Kommentar
kontertext: Warum die Schweiz keine Grossmacht ist
Wer sind wohl die Menschen, die sich hin und wieder fragen, warum die Schweiz keine Grossmacht ist? Kennen etwa Sie welche? Sind das wirkliche Leute von heute? Oder vielleicht eher späte Wiedergänger einer verhängnisvollen Schlacht, die noch immer am Marignano-Syndrom leiden? Wir wissen es nicht. Aber zum Glück weiss Markus Somm, der Schriftleiter der Basler Zeitung, der sich gerne auch als Historiker bezeichnet, klugen Rat für verirrte Grossmachtträumer: «Wer sich hin und wieder fragt, warum England eine Grossmacht geworden ist und die Schweiz nicht, der muss nur die beiden Politiker vergleichen, die sich zurzeit um die Beziehungen ihrer betreffenden Länder mit der gescheiterten Europäischen Union kümmern: Theresa May, die britische Premierministerin und erstaunlichste politische Entdeckung der Gegenwart, und Didier Burkhalter, unser Bundesrat, eine Art Ritter von der traurigen Gestalt, der jedes Mal zu erschrecken scheint, wenn man ihn darauf anspricht, dass er Aussenminister ist. Es ist eine Studie in Macht und Ohnmacht oder härter ausgedrückt: eine Studie in Talent und Unfähigkeit.»
Hochstemmen und niedermachen
Will man das wirklich eine «Studie» nennen? Es geht ja, mit Verlaub, nicht im Ernst um eine historische Analyse. Dafür ist der Vergleich schlicht zu bizarr. Es geht wie so oft in diesem schlecht kaschierten Parteiblatt um das systematische Niedermachen von Personen, die Somms Brotgeber nicht in den Kram passen. Seit Wochen drischt die Basler Zeitung kampagnenartig auf Aussenminister Burkhalter ein. Somms Wort zum Sonntag vom 22. April ist nur das jüngste Beispiel dafür. Dass der Missionar in Blochers Diensten grosse alte Männer bewundert und am liebsten über sie dickleibige Biografien schreibt, ist wohlbekannt – Blocher, Guisan, wer ist der Nächste? Neu ist einzig, dass er mit Theresa May erstmals eine Frau auf den Bewunderungsschild hebt. «England ist eine Grossmacht geworden, weil immer dann, wenn das Land in Not geriet, plötzlich politische Jahrhunderttalente auftauchten, von denen man zuvor kaum gehört hatte, wie jetzt Theresa May.» Hoppla! Man muss diesen Entwicklungsschritt Somms vorbehaltlos anerkennen, vor allem nachdem er bisher mit Vorliebe Politikerinnen wie Micheline Calmy-Rey, Doris Leuthard, Eveline Widmer-Schlumpf, Simonetta Sommaruga, Angela Merkel oder die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini scham- und charmelos mit Gift und Galle, Hohn und Häme übergossen hat (siehe auch kontertext «Hassprediger im Leerlauf»).
Anerkennen muss man auch, dass der Politberater Somm für einmal den bedauernswerten Didier Burkhalter nicht einfach im Schilf stehen lässt. Er greift ihm mit guten Ratschlägen hilfreich unter die Arme: «Wer verhandelt – man kann das in jedem Gangster-Film lernen –, muss in der Lage sein, jederzeit vom Tisch aufzustehen, als ob ihn nichts weniger interessierte, als das, was er wirklich will.» Wir jubeln mit: Die neue Hohe Schule der Diplomatie! Jeder nimmt seine Tipps, wo er sie herkriegt. Wer aber zwingt jetzt unseren Aussenminister endlich in den Kinosessel?
Auf nach Afrika!
Unter dem verträumten Titel «An den Gestaden des Kongo» führt Reiseleiter Somm am 25. März seine ihm noch verbliebene Leserschaft grosszügig nach Afrika. Denn, so will er uns in atmosphärischer Umgebung klarmachen, ein Rahmenabkommen mit der EU ist nichts anderes als «ein Kolonialvertrag, wo wir unser Land freiwillig zu einer Art Belgisch-Kongo der EU erklären würden». Haben wir richtig gelesen? Und soll man jetzt lachen oder weinen? Somm vergleicht tatsächlich einen Vertrag der Schweiz mit der EU mit einer grausigen Kolonialherrschaft, der nach wissenschaftlichen Schätzungen mindestens 10 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Das ist die Hälfte der damaligen Bevölkerung im Belgisch-Kongo. Und es sind mehr Opfer, als der ganze Erste Weltkrieg gefordert hat (»Gulag im Dschungel»). Sind solche Vergleiche der Dummheit oder dem Zynismus geschuldet?
Landesverrat!
Aber es geht auch hier nicht um Geschichte und erst recht nicht um Wahrhaftigkeit. Es geht ums Fertigmachen: Denn «Didier Burkhalter», weiss Somm, «will uns an die EU binden. Niemand will das. Das kümmert ihn nicht. Warum auch?» Das sind eine ganze Reihe von Unterstellungen. Die Beweisführung bleibt Somm schuldig. Wie kommt er dazu, seine eigene Haltung so zu verabsolutieren? Weiss er es selber? Ist das noch Journalismus? Aber keine Sorge, es geht im gleichen Unstil weiter: «Warum ein gewählter Politiker eines souveränen, demokratischen Landes sich nichts Schöneres vorstellen kann, als dieses Land einer fremden, weitgehend undemokratischen Organisation auszuliefern und zu unterwerfen, bleibt sein Geheimnis.» Das ist nichts anderes als der explizite Vorwurf des Landesverrats. Jeder Privatperson müsste man dringend raten, sich sofort einen Anwalt zu nehmen und gegen diese massive Ehrverletzung zu klagen.
Aber Somm hat noch nicht genug, er greift jetzt auch noch zur psychiatrischen Diagnose: «Es wäre jedoch falsch, Burkhalter allein diese etwas depressive Selbstaufgabe vorzuhalten: Viel mehr steckt dahinter.» Oho, wir sind gespannt! «Eine Mehrheit des Bundesrates teilt seine Lust am Untergang – ausser den beiden SVP-Vertretern Ueli Maurer und Guy Parmelin sowie dem Freisinnigen Johann Schneider-Ammann halten die übrigen Landesväter und -mütter unser Land für ebenso entbehrlich.» Dass der FDP-Bundesrat hier mitverschont wird, darf man dann wohl unter der sogenannten Meinungsvielfalt der «überparteilichen» SVP-Zeitung abbuchen. Der Herr in Herrliberg wird’s verschmerzen.
Sprechverbot zu Menschenrechten
Müsste man die Basler Zeitung ernst nehmen, würde einem Didier Burkhalter leidtun. Denn was er auch macht, er bringt das Blocher-Blatt mit allem auf die Palme. Auch dann, wenn sich der kleine Schweizer Aussenminister erfrecht, den Präsidenten der mächtigsten Weltmacht ganz nüchtern an die Menschenrechte zu erinnern. Als Reaktion auf Trumps Muslim-Bann bekräftigte Burkhalter zuerst die Wichtigkeit der Terrorismusprävention und erlaubte sich dann drei weitere Sätze, die alle in völliger Übereinstimmung mit der Schweizer Bundesverfassung und unserem Staatsverständnis stehen: «Bei allen Massnahmen, die zur Terrorismusbekämpfung getroffen werden, dürfen jedoch die Grundrechte und das Völkerrecht nicht missachtet werden. Wir verurteilen jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Herkunft. Das neue Dekret der USA geht also eindeutig in die falsche Richtung.»
Nachdem SVP-Politiker gegen die Äusserungen Burkhalters protestiert und darin eine Neutralitätsverletzung gesehen hatten, doppelte Somm am 4. Februar in der Basler Zeitung nach und höhnte, dass sich der Schweizer Aussenminister geäussert habe «wie ein erregter Gymnasiast, der zum ersten Mal in seinem Leben festgestellt hat, dass es Ungerechtigkeiten gibt auf dieser Welt». Und dies – oh welche Mäjestätsbeleidigung! – gegenüber «dem gewählten höchsten Repräsentanten der ältesten Demokratie der Welt». (Ob man ein Land, in dem die Sklaverei erst um 1865 abgeschafft worden ist und die schwarze Bevölkerung bis weit ins 20. Jahrhundert in der Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte behindert wurde, so leichthin als älteste Demokratie bezeichnen kann? Zumindest die Briten könnten geneigt sein, mit dem Freihand-Historiker Somm darüber ein wenig zu streiten.)
Ego-Politik?
Burkhalters diplomatische Äusserung qualifizierte Somm einerseits als «banale Feststellungen», andrerseits unterstellte er, damit könnten «die Beziehungen zu einer alten, übrigens immer befreundeten Republik» aufs Spiel gesetzt werden, und lässt das Ganze schliesslich zum «Skandal» eskalieren. Stringent klingt das nicht gerade. Man möchte Herrn Somm zu etwas mehr Contenance raten. Aber er ist eben auch diesmal noch nicht fertig mit dem Fertigmachen. Man muss den Menschen Burkhalter in einer finalen Volte noch ganz persönlich treffen und quasi kriminalisieren: «Es handelt sich hier», so Somm, «um eine Art von Politik, die keine Politik ist, sondern eine andere Form von persönlicher Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit. Das ist Ego-Politik eines schlauen Staatsmannes, der seine Egozentrik humanitär tarnt. Das ist der Populismus eines Populisten, dessen Volk, das er verführt, aus ihm selbst besteht.»
Wer wirklich wissen will, was der populistische Kampfschreiber Somm mit seinem letzten Satz sagen will, muss ihn schon selber fragen.
Hunger nach echtem Journalismus
Klarer ist, was das Ganze soll. Es dient keinerlei ernsthafter Analyse, es ist ja seit je kein publizistisches, sondern ein politisches Projekt, das einzig dem Ziel des permanenten Wahlkampfs, der ständigen Bewirtschaftung der SVP-Agenda dient. Die Anti-Burkhalter-Kampagne ist nur eines der vielen Beispiele, hier mit der Zielrichtung EU. Parallel dazu laufen Kampagnen gegen den Sozialstaat, gegen Umweltgesetzgebung, gegen Ausländer und Flüchtlinge, dazu kommt noch Angstbewirtschaftung durch verzerrte Kriminalitätsberichterstattung etc. Somms Wochenendpredigten generieren oft 300 bis 400 Kommentare, überwiegend solche, deren Wut und Frust durch Somms Schreibe offensichtlich zielsicher genährt werden. Wirkliche Zeitungsleser sind das kaum. Hier handelt es sich mehr um Wählerpflege. Die Abo-Zahlen der Basler Zeitung befinden sich denn auch weiterhin überdurchschnittlich deutlich im Sinkflug . Der Hunger aber nach echtem Journalismus wächst.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die NZZ; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform RettetBasel!; lebt in Basel.
- Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
Ein hervorragender Artikel, Danke!
Ich habe nur eine kleine Ergänzung:
Man sollte den Patriotismus der SVP-FührerInnen nicht zum Nennwert nehmen.
Schauen Sie sich doch auf Wikilieaks die Notizen des US-Botschafters über einen bevorstehenden Staatsbesuch des damaligen Bundesrats CB an.
https://wikileaks.org/
Name des betreffenden als Suchwort
Item «SWISS JUSTICE MINISTER BLOCHER PREVIEWS VISIT TO WASHINGTON"
CB brüstet sich da insbesondere als Erfinder der Idee von *Freihandelsvertägen* der Schweiz mit den USA statt EU-Orientierung. Voilà des Pudels Kern. Botschafter Coneway ist sehr angetan.
MfG
Werner T. Meyer
Das hat nun wirklich nicht mehr das Geringste mit Journalismus zu tun. Herr Somm demontiert sich damit selber. Aber er ist wohl kaum in der Lage, das zu erkennen.
Tolle Analyse.