Kommentar
Wie umgehen mit dem «Islamischen Staat»?
Auf die Terroranschläge des sogenannten «Islamischen Staats» (IS) in Paris sowie gegen ein russisches Passagierflugzeug über Ägypten haben die meisten westlichen Regierungspolitiker und auch viele Medienkommentatoren mit mehr oder weniger martialischen Kriegserklärungen reagiert. Man werde den IS «vernichten» oder «eliminieren», verkündeten die Präsidenten Frankreichs und der USA, François Hollande und Barack Obama, und eskalierten umgehend die Angriffe ihrer Luftstreitkräfte auf die IS-Milizen in Syrien und im Irak. Ähnlich äusserte sich auch der britische Premierminister David Cameron, dem allerdings zunächst noch einige besonnene Abgeordnete in der eigenen konservativen Regierungspartei die erforderliche Parlamentsmehrheit für eine britische Beteiligung an den Luftangriffen verwehrten.
Erneut in der Falle des islamistischen Terrors
Nur wenig gemässigter bezeichnete auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck die Anschläge des IS als eine «neue Form des Krieges», in dem sich die angegriffene «zivilisierte Welt» nur mit militärischen Mitteln behaupten könne. Russlands Präsident Wladimir Putin stimmte in die Kriegsrethorik ein. Bereits seit Ende September bombardierten russische Kampfflugzeuge in Syrien nicht nur Ziele des IS, sondern zunächst vor allem diverse Oppositionsmilizen, die von den Streitkräften der Regierung von Bashar al-Assad bekämpft werden.
Mit diesen Reaktionen sind die genannten Regierungen erneut in die Falle des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus gelaufen. Genauso wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Am Tag nach diesen Anschlägen rief US-Präsident Georg Bush den «Krieg gegen den Terrorismus aus». Und fast alle Regierungen der anderen 192 UNO-Mitgliedstaaten unterstützen diesen «Krieg» – wenn nicht militärisch, so doch zumindest politisch. Wer damals dafür warb, die Terroranschläge nicht als «Kriegsakt» einzustufen, sondern als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», und die unmittelbaren Täter, Hintermänner und Finanziers mit allen verfügbaren nationalen wie internationalen juristischen und polizeilichen Mitteln zu verfolgen und vor Gericht zu bringen, wurde höhnisch ausgelacht oder als Weichei diffamiert.
«Krieg gegen den Terrorismus» ist gescheitert
14 Jahre später wäre eine kritische Bilanz des «Krieges gegen den Terrorismus» mehr als überfällig. Doch diese Bilanz wird von den kriegsbeteiligten Regierungen verweigert. Denn diese Bilanz fällt verheerend aus: Der bisherige «Krieg gegen den Terrorismus» ist gemessen an den damals erklärten Zielen nicht nur völlig gescheitert, sondern er hat sich als kontraproduktiv erwiesen und das Problem des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus und die von ihm ausgehende Bedrohung noch erheblich verstärkt. Für jeden – überwiegend durch Luft- und Drohnenangriffe der USA – getöteten tatsächlichen oder mutmasslichen Terroristen sind zehn neue nachgewachsen.
Und dieser Krieg hat seit seinem Beginn am 7. Oktober 2001 mit US-Luftangriffen auf Ziele des Al-Quaida-Netzwerkes von Osama bin Laden in Afghanistan eine enorme geographische Ausweitung erfahren: Inzwischen werden Ziele bekämpft in Pakistan, Mali, Libyen, Syrien, Irak,Somalia, Jemen, dem israelischen Gaza-Streifen und der ägyptischen Sinai-Halbinsel sowie weiterhin in Afghanistan. Die Ausweitung auf weitere Länder und Regionen ist absehbar. Ein Ende dieses Krieges oder gar ein Sieg sind nicht absehbar. Daher gibt es überhaupt keinen begründeten Anlass für die Hoffnung, die jüngste Eskalationsstufe dieses Krieges, nämlich die militärische Bekämpfung des IS mit dem Ziel seiner «Vernichtung» könne Erfolg haben. Zumal der IS in vielerlei Hinsicht stärker ist als alle islamistischen Terrorgruppen, die bis heute aufgetreten sind.
Verhandlungen mit allen Beteiligten
Der IS verfügt über weit mehr finanzielle Ressourcen und militärische Mittel (hochmoderne Waffen überwiegend aus US-Produktion, Kämpfer mit Erfahrung aus Aufstandskriegen sowie ehemalige hohe Offiziere der irakischen Armee, die seit 1980 vier klassische zwischenstaatliche Kriege geführt haben), sowie über eine hochmoderne Propagandamaschine, die sämtliche neuen und klassischen Medienformate sowie Kommunikationstechnologien für ihre Zwecke zu nutzen versteht. Vor allem aber ist das Ziel des IS, die Gründung und Ausweitung eines eigenen Staates – des Kalifats – um vieles attraktiver als der globale Dschihad, den Al-Qaida und andere Organisationen propagieren.
Aus Teilen der Friedensbewegung werden Verhandlungen mit dem IS vorgeschlagen. Diesen Vorschlag wird – manchmal mit grosser Empörung – entgegen gehalten, man dürfe mit Menschen, die so schwere Greueltaten begehen und Frauen so verächtlich behandeln wie der IS, niemals verhandeln. Ähnliche Reaktionen gab es auch schon in den 2000er Jahren auf damalige Vorschläge, mit den Taliban in Afghanistan zu verhandeln. Diese Reaktionen sind zwar emotional verständlich. Aber grundsätzlich gilt und zeigen auch alle einschlägigen Erfahrungen der Vergangenheit: Wer einen Gewaltkonflikt deeskalieren und beenden will, muss zu Gesprächen und Verhandlungen mit ausnahmslos allen Beteiligten an diesem Konflikt bereit sein. Wobei man sich natürlich rote Linien für derartige Gespräche und Verhandlungen setzen muss.
IS hat keinerlei politische Forderungen
Im aktuellen Fall des IS stellt sich das Problem aber genau umgekehrt und damit sehr viel schwieriger. Der IS hat überhaupt keine Veranlassung, mit irgend jemandem zu verhandeln – einmal abgesehen von Verhandlungen über Lösegeldforderungen für entführte Personen. Denn im Unterschied zu sämtlichen Organisationen, Gruppen, Netzwerken oder Personen, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges als Terroristen bezeichnet und behandelt wurden – wie aktuell die Taliban, die PKK in der Türkei, die Tamil Tigers in Sri Lanka oder früher die PLO unter Yassir Arafat, die IRA in Nordirland oder Nelson Madelas Befreiungsbewegung ANC in Südafrika während der Apartheid – hat der IS keinerlei politische Forderungen an irgendeine Adresse.
Der IS schafft einfach Tatsachen – nämlich sein Kalifat – und bemüht sich, dieses Kalifat zu konsolidieren und geographisch auszuweiten. Selbst wenn es zu Gesprächen mit dem IS kommen sollte: Was wäre der Gesprächsgegenstand, was die Verhandlungsmasse? Soll man dem IS etwa anbieten: Ihr dürft die Millionenstadt Mossul im Nordirak behalten, dafür verpflichtet ihr Euch aber dazu, keine Menschen mehr zu enthaupten?
Anerkennung des Schurkenstaats?
Wenn politische Verhandlungen mit dem IS nicht möglich sind und der IS auch mit militärischen Mitteln nicht überwunden werden kann – welche Optionen bleiben dann? Etwa die Anerkennung des IS und des von ihm gegründeten Kalifats? Die italienische Terrorismusexpertin Loretta Napoleoni befürchtet in ihrem Buch «Die Rückkehr des Kalifats – Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens» (Rotpunkt Verlag Zürich, 2015), dass es zu diesem Punkt kommen könnte. Sie schreibt:
«Ist es denkbar, dass europäische Staatsoberhäupter al-Baghdadi eines Tages die Hand schütteln werden? Auch wenn dieser Gedanke abwegig ist: Auch das Unwahrscheinlichste kann möglich werden – ausreichend Konsens vorausgesetzt. Zur Zeit der Abfassung dieses Buches (Juni – September 2014, Anm. von Andreas Zumach) sind Verhandlungen mit dem Islamischen Staat ausgeschlossen. Aber sollte der Irak aufgeteilt werden, und sollte es dem IS gelingen, in den sunnitischen Gebieten Syriens und des Irak seinen eigenen Staat zu gründen, und von hier nach Jordanien, in den Libanon oder in andere wichtige Regionen vorzudringen, wird sich das Bild fundamental ändern.
Würde der Rest der Welt einen Schurkenstaat an den Toren Europas und Israels zulassen? Und könnte dieser Proto-Staat, erschaffen durch barbarische Gewalt, dank eines internen Konsenses jemals über die notwendige Legitimität verfügen um den Schritt zu einem modernen Staat zu vollziehen? Wenn dies der Fall ist, wäre es dann nicht besser, einen solchen Staat in die internationale Gemeinschaft zu holen und ihn dadurch zur Respektierung des Völkerrechts zu zwingen, bevor der die Karte des Nahen Ostens zu unserem Nachteil völlig neu zeichnet? Denn es stehen nicht nur Syrien und der Irak auf dem Spiel. Die Angst der Golfstaaten vor dem Vorrücken des Kalifats in die Nähe ihrer Landesgrenzen scheint auf die potenziell revolutionäre Kraft des IS in diesen Ländern zu verweisen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Schurkenstaat und seine despotischen Anführer eine solche Transformation vollbringen – Libyens Muammar al Gaddafi beispielsweise war von der Staatengemeinschaft anerkannt. Doch es wäre das erste Mal in der Geschichte, dass ein Staat aus reinem Terrorismus und einem vormodernen Eroberungsfeldzug geboren wird.» Soweit Loretta Napoleoni.
Erster Schritt: Den Krieg in Syrien beenden
Wer die Vorstellung einer Anerkennung des IS für noch unrealistischer oder empörender hält, als den Vorschlag von Verhandlungen mit der Terrormiliz, der sollte sich für die einzige Handlungsoption engagieren, die Aussicht auf Erfolg verspricht: Die Austrocknung des IS und seines riesigen potentiellen Nachwuchsreservoirs nicht nur in Syrien und im Irak, sondern im gesamten Krisenbogen zwischen Marokko und Pakistan. Kurzfristig bedeutet das zunächst, den Krieg in Syrien zu beenden. Denn dieser Krieg ist der aktuell wichtigste Nährboden für den IS.
Ein Ende dieses Krieges wird es aber nur geben, wenn alle Staaten, die durch Luftangriffe, durch die Lieferung von Waffen, Geld und Kämpfern an die eine oder andere innersyrische Konfliktpartei oder logistische Unterstützung unmittelbar oder mittelbar an diesem Krieg beteiligt sind, ihre Beteiligung endlich beenden. Das meint in erster Linie die USA, Frankreich und Russland sowie Syriens Nachbarstaaten Saudiarabien, Iran und Türkei sowie Katar. Aber auch Staaten wie Deutschland oder die Schweiz sind durch ihre Rüstungslieferungen an die stark in den Syrienkrieg involvierte Länder Saudiarabien und Katar an diesem Krieg mittelbar beteiligt.
Zweiter Schritt: Tragfähige Volkswirtschaften
Mittel-und langfristig müssen aber die Staaten im gesamten Krisenbogen von Marokko bis Pakistan wirtschaftlich und damit dann auch politisch stabilisiert werden. Das geht nur, wenn die Länder in dieser Region auch tragfähige nationale Volkswirtschaften entwickeln, die die eigene Bevölkerung ernähren und die wesentlichen Grundbedürfnisse wie Gesundheitsversorgung, Bildung, menschenwürdige Unterkünfte und Sicherheit befriedigen können. Diese materielle und soziale Sicherheit ist unerlässliche Vorbedingung für die Entstehung von stabilen politischen Strukturen, Demokratie und Gewaltenteilung.
Heute leben im Krisenbogen von Marokko bis Pakistan Millionen von Menschen in völlig prekären Verhältnissen ohne jede positive Lebensperspektive. Unter diesen Bedingungen hat auch Religion eine ganz erhebliche Bedeutung für die eigene Identität, ja ist oft das einzige, das den Menschen Halt gibt. Das schafft die Anfälligkeit für islamistische Verführer. Solange das so bleibt, existiert in dieser Region ein nahezu unerschöpfliches potentielles Nachwuchsreservoir aktuell für den IS oder Al-Qaida und künftig für neue islamistische Terrorgruppen. Selbst wenn es – wider Erwarten –gelingen sollte, den IS mit militärischen Mittel auszuschalten, wie die Regierungen des Westens und Russlands seit den jüngsten Anschlägen suggerieren, wäre das Problem des islamistisch gerechtfertigen Terrorismus überhaupt nicht überwunden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Andreas Zumach ist spezialisiert auf Völkerrecht, Menschenrechtspolitik, Sicherheitspolitik, Rüstungskontrolle und internationale Organisationen. Er arbeitet am europäischen Hauptsitz der Uno in Genf als Korrespondent für Printmedien, wie beispielsweise die tageszeitung (taz), Die Presse (Wien), die WoZ und das St. Galler Tagblatt, sowie für deutschsprachige Radiostationen und das Schweizer Fernsehen SRF. Bekannt wurde Zumach 2003 als Kritiker des dritten Golfkrieges. Im Jahr 2009 wurde ihm der Göttinger Friedenspreis verliehen.
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