Kommentar

«Der brave Herr Schulz» kann nicht Kanzler

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Jürgmeier /  «Die braven Jungs kommen vielleicht in den Himmel…» (Augstein), aber: «Mit Bravheit ist noch keiner Kanzler geworden» (Eigenmann).

Es ist schon viel über den Einheitsbrei geschrieben worden, den Tamedia mit insgesamt zwölf Schweizer Zeitungen von Tagesanzeiger bis Bund, Landbote bis 24 heures köchelt. Aber wer hätte gedacht, dass der deutsche Spiegel das Grundrezept für diese mediale Delikatesse liefert? Unter dem Titel «Der brave Herr Schulz» geht die Kolumne von Jakob Augstein am Montag, 4. September 2017, 14.49h, auf Spiegel online. Ab 19.45h ist auf der Website des Tagesanzeigers die Analyse des deutschen «TV-Duells» von Dominique Eigenmann aus Berlin zu lesen. Überschrift: «Der brave Herr Schulz».

Nun wollen wir nicht wie argwöhnische Lehrpersonen unterstellen, der zweite habe dem ersten einfach abgeschrieben, zumal der Frühaufsteher Peter Voegeli auf SRF online schon um 06.35h – rund zehn Stunden nach dem von mindestens vier TV-Stationen ausgestrahlten «Duett zweier grundlegend grosskoalitionär gestimmter Mitte-Politiker» (Eigenmann) – mit dem Titel «Martin Schulz fehlte es an Angriffslust» vorgelegt hat. Schliesslich hat schon Peter Bichsel in seinem «Erfinder» die Möglichkeit zur Erzählung gemacht, dass einer den Fernseher noch einmal entwirft, weil er, abseits der grossen Städte und Satellitenschüsseln lebend, noch nie so ein Gerät gesehen hat. Und Kurt Gloors «Erfinder» – dessen Vorbild in einem Theaterstück von Hansjörg Schneider aufgetreten ist – baut in einem Zürcher Oberländer Kaff vermeintlich erstmals ein Raupenfahrzeug, das ihm in einer Kinowochenschau als bereits eingesetzter Panzer auf den eitlen Magen schlägt.

Bemerkenswerter als Einheitsbrei und Abschreibgerücht ist, dass das Duo Augstein & Eigenmann (gesanglich unterstützt von Voegeli) – das im Kanon mäkelt, der Kanzlerkandidat habe sich mit dem «alten Schlachtross» (Spiegel) kein Duell geliefert, sondern im Duett mit Merkel gesäuselt – das Hohelied des starken Mannes anstimmt. Als wünschte es sich, Schulz wäre bei ErdoganPutinTrump in die Lehre gegangen.

Kritik offenbart immer auch Sehnsüchte. Zum Beispiel, dass Schulz «im Studio und im Land Lärm macht», die offensichtlich schlafenden Wählerinnen und «Wähler weckt» und «Mut macht, wo Furcht ist» (Augstein). Da wird der womöglich verbreitete Wunsch nach der Beruhigungspille Politik sichtbar, die das grosse «Fürchtet euch nicht» intoniert, die uns die Hand hält, wenn wir es mit der Angst zu tun bekommen, und uns einfache Lösungen anbietet, wenn wir angesichts der Komplexität der Verhältnisse nicht mehr wissen, wo oben, wo unten ist und in Ohnmacht erstarren. «Im TV-Duell fiel Schulz‘ Maske», deckt Eigenmann auf und beklagt, mit Begleitstimme, die fehlende, aber «notwendige Rücksichtslosigkeit» (Voegeli), die es dem Kandidaten ermöglicht hätte «ungeniert zu behaupten, er würde alles besser machen als die altgediente Kanzlerin» (Eigenmann). So wie der Trumpel es vorgemacht hat.

Die Journalisten unterstellen (uns) Wählerinnen und Wähler, wir würden Demokratie predigen, aber Diktatoren wählen. So wie Brecht in seiner «Dreigroschenoper» der Polly in den Mund legt, was Männer, die sich für anständige Frauenversteher halten, «den Emanzen» gerne zuschreiben – am Ende würden sie nicht ihnen, sondern irgendeinem dahergelaufenen Macho schöne Augen machen. «Und wenn er weiss, was sich bei einer Dame schickt // Dann sage ich ihm ‹Nein›», schreibt der Dichter seiner Figur vor. Und lässt dann einen kommen, «der mich nicht bat», der «nicht nett war // Und sein Kragen war auch am Sonntag nicht rein // Und als er nicht wusste, was sich bei einer Dame schickt // … Da behielt ich meinen Kopf nicht oben // Und ich blieb nicht allgemein … // Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen // Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein … // Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.» Schreibt der Mann der Frau auf den Leib.

Um gewählt zu werden, so die These des Trios AugsteinEigenmannVoegeli, müsse einer oder eine grosse Töne spucken, versprechen, mit ihm oder ihr werde (endlich) alles anders und gut. Hinterher aber werfen (wir) Bürgerinnen «den Politikern» mangelnde Glaubwürdigkeit und Lüge vor, weil der grosse Wurf sich als das Blaue vom Himmel erweist. Weil in einer Demokratie (leider und zum Glück) keine und keiner die Macht bekommt, die Welt in seine (oder unsere) Welt zu verwandeln. Allerdings, die Macht, über die Lebensbedingungen von vielen (mit) zu bestimmen und auch schon mal den Tod von einzelnen (mit) zu verantworten, soviel Macht bekommt die Frau oder der Mann im deutschen Kanzleramt dann doch. Denn er ist kein Hinz oder Schulz mehr. Die Wahl versetzt einen oder eine von uns in Amt und Würden. Die Kandidatin mag uns im Bierzelt noch umarmt, der Kandidat mit uns über den neusten Roman von Sibylle Berg geplaudert haben – wer den Amtseid ablegt, verwandelt sich in einen einsamen Menschen mit Macht.

Davor habe «der brave Herr Schulz» – und das ist mehr Metapher als Beschreibung des real existierenden Kanzlerkandidaten und ehemaligen Präsidenten des Europaparlaments – Angst. Orakeln die drei Musketiere. Kein «Mann, der Kanzler werden will», kritisiert Jakob Augstein. «Beisshemmung», diagnostiziert Peter Voegeli. Im TV-Duell habe sich gezeigt, «dass es ihm auch an Machtwillen fehlt», schreibt Dominique Eigenmann ins Zeugnis des Kandidaten. Sportreporterinnen oder -reporter würden mangelnden «Killerinstinkt» anmahnen. Nur, wer angesichts des Grabens zwischen Anspruch und Möglichkeit nicht zurückschreckt; wer vor der Tür zu den Zentren der Macht nicht zögert, wer kein «braver Mann», keine mehr von uns ist, dem oder der sollten jene, die demokratische Visionen haben, die Macht nicht leihen. «Der brave Herr Schulz» kann nicht Kanzler. Das ist ein schlechtes Zeichen für den Zustand der Republik.

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4 Meinungen

  • am 10.09.2017 um 12:08 Uhr
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    Den Kommentatoren ist es natürlich lieber, wenn sich die Gladiatoren zerfleischen, als wenn sie sich umarmen. Ist doch eh egal, wer unter dem herrschenden System Kanzlerin ist. Da Angela Merkel sowieso die bessere Sozialdemokratin ist, braucht es die SPD gar nicht, oder eben höchstens als Anhängsel in der grossen Koalition. Als Alternative wären da noch Typen wie Trump, Putin, Erdogan, Orban, Kasczinksi usw. Alle «demokratisch» gewählt, wie übrigens auch Hitler. Welches menschliche Wesen geht da noch an die Urne? Ich nicht.

  • am 10.09.2017 um 12:09 Uhr
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    Schulz ist nicht brav, sondern erschreckend gedankenlos-uninformiert-egoistisch: Er frisst foie Gras (Stopfleber). Das das ein schreckliches Tierqualprodukt ist, weiss nun jeder, nur Schulz nicht? Von brav keine Rede.

  • am 10.09.2017 um 12:52 Uhr
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    Danke, Herr Kessler, endlich mal ein sachlicher Beitrag zu den deutschen Wahlen!

  • am 11.09.2017 um 18:36 Uhr
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    Das «Kanzler Duell» wird sehr treffend von den Albrecht Müller auf den nachdenkseiten beschrieben.

    "Albrecht Müller (* 16. Mai 1938 in Heidelberg) ist ein deutscher Volkswirt, Publizist und ehemaliger Politiker (SPD).

    Müller war Planungschef im Bundeskanzleramt unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Weiter war er von 1987 bis 1994 für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages.."

    Meine Meinung, solange die SPD nicht von der asozialen, wirtschaftsfeindlichen neoliberale Politik wie Hartz 4, Agenda 2010 und massiven Rentenkürzungen u.a. verabschiedet, wird sie nie wieder den Kanzler stellen.

    Mal sehen wann uns das Ganze um die Ohren fliegt.
    Professor Fratzscher sagte im Interview, bei der Ungleichheit in der Gesellschaft, ist ein Maß erreicht, bei die Wirtschaft massiv geschädigt wird.
    Die OECD spricht von 6 % Einbuße der gesamten Wirtschaftskraft, durch die wachsenden Ungleichheiten.
    Der IWF ! empfahl für Deutschland Lohnabschlüsse, deutlich oberhalb des Inflationsniveaus.

    Deutschland ist Exportweltmeister bei den Spitzenfachkräften.

    "Mehr als vier Millionen Deutsche arbeiten im Ausland. Damit sind wir Vize-Europameister direkt hinter Polen. Von allen Deutschen haben 15,1 Prozent einen akademischen Abschluss, von allen im Ausland arbeitenden Deutschen hingegen 84 Prozent. Wer geht, ist gut gebildet und flexibler. «

    Quelle «Fachkräftemangel nichts als Humbug» Martin Gaedt

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