Kommentar
Brexit, Europa und die Schweiz
Immer diese Briten! Im Jahr 1946 propagierte Winston Churchill ein vereinigtes Europa, 1986 leitete Margaret Thatcher mit dem «Big Bang», der totalen Liberalisierung der Finanzmärkte, die Globalisierung und einen hemmungslosen Neo-Liberalismus ein; 2016 stürzt Grossbritannien das halbwegs vereinte Europa in die Identitätskrise.
Kann man all das auch anders sehen?
Vielleicht so: Europa folgte den Briten (auch den US-Amerikanern) bei wesentlichen Weichenstellungen immer ohne grosse Bedenken. Man empfand es als inspirierend bis exotisch, dass die Briten sich immer wieder über Tabus hinweg setzten, die auf dem Kontinent breitflächig beachtet wurden.
Churchill formulierte eine Vision, die kein Kontinentaleuropäer so verinnerlicht hatte. Margaret Thatcher fegte angeblich verkrustete Denkweisen und Produktionsformen radikal hinweg. Der Markt kann alles ordnen, meinte Thatcher – dabei zerschlug sie einige tatsächlich hemmende Faktoren in der Wirtschaft, zerstörte gleichzeitig aber ganze Wirtschaftszweige und Industriezentren. Das wenige Positive in Thatchers Ideologie (deren Ausformung zeitlich teilweise mit der neoliberalen Reagan-Zeit in den USA zusammenfiel) nahm man auf dem europäischen Kontinent mehrheitlich begeistert wahr, die Schattenseiten (die insgesamt gewichtiger waren!) erkannten nur die «bösen» Linken.
Die Ideen Thatchers, Reagans, jetzt auch Trumps und Boris Johnsons, dem wahrscheinlichen nächsten Premier Grossbritanniens, waren oder sind voller Widersprüche: Alle schildern die Zukunft mit Worten und Bildern der Vergangenheit (das gilt ja auch für Christoph Blocher und andere SVP-Grössen in der Schweiz). Boris Johnson scheut sich nicht, die längst vergangene koloniale «Grösse» Grossbritanniens als Zukunftsmodell zu «verkaufen»: Wir konnten es früher schaffen, wir werden es in der Zukunft schaffen, allein sind wir wirklich gross!
Sie verleugnen, dass man mit dem «Big Bang», mit der Globalisierung und dem Neo-Liberalismus die Büchse der Pandora geöffnet hat, deren verheerendste Konsequenz die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen Eliten und Massen und die Marginalisierung der realen Wirtschaft durch die Finanz-«Industrie» ist und dass es keine Formeln gibt, diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Zuwanderung stoppen oder zumindest bremsen, verspricht u.a. Boris Johnson (verspricht die SVP hierzulande ja auch) – wie, das bleibt rätselhaft.
Man stellt nicht einmal die Frage, weshalb es überhaupt Zuwanderung in bestimmte Wirtschaftsgefüge gibt! Stehen die Zugewanderten in Wartekolonnen vor den Unternehmen an, um eine Chance zu erhalten? Gewiss nicht – die Wirtschaft sucht sie, braucht sie aufgrund von tieferen Lohnforderungen und guten Qualifikationen. Wer die Zuwanderung eindämmen will, muss – müsste! – die Unternehmer in die Pflicht nehmen, ihnen Zügel anlegen im freien Arbeitsmarkt. Doch das ist politisch nicht vertretbar, weil man ja die Ideologie des freien Markts nicht tangieren möchte.
Gilt für Grossbritannien ebenso wie für die Länder auf dem Kontinent, wo man um Wachstumsraten ringt und mit Sorge zuschaut, wie immer mehr wirtschaftliche Bedeutung an Länder in Asien abgleitet. Untergeordnet sind, im Gegenzug, offenkundig die Sorgen und Ängste in der Bevölkerung vor dem Verlust von Jobs und Chancen.
Brexit und mögliche Varianten (rechtspopulistische Parteien in verschiedenen europäischen Ländern planen bereits EU-Austritts-Referenden) enthüllen aber noch eine Menge anderer Perspektiven. Die wesentlichste ist: je komplexer und komplizierter die «Welt» wird, desto mehr wünschen sich viele einfache Formeln für die Bewältigung anstehender Probleme. «Mehr nationale Souveränität!», «Keine Abhängigkeit von ausländischen Kräften!» und so weiter (in der Schweiz «von fremden Richtern»…). Können solche Vorstellungen in die Realität umgesetzt werden?
Ja, aber nur um den Preis massiver Einschränkungen im Konsum, dem Rückfall in den nationalen Isolationismus und dem Bruch mit eingegangenen Verpflichtungen und Verträgen (im Fall von Flüchtlingen etwa mit der Verletzung der Genfer Konvention, im Fall der Zuwanderung mit der Missachtung der vom Souverän einst abgesegneten Verträge zum freien Personenverkehr). Für weniger, d.h. zivilisierter, ist das nicht zu haben.
Wollen wir das? Will man sich wirklich zurück bewegen zu Sphären, in denen sich Regime wie jenes Nordkoreas bewegen? Und wer will der Bevölkerung klaren Wein einschenken, wenn es um das Thema Einschränkung im Lebensstandard geht? Die Populisten nach dem Muster Johnsons, Trumps etc gehen dieses Risiko sicher nicht ein.
Nun gibt es für solche Verwerfungen auch ein gesellschaftliches und mediales Umfeld. Die Veränderungen in der Medienlandschaft tragen zum Desaster bei: immer kürzere Artikel mit immer weniger Hintergrund-Information, immer mehr Schlagzeilen, immer einfachere Darstellung von komplexen Sachverhalten (Ausnahmen in den Medien bestätigen die Regel).
So wird die Illusion verbreitet, es gäbe für alles einfache Rezepte. Wen wundert’s, dass immer mehr Menschen sich vorstellen, auch die politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche Realität könne in Schlagzeilen geprägt und verstanden werden – und die ganze Problematik bestehe letzten Endes nur darin, dass die «Eliten» nicht willens seien, die anstehenden Fragen «verständlich» darzustellen?
Massen / Mehrheiten oder zumindest relevante Minderheiten contra Eliten – das ist oberflächlich gesehen das Problem. Das wirkliche besteht darin, dass immer weniger Menschen bereit sind, sich in komplexe Sachverhalte einzulesen und einzuarbeiten. Davon profitieren die Populisten, daraus resultiert der Brexit, daraus resultierte in der Schweiz die Masseinwanderungsinitiative und wird die Vorlage über «fremde Richter» im September ebenso geprägt wie zu erwartende Referenden in verschiedenen europäischen Ländern.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Interessant, aber stellenweise etwas sehr schwarz/weiss. Binnenmarkt oder Nordkorea. Als ob dazwischen keine Grautöne möglich wären.
Zum Glück sind UEFA und Eurovision noch keine EU-Markennamen.
Die European Medicines Agency (EMA, in London) aber schon. Vor Jahren habe ich einmal versucht, die Idee zu lancieren, dass solche technische Prüfstätten unabhängig vom politischen Hintergrund organisert würden und allein auf der Basis ihrer Kompetenz anerkannt werden sollten.
Das hat aber nicht viel Anklang gefunden, denn die Anerkennung in der Schweiz von EMA-Zulassungen würde naturgemäss Direkt- und Parallelimporte legitimieren.
Jetzt, da UK (virtuell) nicht mehr Teil der EU ist, stellt sich die Frage nach der Legitimität der EMA-Zulassungen. Technisch gesehen hat niemand die Arbeit der EMA in Frage gestellt. Der Austritt von UK sollte also technisch auch keine Fragen aufwerfen. Aber die kleinen Geister im «pseudoliberalen» Markt wittern Morgenluft. Man könnte doch den Briten eins auswischen, wenn man die Entscheide «ihrer» EMA nicht mehr anerkennen würde.
Im Bereich der Forschung und insbesondere in der «Erasmus-Welt» gibt es ähnlich kleinkarrierte Egoisten, welche Morgenluft wittern.
Es wäre an der Zeit, den Brexit als Aufforderung an grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu sehen und nicht im mittelalterlichen «Lokal-Physiokratismus» stecken zu bleiben.
Glücklicherweise basiert die Normenharmonisierung im Bereich der Verkehrssignale nicht auf der EU, sondern der UNO-Kommission für Europa. Es wäre Zeit auch Erasmus auf einer Basis echter akademischer Zusammenarbeit auszurichten.
Folgende Punkte müssen meiner Meinung nach für ein bürgernahes und somit erfolgreiches Europa gelöst werden:
• Das Gefühl der Bedeutungs- und Machtlosigkeit des einzelnen
• Die wirtschaftliche Unsicherheit des einzelnen
• Die gefühlte Überfremdung und Verlust der Heimat
• Die gefühlte und effektive Ungleichheit zwischen mir da unten und denen da oben
• Das Tempo der Veränderung, das einzelne nicht mithalten können und wollen
Da nennt Erich Gisling analytisch hervorragend und präzise zugespitzt Ross und Reiter der unsäglichen Entwicklung zum lösungsverachtenden extrempositionierten Populismus und schon wird ihm Schwarz-Weiss-Malerei vorgeworfen. Vermutlich nur deshalb, weil er auch seine Schweizer Gallionsfiguren mit Namen nennt. Gysling appelliert ja im Gegenteil an die Medien, wieder mehr Tiefgang und Hintergrundinformation zu liefern und die simple Reduktion der Politinformation auf plumpe Gegensätze aufzugeben. Genauso wie der nationalkonservative Populisums eine Frucht des marktradikalen Neoliberalismus ist – der demokratische Staat darf nichts, der freie Markt hingegen, das heisst der Marktmächtige ist zu allem legitimiert – genauso sind es die nur noch dem Profit verschriebenen privaten Medien. Deshalb reichen Appelle allein, so wichtig und richtig sie sind, wohl nicht. Es braucht politisches Engagement, politischen Widerstand und politische Mehrheiten dafür. Und entsprechend viel Zeit, Geduld und Kraft.
Der Brexit reisst in der EU eine Lücke auf. Vielleicht wird sich dieser Negativtrend eines Tages ändern durch den EU-Beitritt der Schweiz. Zwar ist gegenwärtig die EU-Euphorie recht bescheiden, aber langfristig ist das schweizerische Inseldasein keine ideale Lösung. Schliesslich verdanken wir einem geeinten Europa viel: Jahrzehntelangen Frieden mit starkem Schutz durch die uns umgebenden Länder, wirtschaftliche Prosperität dank freiem Verkehr für Personen, Güter und Geldmittel. Zusammen mit der EU lassen sich die anstehenden Probleme der Asylpolitik, des Umweltschutzes und des Arbeitsmarktes besser lösen als im Alleingang. Setzen wir den Rechtspopulisten ein aktives Mitwirken für ein starkes Europa entgegen.
Martin A. Liechti, Maur
Es ist schon denkbar, dass eine weitergehende Zusammenarbeit der Kern-EU mit Rand- und anderen Nachbarländern auf die Dauer möglich sein wird. Wie die von mir erwähnte Zusammenarbeit im Medikamentenbereich, ist Europa praktisch «verdammt» mit der UK aber auch mit der Schweiz weiter zusammenzuarbeiten. Das ist elementarer guter (ökonomischer) Menschenverstand.
Es gibt aber in EU-Europa viele Leute, welche die verschmähte Liebe «bestrafen» möchten, selbst, wenn auch für sie die Rechnung entsprechend höher ausfallen dürfte. Was bis jetzt von Mitgliedern der EU-Kommission, aber auch von Möchte-gern Napoleons zu hören war, lässt hier nicht allzu viel gutes erhoffen.
Die Scheidung dürfte kompliziert werden und je weniger sich das EU-Establishment lösungsorientiert verhält, dürften die Kassandrarufe der mit Sanktionen drohenden EU-Minister zur Realität werden. Die EU hat in den letzten Jahrzehnten doch einige Chancen zur regionalen Zusammenarbeit und damit zur Entschärfung der Festungsproblematik-EU verpasst und damit die aktuelle Migrationswelle indirekt mitprovoziert. Ausgrenzung ist keine Lösung, selbst wenn dadurch innere Kohärenz vorgegaukelt werden kann.
"Old habits die hard». Die Napoleons in der EU sollten sich überlegen, ob sie wirklich nach St.Helena geschickt werden wollen, oder ob nicht doch ein «divorce à l’amiable» eine bessere Option wäre. Trafalgar möchte ich jedenfalls auch der EU-Kommission nicht wünschen.
@Hunkeler. Ihr Kommentar ist nicht selten besser als der Artikel, auf den Sie sich beziehen. Sie sprechen konkrete Probleme an. Dass es keine einfachen Lösungen gibt, ist weitgehend klar, die einfachste Lösung wäre, die Politik zu akzeptieren, die sowieso geschieht. Verantwortung übernehmen heisst, das zu machen, was man kann, in seiner Gemeinde, in seinem Land. Das haben die Engländer und Schotten vorbildlich vorgelebt. Sie können sich am Ende immer noch besser zusammenraufen als jene, welche die Europäische Union mit Europa verwechseln. Die dümmste aller Vereifachungen. Dass das Ja zum Brexit ein Zurückbewegen in Richtung Nordkorea, halte ich für die absurdeste Aussage von EG, er scheint mir nicht mehr auf der Höhe zu sein. Es war auch für Bestinformierte eine absolute Ermessensfrage, wie man in dieser Frage zu stimmen hätte. Was richtig ist, kann im Moment mit dem besten oder bösesten Willen nicht gesagt werden, muss sich noch erweisen. Aber Probleme, wie sie Herr Hunkeler anspricht, müssen gelöst werden.
@Meier. Besten Dank für Ihre Stellungnahme.
Europa ist trotz allem Lokalpatriotismus der Schweizer ein wesentliches Anliegen der meisten Leute, welche aktuell in diesem Lande (CH) leben.
Natürlich haben wir Probleme mit «tartenpion», aber das Gefühl der Nachbarschaft betrifft das Braunvieh Österreichs, die Weissweine des Veneto, den Camambert Frankreichs… Selbst der deutsche Blauburgunder findet Amateure in der Schweiz. Bref, die Schweizer fühlen sich, wenigstens wenn sie ausserhalb des Kontinents reisen, als Europäer. (Dass Feldschlösschen dank «Cassis de Dijon» auch in Deutschland verkauft werden darf, ist eine andere Geschichte.)
Ich bin positiv beeindruckt von der Haltung unserer Bundesräte. Der Bundespräsident und der Aussenminister haben die Medienspekulationen auf den Boden der Realität zurückgeführt.
Ich möchte hoffen, dass dieser Realitätssinn auch in europäischen (EU) Ländern zum Durchbruch kommen könnte.
Die Reaktionen der «zweiten Garde» in Deutschland waren in dieser Hinsicht nicht besonders berauschend. In Frankreich konnte man (leider) wohl nichts anderes erwarten.
Was wird uns Südeuropa bringen ?
Vielen Dank für Ihre Kolumne. Es freut mich immer wieder, wenn Gleichgesinnte sich äussern. Denn ich fühle mich sonst einsam in dieser Welt.
@ Martin A. Liechti: Apropos Ihren gerühmten «starkem Schutz durch die uns umgebenden Länder»: Wunderbarer Schutz durch unseren südlichen Nachbarn, der sich um die Dublin/Schengen-Abkommen foutiert und die Flüchtlinge ohne Registrierung in die Schweiz abschiebt und sich in gegen 90% der Fälle weigert, die Flüchtlinge gemäss den internationalen Vereinbarungen zurück zu nehmen. Toll auch der Schutz durch Frankreich, das versucht, entgegen bestehender Verträge die auf dem Flughafen Basel/Mulhouse tätigen Schweizer Firmen zu besteuern. Deutschland kauft CDs mit gestohlenen Bankdaten, um die Schweizer Banken zu piesacken – welch nette freundnachbarliche Geste einer «Schutzmacht». Zwischen den Ländern gibt es Interessen und jedes nimmt seine eigenen wahr.