Kommentar
kontertext: Kollateralschäden des Medienwandels
Seit der kontroversen Ausstellung «Les Immatériaux» von Jean-François Lyotard 1985 im Pariser Centre Beaubourg sah ich für die Kulturwelt und die Künste ein Jahrhundertthema gesetzt: mit dem wie nie zuvor raschen technischen Wandel zur Immaterialität gehen in Dezennien gewachsene ökonomische Strukturen verloren, ohne dass sich innert nützlicher Fristen für solche komplexen Gebilde dialektisch Besseres herausbilden könnte.
Der modische Begriff der Digitalisierung geht dabei am Wesen der Sache ganz vorbei. Im Filmbereich – zum Beispiel – konnten wir mit dem Aufkommen des Videos längst vor dem Einzug des Digitalen schleichend Entmaterialisierungen beobachten. So bei schon älteren Medien, die dem Film dienen: den Festivals zum Beispiel.
Festival-Kommunikation I
In den 70er Jahren gab es am letzten Tag der Solothurner Filmtage eine Zusammenkunft der Filmemacher und Produzenten mit den angereisten Leitern oder Delegierten aus- und inländischer Filmveranstaltungen. Auf grossen Packpapieren an den Wänden wurden für jedes Festival (Figueria da Foz, Mannheim, Leipzig, Oberhausen, Berlin pp.) deren Interessen an einzelnen Filmen aufgeschrieben; dann wurde in öffentlicher Debatte ausgehandelt, wer seinen Film an welches Festival geben will.
So kam auf sanften politischen Druck jener Runde unser kleiner Film «Kaiseraugst» nach Nyon und gewann dort den Fernsehpreis. Und es wurde 1975 dem Leiter von Oberhausen klipp und klar mitgegeben, er habe seinem Komitee «Ein Streik ist keine Sonntagschule» von Hans Stürm (trotz der Länge von 55 Minuten: als reglementarisch zulässige Ausnahme) vorzuschlagen. In Oberhausen hat der Film dann fünf Preise erhalten. Beide Filme sind übrigens heute nicht zugänglich, weil ohne Anwalt und somit nicht «digitalisiert».
Bald danach hat sich eingebürgert, dass jüngere Festivaldirektoren – statt zu reisen – Filme nur noch zu Hause ab eingesandten Kassetten und am Monitor oder in leeren Vorführsälen besichtigen, also nur noch selten nach Solothurn kommen und sich dort der Konfrontation mit unseren Filmschaffenden und unserem Publikum stellen. Heute müssen wir Filmemacher manchen Festivals die Filme als digitale Streams andienen – anders schiene dem Apparat das Werk «unprofessionell» und fiele ausser Betracht.
Festival-Kommunikation II
Ein ähnliches Verdorren der Kommunikation war nach dem Abschaffen der Pressefächer in Solothurn oder Locarno zu beobachten. Konnte man früher – auch als einfacher Zuschauer! – ausländische Filmkritiker oder ausländische Filmerkollegen erreichen, indem man ihnen ein Zettelchen ins Fach steckte, etwa mit dem Vorschlag eines abendlichen Rendez-vous im «Kreuz» oder «Della Posta», so erhält man heute in Locarno weder eine Telefonnummer noch die Angabe des Hotels; die Präsenzlisten haben die Filmtage und das Festival mit dem Hinweis auf den Datenschutz ersatzlos abgeschafft, während sie anderseits die Spuren ihrer Zuschauer bei jedem Eintritt ungeniert elektronisch observieren. Für den Austausch unter den Teilnehmern, weswegen man ja an ein Festival reist, hat es aber fatale Folgen, denn wegen der zunehmenden Merkantilisierung der Veranstaltungen fehlt die Phantasie der Organisatoren zum Wiederbeleben der früher gelebten Convivialité.
Die zitierten Beispiele zeigen hässliche Seiteneffekte des technischen Fortschritts. Zu bedächtigeren Zeiten hätte man aus dem beobachteten Verlust Schlüsse gezogen und Ersatz geschaffen. Trotz des Riesenbrimboriums der Locarneser Festival-Website, auf der man aber zum Beispiel die Jahresrechung des 12-Millionen-Festivals nicht finden kann, werden die angereisten Gäste schmählich behandelt: keiner kommt dort auf die Idee, in situ etwas für die Kommunikation unter ihnen bereitzustellen. Stattdessen werden ephemere Events mit eingeladenen Notabilitäten übertragen. Es ist ja schön, dass wir jetzt, in Zürich diesen Text schreibend, das verpasste Gespräch zu Jean-Marie Straub im Spazio Cinema verfolgen können. Wer als alter Kampfgefährte hoch motiviert ist, mag auch das schlampige Handwerk des Videopersonals hinnehmen. Der Austausch unter den Gästen und Filmleuten wird mit dem Web nicht verbessert.
Aber die geschäftigen Leute an der Via Ciseri sind mehr darum besorgt, wie sie die Marken ihrer Champagner- oder Möbelsponsoren nicht nur aufs stadtauf stadtab von irritierend vielen Höflingen zur Schau getragene Leoparden-Halsband bringen, sondern noch einem zusätzlichen Preis oder wenigstens Event als Label einätzen können. Der jeweilige Direktor, jetzt der antiglamouröse, eindrücklich kompetente und glaubwürdige Chatrian, in diesem Sinne (modisch zu reden:) ein Ausnahmetalent, hatte im unterdessen angeschwollenen Apparat zu kulturell folgenreichen Dingen wie dem Austausch unter den Gästen noch nie eine Stimme. Viele Festivals sind, wie Locarno, nach dem Weltkrieg aus Tourismus-Motiven entstanden, andere wie Berlin oder Leipzig aus politischen – nur wenige Orte wie Rümlingen, Lussas oder Sarajewo dienen noch mit den verschworenen Angereisten kompetitionslos einer Idee oder einer Sache. Die immer wieder durchgeführten Umfragen unter den Besuchern zeigen kein Interesse an den filmkunstrelevanten Aspekten der Anlässe, sondern fragen typischerweise danach, wieviel Geld man pro Tag ausgegeben, was man gegessen oder wo und wie oft man übernachtet hat.
Von der Kritik zum affirmativen Geblödel
Wenden wir uns aber mit gleichen Fragestellungen den Medien im klassischen Sinne zu: dem für das Kulturleben lebenswichtigen Ökosystem Zeitung, Zeitschrift, Radio und Fernsehen. Mit ihnen lebte die künstlerische Produktion traditionell in einem symbiotischen Verhältnis. Sie haben sich zu Foren der künstlerischen und kunstkritischen Produktion entwickelt und stimulieren die Künste, von denen sie umgekehrt parasitär sich nähren.
So bildete z. B. im Filmbereich die Tätigkeit bei Zeitungen nicht nur journalistische Denker und kritische Beobachter heraus, sondern bot mit der akkumulierten kritischen Tagesproduktion – wie die Universitäten – ökonomisch eine Grundlage für Autoren, über den Tag hinauswirkende Übersichtswerke und Studien in Buchform zu verfassen und vielfach auch der Lehre zu dienen.
Mit dem Absterben der Kritik in der Tageszeitung und am Radio gehen der Literatur, der Musik und Dramatik wie dem Film dieses Ökosystem, diese mitschöpferischen Kräfte verloren. Gibt es keine Berufskritiker mehr, die dank der Erwerbstätigkeit sich im Bereich ihrer Sparte profund und kontinuierlich mit den Arbeiten unserer Autorinnen und Autoren auseinandersetzen und weltweit die avancierte künstlerische Produktion beobachten können, so kann auch kein Übersichtswerk etwa über den Schweizer Film mehr entstehen, wie es 1987 Martin Schlappner und Martin Schaub – zuletzt 1997 Schaub allein – für die Pro Helvetia (als es dort für den Film noch kompetente Köpfe gab) verfassen konnten. Ein solches schlichtes Unternehmen brauchte heute wohl ein Nationalfondsprojekt und dafür zunächst einen robusten Gesuchsteller mit Flair für wissenschaftliche Angeberei, und es würden im Erfolgsfall dann mit Bienenfleiss die wenigen frühpensionierten Autoren, die sowas noch aus dem Ärmel schütteln könnten, honorarlos ausgehorcht.
Mundwerk statt Handwerk
An Stelle des verantwortlich ausgearbeiteten Textes oder des gründlich vorbereiteten Gesprächs tritt heute das flüchtige Interview, gar eine Talkerei von Berichterstattern unter sich. Beim Radio Suisse Romande wurde die sonntägliche Filmsendung, die sich eine Stunde lang zunächst (vorbereitet, aber schon weitgehend ohne Manuskripte) in einer Kritikerrunde mit aktuellen Filmen befasst hatte, um dann im eingehenden Gespräch einem Filmautor das Wort zu geben, meist aus Anlass einer Première, abgeschafft. Sie ist heute durch eine Serie über «Kultfilme» verdrängt, die populäre Literatur und das Bonusmaterial von DVDs charcutiert und mit dem aktuellen Schaffen oder filmkulturellen Fragen in keinerlei Zusammenhang mehr steht.
Und an Stelle von Kritik der Faktur von Texten oder Werken tritt Äusserliches wie die Person und Biografie; statt wissenschaftlich geleiteter Recherchenarbeit wird aus Bauchhöhe geschossen, wie wir es soeben im Magazin «Frame» (Nebenprodukt der NZZ-Familie) haben beobachten müssen, in dem blindwütig kontrafaktisch eine Attacke gegen die Fördermethoden im Schweizer Film geritten wurde, während auf den Filmseiten der NZZ mangels Fachpersonal seit Jahren keine Debatte zur Schweizer Filmkultur mehr geführt worden ist.
Till Brockmann hat neulich den Wandel beschrieben: «Viele Interviews aus der Filmbranche dienen … heute ganz und gar nicht der Beschreibung des filmischen Werks. Sie wollen es nicht erklären und schon gar nicht durchleuchten. Das Interview soll in erster Linie eine vermeintliche Nähe zwischen Interviewten und Leserschaft herstellen … Das ‹persönliche› Interview … wärmt die empathische Bindung mit der Fangemeinde an.» Anders gesagt: was einmal – auch als Interview – Kritik gewesen war, wird von kunstfernen Managern zur Public Relation umgebaut.
Es bricht ein System zusammen, unter dem Nebentätigkeiten in den Medien die Produktion aller Künste und Disziplinen angeregt, oft erst wirtschaftlich ermöglicht und vermittelnd die Künste und Wissenschaften reproduziert haben.
Ein Filmemacher wie Max Haufler hat zeit seines Lebens vor allem Nebenarbeiten verrichtet, als Schauspieler auf Bühnen, beim Film und am Radio, als Hörspielregisseur, Drehbuchautor, Werbefilmer – nach drei eigenen Spielfilmen ist er nicht mehr zum Zug gekommen (es war zur Zeit, als es noch keine Filmförderung gab). Komponisten fanden Arbeit mit Aufträgen für Hörspielmusiken, manche (wie Dieter Schnebel) lebten, wie namhafte Musikkritiker und viele Essayisten, von Radio-Features, und es gab eine Zeit, da ein bedeutender Schweizer Komponist noch Musikchef beim Schweizer Radio werden konnte.
Unterdessen präsentieren uns Musik am Radio nicht mehr Musikfachleute, sondern Moderatorenschnösel, die gerade ausreichend Lettrizität besitzen müssen, um aus CD-Booklets ungeniert ein Witzchen übers nächste der sinnlos zusammengestiefelten Werkfragmente ableiten zu können, damit einen Scheinzusammenhang des Programms vorspiegelnd.
Wie soll mit solcher Nahrung die musikalische Bildung, die ohnehin bei vielen nicht über den Vierviertel-Takt hinausreicht, verbessert werden? Wie soll bei solcher Rekrutierung sich die Radiokultur entwickeln? Die abgetretene Kulturchefin bei SRF hat gegen die seit Jahren laufenden Depravationen nichts unternommen – die Publikation oder der Nachweis künstlerischer Tätigkeit, die sie bei ihrer Anstellung für diese fürs Kulturleben des Landes strategisch wichtige Amt hätten qualifizieren können, steht heute noch aus.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Mathias Knauer ist Musikwissenschafter, Publizist und Filmemacher. Er ist seit Jahren in der Kulturpolitik engagiert. Er war Mitbegründer der Filmcooperative und des Filmkollektivs Zürich. Als Mitglied des Verbands Filmregie und Drehbuch Schweiz war er an der Ausarbeitung des «Pacte de l'audiovisuel» und anderer filmpolitischer Instrumente beteiligt. Er ist Vizepräsident von Suisseculture und Mitbegründer der Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt, in deren Vorstände er u.a. das Dossier Medienpolitik betreut. Mitglied der Gruppe Rettet-Basel, die sich bei der Übernahme der Basler Zeitung durch Christoph Blocher gebildet hat und medienpolitische Aktionen lanciert. Der Verfasser hat an den zwei erwähnten Filmen als Mitautor und in verschiedenen anderen Funktionen mitgewirkt.
- Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.