in der Westsahara. Da verhindern teils brutale Besatzungsmächte jegliche Abstimmung.
Mehr noch: Die Türkei und Israel etwa verstossen mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerungen permanent gegen folgenden zentralen Passus des Selbstbestimmungsrechts in der UNO-Charta: «In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.»

Hunderte Bewegungen weltweit

Mit Panzern und mit der Zerstörung von Wohnhäusern oder ganzer Dörfer wird sich im Informationszeitalter der Wille nach Selbstbestimmung jedoch kaum aufhalten lassen: Gemäss der neusten «NZZ am Sonntag» registriert das Zentrum für Demokratie in Aarau eine «zunehmende Verbreitung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung» weltweit. Seit das Volk von Massachusetts 1776 in einer Abstimmung auf sein Selbstbestimmungsrecht pochte, hat das Aarauer Zentrum 620 solche Bewegungen aufgelistet.

Darin ist der Entscheid der Urschweizer von 1291 sich von Österreich autonom loszusagen, noch nicht einmal eingerechnet. Allein in Europa gab und gibt es rund 250 Selbstbestimmungs-Bewegungen – aktuell von Katalonien über das Baskenland und Schottland bis nach Flandern und in die Lombardei. Auf dem französisch besetzten Korsika sowieso. Auf Sardinien will eine Bürger-Bewegung gar weg von Italien – um sich als autonomer Kanton der Schweiz anzuschliessen.

Faust- statt Völkerrecht

Gegen diese Bewegungen der Selbstbestimmung von unten argumentieren Juristen von oben gerne wie folgt: Die UNO garantiere eben auch die «Integrität der Staatsterritorien». Und «die Einheit» der ihr angehörenden Nationen.
Diese Garantie hat den Menschen in den gewalttätig mit modernster Waffengewalt zerstörten Staaten Afghanistan, Irak oder Libyen indes wenig genützt. Dort herrscht jetzte das Faust- statt das Völkerrecht.

Der Staat Bern hat sich auch nicht auf den Schutz seiner Integrität berufen können und wollen, als die Républic du Jura (selbstbestimmt) und das Laufental (Kantonswechsel zu Basel Land) sich weitgehend friedlich von ihm abgespalten haben.

Rechte und Linke gegen Selbstbestimmung

Spaniens Zentralregierung hätte gerade von diesem Fall einiges lernen können. Doch sie will mit den Katalanen nicht mal reden – geschweige denn, sich in Bern und Delémont erkundigen, wie man es machen könnte. Lieber lässt sie gleich die Polizei-Panzer rollen. Und schickt «Verwalter» nach Barcelona, welche die gewählten Behörden Kataloniens gerichtlich verfolgen und einkerkern sollen – wegen einer demokratischen Abstimmung.

Doch von linken und rechten Eliten quer durch Europa (und aus Brüssel) bekommt Madrid für diesen Rückfall in düstere Zeiten Schützenhilfe: Von rechts, weil man hier an möglichst grossen deregulierten (und ja nicht direkt demokratisch kontrollierten!) «Wirtschaftsräumen» interessiert ist. Und von links, weil da stets die komische Angst umgeht, Selbstbestimmung könnte die EU schwächen – und «Nationalisten» in die Hände spielen. Wer Selbstbestimmung und Selbstverwaltung (Prinzipien, welche vorab die SPS bis vor kurzem noch stets hoch hielt) fordert und verteidigt, wird von links inzwischen rasch als Isolationist oder gar als Nationalist runtergemacht. Aber die (linken) Katalanen blicken in den Kosovo oder in den Jura – und wundern sich.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • Portrait_Christoph_Pfluger_18
    am 6.11.2017 um 12:04 Uhr
    Permalink

    Es ist positiv, wenn wieder einmal auf das bedrohte Selbstbestimmungsrecht der Völker aufmerksam gemacht wird, auch es es nicht eindeutig ist. Unmissverständlich, aber noch mehr in Vergessenheit geraten ist das Verbot von Art. 2 der UNO-Charta, Gewalt anzuwenden und anzudrohen (!). Wie zuletzt Trump an der Generalversammlung der UNO gegen die Charta verstossen hat, zu der sich sein Land verpflichtet hat, ist unerträglich. Und das Schweigen der Politiker und Medien ebenso.

  • Pingback: Im Jura blüht das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf - infosperber,

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