Kommentar
kontertext: Tote, Lebende und Lebendige
Red. kontertext greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Ob Analyse, Sprachkritik oder Statement – kontertexte sind undogmatische Einwürfe, die Publiziertes ernst nehmen, ohne selber dem Ernst ganz zu verfallen.
dichtete Wolf Biermann einst, als er seine Spaziergänge auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin besang («Der Hugenottenfriedhof», 1969).
Ein naher Toter ist der Schriftsteller Peter Weiss, der am 8. November vor hundert Jahren geboren wurde. Sein Prosatext «Abschied von den Eltern» diente einer ganzen Generation von jugendlichen Intellektuellen, die um 1950 geboren und später «68er» wurden, als Modell, an dem sie ihre eigenen Beziehungen zum Elternhaus reflektieren konnten. Weiss’ Erfolgsstück über die Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marat thematisierte die Revolution. Seine Dramatisierung des Frankfurter Auschwitzprozesses, «Die Ermittlung», veränderte die Bundesrepublik Deutschland. Die letzten 10 Jahre seines Lebens arbeitete Peter Weiss an seinem tausendseitigen Monster-Roman «Die Ästhetik des Widerstands». Er wollte nichts Geringeres leisten als eine Bilanz des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive der Verlierer, nicht der Sieger und Gewinner. Er betonte, das Wesentliche sei nicht, dass so viele Frauen und Männer des Widerstands in den Folterkellern, am Galgen, unter der Guillotine oder im Suizid endeten – sondern dass sie sich überhaupt der übermächtigen Höllenmaschine des Faschismus widersetzten. Die Schönheit des Widerstands sollte aufleuchten. Weiss ging es um die Hoffnung auf bessere Zeiten, um eine Kultur des Neinsagens und Sich-wehrens. Ein eminent politisches Roman-Projekt.
Die Beschäftigung mit Peter Weiss macht deutlich, wie eng die Verzahnung von Literatur und Politik spätestens seit den grossen realistischen Autoren des 19. Jahrhunderts bis zum Surrealismus war – und heute wieder wird. Das Berliner Hebbeltheater organisierte Anfang Oktober Theatertage zur «Ästhetik des Widerstands»: Theatergruppen aus Lateinamerika, aus dem arabischen Raum, Vorträge, Lesungen, Diskussionen. Gefragt wurde nach der aktuellen Bedeutung des Romans und der Idee von Widerstand. Die Organisatorin der Veranstaltung, Aenne Quinones, schreibt: «Mit dem Wiedererstarken nationalistischer Bewegungen erhält das politische Hauptthema des Buches, der antifaschistische Widerstand, eine erneute Aktualität und wirft die Frage auf: Wie lässt sich der gnadenlosen Chronologie der Ereignisse ein alternativer Verlauf abtrotzen?» Die Abende im «HAU», im Hebbel am Ufer, die ich erlebte, waren gut besucht, das Publikum war jung.
Ich erzähle das, um zu sagen: Ein Blick in die Wirklichkeit vor allem des Theaters und dort vor allem in die freie Theaterszene genügt, um zu merken, wie abgestanden so manches Feuilleton ist. Warum nur lässt der neue Feuilletonchef der NZZ immer wieder Cora Stephan ihre schrecklich vereinfachten Gedanken-Klischees verbreiten? «Der subjektive Faktor» nannte sich ihr Essay zum Verhältnis von Politik und Literatur. Man glaubt es nicht, aber sie kehrt zurück zur säuberlichen Trennung: «Was aber die Literatur betrifft: Nur ihr gehört das Subjektive, der unverstellte Blick aufs Einzelne, Einmalige. Sie sollte es vor politischem Missbrauch bewahren.» (NZZ 02.06.16) Dass sie den Kitsch kritisiert, den manche Politiker absondern, wenn sie von sich und ihren Angehörigen reden: geschenkt! Frau Stephan regt sich fürchterlich auf, weil die bundesdeutsche Ministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, die das Rentenalter auf 63 Jahre senken will, sagte: «Mein Vater war Maurer und ist mit 73 Jahren gestorben. Wenn mir da einer mit Arbeiten bis 70 kommt, werde ich sauer.» Was ist daran eigentlich so schlimm? Ja, sagt Cora Stephan, der Einzelfall gehört in die Literatur, die Politik soll mit allgemeinen Aussagen, mit Statistiken, mit kalten Zahlen operieren.
Wo lebt die Frau? Die Politik ist längst zum Showbusiness verkommen, und die Literatur lässt sich nicht auf den subjektiven Faktor, aufs Einzelne und Einmalige reduzieren, schon deshalb nicht, weil der Einzelne die Welt und die Wahrheit nicht mehr erleben und erfahren kann. Das Wesen sei in die Funktionale gerutscht, sagte der alte Brecht, und fügte hinzu: Zu zeigen, wie ein Arbeiter in einer Fabrik oder ein Angestellter in einem Büro arbeite, sage eben nichts über Ausbeutung.
Das Verhältnis von Politik und Kunst ist komplizierter, als Cora Stephan auch nur ahnt – und dieser Kompliziertheit müsste eine FDP-Zeitung wie die NZZ wenigstens gerecht werden, wenn sie nicht nur ein Parteiblatt sein will. Aber vielleicht entwickelt sie sich ja genau dahin: Die hartnäckig wiederkehrenden Artikel von Cora Stephan legen das nahe. Im August erschien «Haben die Deutschen das Streiten verlernt?» (20.08.16) Eine von Panik vor den Flüchtlingen geschüttelte Autorin erweckt den Eindruck, die deutsche Öffentlichkeit sei fest in der Hand von Linken und Flüchtlingsfreunden, wer abweichende Meinungen äussere, sei sofort als Rechtsradikaler gebrandmarkt und von gesellschaftlichem Ausschluss bedroht.
Sie weiss auch, «dass insbesondere Menschen aus dem arabischen Raum zu fanatischem Judenhass neigen». Die Nazis kamen wohl aus Aegypten. Und sie fährt fort: Deren Judenhass «wird als ‚kulturelle Eigenart’ abgehakt.» Starke Behauptung. Da würde man doch gerne wissen: Wer tut das? Keine Antwort von der Autorin. Stattdessen: «Die Vorliebe deutscher Linker für die ‚Palästinenser’ und ihr Ressentiment gegen die ‚Zionisten’ hat ja Tradition.» Womit wir die Kritik an Israel los wären. Es genügt, die Palästinenser in Anführungszeichen zu setzen, so wie früher die «DDR».
Da passt es gut, dass Stephan auf der Amadeu-Antonio-Stiftung, die Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus durch Stärkung der Zivilgesellschaft bekämpfen will, rumhackt. Die Stiftung hat mit vermehrten Übergriffen aus der rechten Szene zu kämpfen – sie wäre sicher einer näheren Betrachtung wert. Einfach ein paar Fusstritte gegen sie zu veröffentlichen, hier in der Schweiz, wo niemand sie kennt, das ist unfairer, verantwortungsloser Journalismus.
Zum Schluss noch ein Originalton von Cora Stephan: «In Deutschland führt der Vorwurf, rechts oder rechtsradikal zu sein, zum gesellschaftlichen Ausschluss. Den politischen Gegner wie etwa die AfD als rechts zu denunzieren (wobei die Partei selbst ja durchaus mithilft), ist daher auf jeden Fall empfehlenswert.» Aha. Behauptung 1: Die AfD als rechts zu bezeichnen, heisst sie denunzieren! Behauptung 2: die AfD hilft aber mit, sie denunziert sich gleichsam selbst. Also wär› die Denunziation, sie als rechts zu bezeichnen, gar keine Denunziation … Chunsch naache? Ich nicht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium Deutsch, Französisch, Geschichte. Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».
Sehe ich das richtig: Der Autor träumt von einer Welt, in der die Machtverhältnisse und Parteikonstellationen, die Weiss beschreibt, als ewig gelten? Und deshalb ist ihm der tote Weiss näher als die lebende Cora Stephan, die auf heute existierende Parteikonstellationen und Machtverhältnisse reagiert?
Eine erfrischend geschriebene und kluge Kritik an bildungsbürglichen Feuilleton-Textschwurbeleien, die sich wertneutral geben, aber effektiv sehr rechts stehen. Es ist dabei erfreulich, dass der Autor gleichzeitig an Peter Weiss erinnert, dessen hervorragendes Werk wir nicht vergessen sollten.