Kommentar
Institutionen – nicht besser als Umfeld (3/4)
Red. Oft wird auch unter Linken behauptet, die Moral folge erst nach der Erfüllung materieller Grundbedürfnisse. In einem vierteiligen Essay untersucht die WoZ-Autorin Lotta Suter, wie Entscheide in Politik, Wirtschaft und Kultur von moralischen beziehungsweise ethischen Prämissen geleitet werden.
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- Hier finden Sie den ersten und den zweiten Teil des vierteiligen Essays «Linke Ethik»
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Wer bestimmt, was für andere gut ist? Diese Frage stellt sich verschärft für Institutionen wie Altersheime oder die Psychiatrie, die sich Schutzbedürftiger annehmen. Ihre praktische Ethik muss sich häufig im gestressten Alltag entwickeln.
Das Verhältnis zwischen Institution und Moral ist kompliziert. Die Geschichte zeigt, dass diese soziale Organisationsform die Menschlichkeit und die Unmenschlichkeit gleichermassen herausdestilliert. Und nicht selten bringt die gleiche Institution– man denke etwa an Kirche oder Schule – sowohl grosse Nächstenliebe wie unglaubliche Menschenverachtung hervor.
Wenn Institutionen mit hohem ethischem Anspruch «sündigen», reagieren wir besonders heftig, weil wir von ihnen mehr und Besseres erwarten als von einer rein merkantilen oder militaristischen Organisation. Die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche oder das rassenhygienische Programm «Kinder der Landstrasse» der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute zum Beispiel haben diese «gemeinnützigen» Institutionen im Kern getroffen und deren Wahrnehmung nachhaltig verändert. Denn fehlbar geworden sind in beiden Fällen nicht bloss ein paar schwarze Schafe in einer ansonsten makellosen Lämmerherde. Versagt hat auch die Institution als Ganzes – sowie ihr gesellschaftliches Umfeld.
Im Fall der Pro Juventute heisst das: Alfred Siegfried, der Gründer von «Kinder der Landstrasse», war ohne Zweifel selber ein ziemlich dunkler Bock, wurde er doch wegen sexuellen Missbrauchs eines Schülers verurteilt und aus dem Schuldienst entlassen, bevor ihm die Pro Juventute 1924 die Vormundschaft für Hunderte von Kindern anvertraute. Siegfried war ein Konformitätsfanatiker. Ihm – und damit der Institution Pro Juventute – war jedes Mittel recht, auch die Zerstörung von Familien durch Kindesentzug, um die «Vagantität», wie er die Kultur der Roma, Sinti und Jenischen nannte, zu bekämpfen. Diese rassenhygienische Idee passte allerdings auch zum damaligen Zeitgeist, zu den damaligen Moralvorstellungen. Die bürgerliche Schweiz glaubte zum Teil tatsächlich, Gutes zu tun, wenn sie Geld spendete, damit die Kinder der «Zigeuner» in «normalen sesshaften Verhältnissen» aufwachsen konnten. Erstaunlich ist von heute aus gesehen, dass sich das umstrittene Pro Juventute Programm bis 1972 halten konnte.
Andererseits wurden unverheiratete Mütter wie ich vom schweizerischen Sozialstaat noch Ende der 1970er Jahre als «abnormal» eingeschätzt. Als Ledige musste ich, wenn ich mein Kind behalten wollte, erst meine Fähigkeit als Erziehungsperson unter Beweis stellen. Auch in diesem weniger krassen Fall war die Definition von Kindswohl oder Kindesschutz von gesellschaftlichen Vorurteilen geprägt.
Fürsorge und Selbstbestimmung
Und heute? Die Sitten haben sich gelockert, der rechtliche Rahmen hat sich der gelebten Vielfalt etwas angepasst (neues Ehe- und Kindsrecht). Die Sozialhilfe ist professionalisiert worden (neuer Kinder- und Erwachsenenschutz). Trotzdem stehen gesellschaftliche Institutionen – und dazu zähle ich auch NGOs, soziale Bewegungen und politische Parteien – vor dem gleichen ethischen Dilemma wie ehedem: Wer bestimmt, was gut ist für andere? Die Frage stellt sich umso schärfer, je abhängiger oder schutzbedürftiger oder urteilsunfähiger die betroffenen Menschen sind. Kinder und Alte, Menschen mit physischer oder psychischer Beeinträchtigung und schwerkranke PatientInnen sind institutionellen Entscheiden – und auch Zwängen – besonders ausgeliefert.
Altersheime, Spitäler und die Psychiatrie gehören denn auch zu denjenigen Einrichtungen, die heute für heikle Entscheide häufig ethische Beratung von aussen beiziehen. Die herbeigerufenen Ethikfachleute definieren das Grundproblem vor Ort meist als Konflikt zwischen der Fürsorgepflicht der Institution («Gutes tun») und dem Selbstbestimmungsrecht der KlientInnen, die ihr Recht auf Autonomie oft nicht selber einfordern und verteidigen können. Die Erkenntnis, dass es hier mindestens zwei Güter abzuwägen gilt, nämlich den Willen der Institution und den Willen der KlientInnen, ist ethisch ein Riesenschritt in die richtige Richtung. Weg von der «Kinder der Landstrasse»-Gesinnung. Weg von einer Fürsorglichkeit, welche die Schutzbefohlenen zu einem fremdbestimmten Glück zwingt.
Und wie passiert diese Güterabwägung im oft gestressten institutionellen Alltag? Um zufällige oder gar missbräuchliche Entscheide zu vermeiden oder zumindest zu minimieren, werden vielerorts mehr oder weniger detaillierte und praxistaugliche ethische Verhaltensrichtlinien zusammengestellt. Ausserdem werden die Mitarbeitenden in gewissen Abständen zu Ethikkursen aufgeboten. Angestrebt oder noch besser institutionalisiert werden sollen durch solche Massnahmen: Erstens ein verfeinertes Bewusstsein der Mitarbeitenden für heikle Entscheide, die sie aus ihrer relativen Machtposition gegenüber den KlientInnen treffen. Zweitens die Umsetzung und Erweiterung der hippokratischen Tradition vom Medizinischen ins Soziale: nicht zu schaden, vorsichtig zu sein und erst heilen beziehungsweise helfen. Drittens mehr Transparenz, bessere Kommunikation und eingebaute Überprüfung oder Supervision bei allen ethisch schwierigen Entscheiden.
Das tönt alles etwas abstrakt. Die Institutionen führen keine saftige Debatte über ethische Gesinnung, sondern bemühen sich um eine institutionelle Verfahrensethik: Es geht darum, wie die Mitarbeitenden einer Institution ethisch schwierige Entscheide finden, fällen, kommunizieren und allenfalls korrigieren.
Weg vom «Erziehungszwang»
Doch was ist nun mit den Werten und der Gesinnung der Mitarbeitenden und der KlientInnen? Die institutionellen Positionspapiere verweisen allenfalls auf die UN-Menschenrechte. Genauer mag man sich heute gesinnungsmässig nicht mehr festlegen. Eine befreundete Pflegeperson gibt mir schliesslich ein paar hilfreiche Hinweise über die gelebten Wert an ihrem Arbeitsort, einem Heim für Menschen mit Demenz: Nach Möglichkeit wird auf die Lebenseinstellung aller Betroffenen Rücksicht genommen. Massgebend sind letztlich die Werte einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft (also keine sturen Dogmen und Ideologien). Lebensbereich ist die westliche Kultur.
Und noch etwas kommt in diesem Gespräch über die praktische Ethik zur Sprache: wie wichtig es für eine Institution ist, die Grundsituation ihrer KlientInnen zu akzeptieren und die Menschen so anzunehmen wie sie sind. Vielleicht ist es im Umgang mit AlzheimerpatientInnen einfacher, sich vom «Erziehungszwang» zu befreien als in der Sozialhilfe, die Ausgesteuerte oder Suchtbetroffene betreut, die in die Arbeitswelt re-integriert werden sollen. Oder gar in der Kinderschutzbehörde KESB, die daraufhin angelegt ist, die (familiäre) Situation von Kindern zu verändern und zu verbessern. Und doch gehört der Respekt vor der andern Person, so wie sie ist und nicht bloss wie sie sein sollte, zur ethischen Herausforderung jeder gesellschaftlichen Institution.
Doch Institutionen sind nicht besser – und meist auch nicht schlechter – als ihr soziales und politisches Umfeld. In etlichen Bereichen, darunter etwa die Altenpflege und die Psychiatrie, hat sich die schweizerische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geöffnet. In andern Gebieten, etwa in der Sozialhilfe oder im Asylbereich, ist die gesellschaftliche Stimmung eher wieder selbstgerechter und ausgrenzender geworden. Die jeweiligen Institutionen spiegeln diese Entwicklungen wider. Und das nicht zuletzt, weil ihre Finanzierung vom politischen Klima abhängig ist. Letztlich bestimmen wir alle, wieviel Professionalität, Zeit, Sorgfalt und letztlich Menschlichkeit die Institutionen ihren KlientInnen, also uns, geben können.
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- Der vierte und letzte Teil des vierteiligen Essays mit dem Titel «Deutlicher, farbiger, herzlicher» erscheint demnächst.
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Dieser Text erschien erstmals in der Wochenzeitung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
feiner Beitrag – Dankeschön!
Das komplizierte Verhältnis zwischen Institution und Moral: Dieselbe Institution bringt Nächstenliebe & Menschenverachtung hervor. 3/4
Bei obigem Artikel dreht es sich um ein Austarieren von Menschlichkeit und Professionalität.
Das Problem hierbei war und ist die Vorrangigkeit. Was hat den Vorrang?
Institutionen richten sich prinzipiell nach den heutigen ökonomischen Richtlinien, die der Gewinnmaximierung untergeordnet sind. Insofern, stehen Institutionen vorrangig unter ökonomischen Zwängen.
Obwohl, Institutionen psychische, soziale und auch ökologische Fehlentwicklungen beheben und ausgleichen sollen und ihnen, zu diesem Zweck eine explizite Gestaltungshoheit erteilt wird, stoßen sie selbst immer an ihre Grenzen und bewirken u. U. das Gegenteil, was bei den Schutzbefohlenen weitere Schäden hervorrufen kann.
Ohne die Professionalität auf den Prüfstand zu stellen und ohne Menschenrechte und Moral, in diesem Zusammenhang, genauer zu definieren, werden wir ständig in Sackgassen geraten.
Man könnte auch sagen, solange Professionalität und Gewinnmaximierung vor den Menschen-, Seins- und Lebensrechten priorisiert werden, solange erschaffen wir unsere eigenen Dilemmata.
Meiner Meinung nach, sollte jedwede menschliche Aktivität unter seins-, lebens-, natur- und menschenrechtlichen Prämissen stehen und nicht umgekehrt.
Der Aktivitäts- und Arbeitsimperativ als «Emanzipationsfaktor» schadet Mensch und Natur, was an der globalen Natur-Zerstörung zu erkennen ist.