Kommentar

Über den Umgang mit Gewalt und Verbrechen

Helmut Scheben © zvg

Helmut Scheben /  Darstellung von Gewalt ist zur Unterhaltung geworden und Kriegsspiele sind gesellschaftlich akzeptiert. Was aber bei echten Morden?

Ob lebenslängliche Verwahrung für «die Bestie von Rupperwil» in Frage komme, spekuliert der Blick am Abend. Bestie heisst wildes Tier, und mit dieser Bezeichnung wird der Täter als Nicht-Mensch deklariert, er wird aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Diese Exkommunizierung ist – wie Guido Kalberer in einem Kommentar im Zürcher TagesAnzeiger analysiert – eine Strategie, die wir gezwungenermassen anwenden, weil es für uns unerträglich ist, dass ein ganz normaler Nachbarsjunge von nebenan vier fremde Menschen als Geiseln nimmt und ihnen den Hals durchschneidet. Wir projizieren das Böse nach aussen, ausserhalb der Gemeinschaft der «normalen Mitmenschen», weil wir nicht akzeptieren wollen und können, dass Rupperswil überall sein kann und dass extreme sadistische Grausamkeit Bestandteil unserer Normalität und unseres Menschseins ist.

Der Umgang mit Gewalt ist in unseren Gesellschaften von Heuchelei und Bewusstseinsspaltung geprägt. Im öffentlichen Diskurs gilt Gewaltanwendung als nicht politisch korrekt. Das Gewaltmonopol sei dem demokratischen Staat und seiner Exekutive vorbehalten, heisst es. Sonntagsprediger und Politiker jeder Couleur werden nicht müde, zu gewaltloser Konfliktlösung aufzurufen.

Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt zusehends grösser. Die Produktion von Gewalt-Bildern ist zu einer Industrie geworden, die unaufhörlich Blut, Blei und Brutalo-Action liefert. Allein die Spielerplattform Steam verzeichnete 2015 einen weltweiten Umsatz von 3,5 Milliarden Franken. Ego-Shooter verbringen ihre Freizeit damit, den Handgranatenwurf zu perfektionieren, Köpfe wegzublasen und Feinde mit Blei vollzupumpen. In der Schweiz gibt es laut Umfragen an Schulen Jugendliche, die bis zu 40 Stunden pro Woche gamen.

Auch Spielfilme werden immer härter und brutaler, überbieten sich gegenseitig mit voyeuristischen Offerten. Selbst der einst als Edelkrimi geltende «Tatort» wartet heutzutage mit abgetrennten Gliedmassen auf. Die Gewaltdarstellung scheint zum Verkaufsargument zu werden. In den weitherum als harmloses Sofa-Kino akzeptierten James-Bond-Filmen hat sich die Zahl der Gewaltszenen vom ersten (007 jagt Dr. No, 1962) bis heute fast verdreifacht. Extrem gewalttätige Gangsterfilme wie «Scarface» haben in den französischen Banlieus Kultstatus.

Dabei wird die Gewalt – wie in den meisten Videogames seit dem Sexygirl Lara Croft – mit der moralischen Etikette verkauft, dass die Gewalt von den Bösen ausgeht und die Guten selbige mit gleicher Gewalt strafen müssen. Tarantino zum Beispiel zeigt Szenen von extremer Grausamkeit. Die Filmkritikerin Pia Horlacher fasste dies einmal in die lapidare Formel: «Bei ihm verüben Sadisten Schweinereien, deren Opfer sich daraufhin mit den gleichen Schweinereien wehren, die aber durch erlittenes Unrecht legitimiert werden. So wirkt auch die Kriegspropaganda.» (Zürcher Tagesanzeiger, 23. Februar 2013)

Das amerikanische Verteidigungsministerium hat millionenfach Videospiele mit Kriegshandlungen an Jugendliche verteilt, um Rekruten für die US-Army anzuwerben. Und in der Army bekamen sie dann bekanntlich keine Spielkonsolen, sondern automatische Schnellfeuerwaffen für den Einsatz in Afghanistan oder im Irak.

Westliche Geheimdienste und Polizisten haben Tweets untersucht, in denen junge Männer aus den Reihen des Islamischen Staates ihre Freunde einladen: «Du musst kommen und mitmachen, das ist wie Call of Duty, aber in echt!» Das Ego-Shooter-Game Call of Duty ist eines der weltweit erfolgreichsten Computer-Kriegsspiele.

Der Boom von Action-Filmen und bluttriefenden Videospielen zeigt, dass unsere Gesellschaft ein starkes Bedürfnis nach Gewaltdarstellungen und Gewaltphantasien hat. Natürlich argumentieren manche Psychologen, es gebe keinen nachweisbaren direkten Zusammenhang zwischen dieser täglichen Befriedigung von Gewaltphantasien und zum Beispiel dem Amoklauf eines Jugendlichen, der seine Mitschüler und Lehrer erschiesst. Andere Psychologen kommen zu dem gegenteiligen Befund.

In meiner Logik ist die Frage aber nicht, ob die realexistierenden Amokläufer direkte «Nachahmer» von Gewalt-Videos sind oder nicht. Das wird im Einzelfall vielleicht schwierig nachzuweisen sein, weil noch viele andere Faktoren mitspielen. Es bedarf dieses Nachweises jedoch überhaupt nicht, denn eine Gesellschaft, die brutale und blutige Gewaltbilder in solchen Mengen produziert und konsumiert, hat bereits signalisiert, dass Gewalt nichts Schlechtes sein kann und dass der voyeuristische Genuss von Gewalt «Normalität» ist. Es mag empirisch bewiesen sein oder nicht: In einem Kontext, in dem der Aufenthalt in virtuellen Welten mehr und mehr Teil der Lebenswelt der Individuen wird, muss man davon ausgehen, dass auch die Trennungslinie zwischen Videogame und materiellem Tun zunehmend verschwimmt.

Was wir als Zivilisation und Zivilisiertheit bezeichnen, ist nichts anderes als das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem Triebleben und Gewaltbereitschaft der Individuen schrittweise eingedämmt wurden. Der konstruktive Umgang mit Ängsten hat zur Kooperation gesellschaftlicher Gruppen und verschiedenen Formen von Contrat Social geführt. Die unterdrückten Aggressionen wurden in gesellschaftlich akzeptierte Kanäle umgelenkt und sublimiert.

Ich weiss nicht, wie weit wir auf dieser Strecke im Lauf der Jahrhunderte voran gekommen sind. Eines scheint mir aber sicher: Die heutige Ausbreitung der Gewaltbilder in den Medien ist ein Phänomen, wie es die Menschheitsgeschichte bisher nicht gekannt hat. Mir wird niemand glaubhaft machen, dass unsere Hirne und Herzen davon verschont bleiben. Und das ist dann keine gute Prognose für den zivilisatorischen Versuch, «befriedete Räume» zu schaffen, wie Norbert Elias es ausdrückte.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor, Dr. Helmut Scheben, war von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

Zum Infosperber-Dossier:

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Gewalt

«Nur wer die Gewalt bei sich versteht, kann sie bei andern bekämpfen.» Jean-Martin Büttner

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4 Meinungen

  • am 22.05.2016 um 19:26 Uhr
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    Die Bezeichnung «bestialisch» für abscheuliche Grausamkeiten ist irreführend, weil die menschliche Destruktivität das brutale Verhalten der Tierwelt weit übertrifft. Auch die Vorstellung, der menschliche Zivilisationsprozess habe sich vom ursprünglich gewalttätigen Verhalten zur rational begründeten gegenseitigen Schonung entwickelt, ist nicht zutreffend. Die frühesten menschlichen Gemeinschaften strebten friedliche Konfliktlösungen an, und erst durch Bevölkerungswachstum und Raumnot kam es zu gewaltsamen Verdrängungen. Krieg im eigenlichen Sinn ist ein historisch spätes Phänomen, das durch die patriarchale Gewaltverherrlichung zu immer verheerenderen Zerstörungen führte.
    Das gegenwärtige mediale Überangebot an Gewaltdarstellungen ging stark von Amerika aus, wo die Waffenlobby und systematische Kriegsvorbereitungen die Menschen mental manipulieren. Beim Fernsehpublikum dienen grausame Szenen zum Teil als Kompensation für eigene Ohnmachtsgefühle. Andere Zuschauer sitzen aus purer Langeweile und in Ermangelung eines besseren Programms vor der Kiste. Es gibt aber auch solche, die genervt abschalten.
    Um menschliche Gewaltbereitschaft nicht als Naturanlage, sondern als gescheiterte Selbst- und Sinnfindung zu verstehen, siehe Erich Fromm: «Die Anatomie der menschlichen Destruktivität» (1980 in Gesamtausgabe).

  • am 22.05.2016 um 21:34 Uhr
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    Im Negativen zusammenarbeitende Wissenschaft, Wirtschaft und Medien fördern die Freiheit des Menschen unnatürlich zu sein – als Individuum wie als Gesellschaft. Widernatürlich ist es das Böse nicht zu erkennen als Abspaltung vom beseelten Atmen aus der Einen Quelle. Über Schreck, Schock und Angst entkoppelt sich unser Denken vom atmenden Körper – Wissen verliert seine Lebendigkeit, Intuition – Körperweisheit wird durch Richtig-Falsch-Weisheit ersetzt. Unverbundenheit, falsche Moral und Verlogenheit, Intrigen und Manipulation – ein Glaube an Worte und Bilder ohne Atmen als Gebet einer Menschheit aus dem lebendigen Sein und Miteinander begründen Irrsinn und Irrglauben auch in Forschung und Wissenschaft.

  • am 23.05.2016 um 18:05 Uhr
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    Helmut Scheben steht mit seiner Kritik an Killergames ein wenig allein. In den so genannten Qualitätsmedien der Schweiz, der NZZ, dem Tagesanzeiger und besonders in der Gratiszeitung 20 Minuten werden immer wieder die neuesten Games vorgestellt. Von den negativen Wirkungen dieser Kriegs-, Mord- und Totschlagspiele ist nicht die Rede oder sie werden heruntergespielt. Darf das Milliardengeschäft mit diesen unmenschlichen Games nicht gestört werden?

    Rudolf Hänsel dokumentierte die negative Wirkung solcher Tötungsgames, unter anderem in dem Buch: «Game over! – Wie Killerspiele unsere Kinder manipulieren» Vorbereitung für den Krieg, Kai Homilius Verlag 2011
    (http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16025)

    Auch in anderen Fragen werden wir von den Qualitätsmedien für blöder gehalten werden als es die Polizei erlaubt. Zum Beispiel über die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. Totgeschwiegen wird von den Medien, auch von der Wochenzeitung, dass über 2500 Architekten, Ingenieure eine neue Untersuchung der Terrorattacken vom 11. September 2001 verlangen, da der offizielle 9/11 Untersuchungsbericht der US-Regierung durchzogen ist von zahlreichen Ungereimtheiten und Absurditäten.
    Siehe auch: http://www.ae911truth.ch
    Immerhin: Laut einer Umfrage der Zeitung 20 Minuten glauben 56,8 Prozent der in der Schweiz Befragten, dass die US-Regierung die 9/11 Terroranschläge inszeniert hat oder im Voraus Bescheid wusste. Siehe: http://www.20min.ch/community/stories/story/25408205

  • am 24.05.2016 um 17:58 Uhr
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    Für das Verstehen von Gräueltaten wie jene von Rupperswil halte ich das Konzept der perinatalen Matrizen von Stan Grof für sehr hilfreich. Es ist das einzige Konzept, das ich kenne, dass Sinn macht, um derartiges Verhalten erklären zu können.
    Ob Kriegsspiele, ~Filme, und ~Geschichten grundsätzlich und immer die Aggressivität fördern und die Grenze zwischen Realität und Fiktion zum Verschwinden bringen, möchte ich bezweifeln. So wie ein Märchen, wo wilde Drachen Menschen auffressen, nicht zu einem Seelenschaden für das Kind führt, das dieses erzählt bekommt, so wird die Art der Spiele, Filme, etc. und die Art des Konsums sowie die Psyche des Konsumenten (set und settings) entscheidend sein, ob solche Tätigkeiten Aggressionen abbauen oder aufladen.
    (PS: an Frau Meier-Seethaler: ich glaube, das Problem liegt im Uterus, nicht im Patriarchat)

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