Kommentar
Korruption im Spitzensport hat Geschichte
Red. Walter Aeschimann ist freier Publizist und Sporthistoriker in Zürich. Er hat auch frühere Skandale genau verfolgt.
Am 22. Juli 1961, einem für die Saison empfindlich kühlen Samstagabend, tat die Zürcher Gewerbepolizei endlich ihre Pflicht. Nicht etwa im Rotlichtmilieu im Kreis 4. Ihr Ziel war die offene Rad-Rennbahn in Zürich-Oerlikon. Eine halbe Stunde vor Beginn der Schweizer Bahnrad-Meisterschaften führte sie bei Fahrern und Betreuern eine amtliche Arzneimittelkontrolle durch. Sie fand alles – und dies in grösseren Mengen – was damals an Pharmaka im Umlauf war, um sich zu dopen: Pervitin, Benzedrin, Morphium.
Sportbehörden und Journalisten, die schon lange von den Machenschaften wussten, gaben sich schockiert über die Tricksereien und kritisierten zugleich die staatliche Einmischung in den Sportbetrieb. Toleriert wurde dies so lange, weil der Sport damals boomte und es für die Zuschauer munter war, wenn neben dem Wettkampfsport manchmal ein Fahrer zugedröhnt vom Velo kippte oder die Orientierung verloren hatte.
Aber die unvermutete Amtshandlung war letztlich unausweichlich. Die Zustände auf der Betonbahn gerieten derart aus dem Ruder, dass sie auch in den Beamtenstuben nicht mehr geduldet werden konnten.
Nach Oerlikon die Tour de France
Die Operation in Oerlikon gilt als eine der ersten, in denen staatliche Gewalt in den Spitzensport eingegriffen hat. Dies ist selten genug der Fall, aber wenn es geschah, war es, zumindest zwischenzeitlich, ziemlich effektiv. So auch bei der so genannten Festina-Affäre 1998. Diese wurde am Mittwoch, 8. Juli, im Vorfeld der Tour de France durch die ordinäre Kontrolle eines Autos am belgisch-französischen Übergang in Neuville-en-Ferrain angestossen. Die Zöllner fanden mehr als 400 Ampullen EPO, darunter 10 Ampullen Eprex 400, 129 Ampullen Neo-Recormon 2000, 85 Ampullen Irantin 2000, das Anabolikum Panteston, 82 Dosierungen des Wachstumshormons Saiten, der Blutverdünner Hyperlipen und das Kortikoid Synacthen.
Der Autofahrer war Willy Voet, Pfleger des Radsportteams Festina und die Pharmaka sollten die Professionals der Tour de France versorgen. Der zuständige französische Jurist Patrick Keil behandelte den Fall korrekterweise wie ein normales Drogendelikt, flächendeckende Dopingpraktiken wurden öffentlich und das wirtschaftlich glänzend florierende Unternehmen Tour de France geriet an den Rand des Zusammenbruchs.
Der Radprofi Lance Armstrong schliesslich kam 2012 nur zu Fall, weil er zu dreist geworden war, seine Karriere eh zu Ende ging und ihn die Sportindustrie nicht mehr brauchte. Die Untersuchungen erfolgten nun auf allen Ebenen und ergaben, dass Armstrongs Dopingpraktiken systemisch und nur möglich waren, weil sie von offizieller Seite jahrelang begünstigt und toleriert worden waren.
Fifa: Lange zugeschaut
Nicht anders verhält sich nun mit dem so genannten «Fifa-Skandal» von letzter Woche. Das System des Weltfussballverbandes (Fifa) – auch jenes anderer Weltsportverbände – hält sich derart lange, weil es von Politik, Wirtschaft und Medien begünstigt oder pfleglich behandelt wird. Nun hat die Fifa-Spitze den Bogen womöglich überspannt und vielleicht bedeutet der jüngste Skandal eine Wende.
Die Schweizer Kantonspolizei verhaftete auf Antrag der US-Ermittlungsbehörde FBI im Zürcher Fünf-Sterne-Hotel Baur au Lac sieben hochrangige Fifa-Funktionäre. Diese sitzen nun in Auslieferungshaft. Die Anklage lautete auf korrupte Machenschaften und Bestechungsgelder in Dollar und Millionenhöhe, die hin und her geflossen sein sollen. Die Schweizer Beamten hätten von sich aus kaum gehandelt, aber sie hatten keine andere Wahl. Die Schweiz hat 2009 die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert. Darin verpflichtete sie sich, Korruption auch im Privatsektor gemeinsam zu verfolgen. Artikel 21 des völkerrechtlichen Vertrages besagt: Ruft die Justiz des einen Staates, müssen die Kollegen im Partnerstaat Korruptionsverdächtige ausliefern. Ausreden, diesem Begehren nicht zu entsprechen, gibt es nur in Ausnahmefällen: Wenn die mutmassliche Tat nicht im Recht beider Staaten verboten ist, wenn die Anschuldigung nur sehr leicht wiegt oder wenn die Juristen einen eigenen Staatsbürger ausliefern müssten. Der letzte Punkt hat möglicherweise den Schweizer Fifa-Präsident Joseph Blatter vor der Verhaftung bewahrt.
Professor Pieth als Feigenblatt missbraucht
Warum der staatliche Zugriff erst oder gerade jetzt erfolgte, kann nur vermutet werden. (Der Zeitpunkt, kurz vor der Fifa-Wahl des Präsidenten, scheint medienmässig geschickt gewählt.) Denn korrupte Praktiken sind längstens aktenkundig oder stehen mit begründetem Verdacht im Raum (siehe Kasten). Bislang war es Blatter und seinen Verbündeten stets gelungen, Behörden und Öffentlichkeit mit PR-Massnahmen hinzuhalten und zu besänftigen, mit dem Versprechen, dass alles besser wird. So etwa, als Blatter vor einigen Jahren in höchster Not den bekannten Schweizer Strafrechtsprofessor Mark Pieth beauftragte, neue juristische Fifa-Strukturen zu entwerfen, die künftig mafiöse Machenschaften verhindern sollten. Pieth liess sich gutgläubig vor den Fifa-Karren spannen, bis er feststellen musste, dass die Vorschläge hintertrieben oder nur schleppend umgesetzt wurden oder unter den Konvoluten von Absichtserklärungen und Reglementen zu ersticken schienen. Sein Entwurf einer internen Ethikkommission – öffentlich als unabhängig verkauft – blieb wirkungslos, weil die Fifa-Exekutive kein wirkliches Interesse an einer transparenten Arbeit hat. Pieth sah sich vom Präsidenten als Feigenblatt missbraucht und beendete die Zusammenarbeit.
Bericht bleibt in Fifa-Schubladen verschlossen
Ähnlich erging es dem US-amerikanischen Juristen Michael J. Garcia. Garcia hatte einen tadellosen Ruf als korrekter, unerbittlicher Ermittler, als ihn Blatter zum Vorsitzenden der Ethikkommission ernannte. Er erhielt ab 2012 den Auftrag, die Korruptionsvorwürfe rund um die WM-Vergaben 2018 und 2022 an Russland und Katar Fifa-intern zu untersuchen. Das Fifa-System, dachte sich Blatter wohl, würde ihn schon schleifen. Garcia lieferte im September 2014 einen 350-seitigen Bericht, der wie gewohnt in den Fifa-Schubladen zu verschwinden drohte. Stattdessen veröffentlichte die Fifa im November eine eigene «Zusammenfassung», in der im Wesentlichen stand, dass die Korruptionsvorwürfe unbegründet seien. Dies liess sich Garcia nicht gefallen. Er forderte öffentlich die Publikation des ganzen Berichtes und kritisierte, dass die Zusammenfassung fehlerhaft sei und wesentliche Punkte fehlen würden. Er verliess die Fifa. Womöglich war der Umgang mit Garcia eine Blatter-Dreistigkeit zu viel. Denn es ist gut möglich, dass Garcia von nun an mit dem FBI zusammen arbeitete und sein Wissen zum Zugriff von vergangener Woche führte.
Wie es weiter geht, ist ungewiss. Blatter ist für vier weitere Jahre als Fifa-Präsident gewählt und verspricht einmal mehr, noch härter gegen «die korrupten Einzelfälle» vorzugehen. Aber geregelt werden die Unappetitlichkeiten wie zuvor in der «Familie», alles andere sowieso. Der Verband wird weiterhin eigene Regeln machen, Gesetze schreiben, eigene Gerichtsbarkeiten einsetzen. Er verteilt als supranationale oder parastaatliche Organisation wie eine Regierung das eingenommene Geld an die Mitgliedsprovinzen, um sich deren Willfährigkeit zu erkaufen. Er kann nationale Verbände ausschliessen oder aufnehmen, Spieler sperren oder begnadigen. «Stellt jemand diese Regeln infrage, greift die Fifa bis zum letzten Dorfverein durch und lässt Zwangsabstiege von den nationalen Verbänden exekutieren» (Süddeutsche Zeitung).
Mit oder ohne Blatter: Das System bleibt
Aber auch ein Rücktritt oder die Abwahl Blatters hätte nicht viel bewirkt, solange die Fifa mit ihrem Milliardenumsatz als privatrechtlicher Verein bestehen bleibt. Die Fifa ist ein wirtschaftliches Unternehmen wie andere Weltkonzerne und müsste auch so behandelt werden. Sie müsste gezwungen werden, sich mit dem Rechtsverständnis der realen Welt zu befassen. Nur scheint keiner der involvierten Akteure interessiert, dass sich dieses System ändern möge.
Die zuständigen Zürcher Magistraten, die der Fifa seit Jahren eine Vorzugsbehandlung auf dem Zürichberg gewähren, verhielten sich in der letzten Woche dezent im Hintergrund. Der Sport-Vertreter aus Bern, SVP-Bundesrat Ueli Maurer, fraternisierte beim Fifa-Kongress mit Blatter und gratulierte zum neuerlichen Wahlerfolg. Die Fifa-Partner aus der Wirtschaft zeigten sich zwar «besorgt» (Coca Cola) und «enttäuscht» (Kreditkartenanbieter Visa) und die negativen Schlagzeilen seien «nicht gut für den Fussball», wie Adidas mitteilen liess. Ein Ausstieg aus dem Geschäft steht aber nicht zur Diskussion.
Die grossen Medien haben versagt
Von den Medien als Vierte Gewalt im Staat ist auch nicht viel zu erwarten. Neben reflexartigen Empörungstexten ist wenig kritisches erschienen. In die TV-Talk-Runden werden nur Insider eingeladen, die mit der Fifa verbandelt sind und waren, oder unwissende Politiker. Wie etwa am Sonntag-Abend in der ARD bei Günther Jauch, wo neben einem aktuellen Fifa-Angestellten mit dem Pseudokritiker Guido Tognoni ein ehemaliger Fifa-Direktor sass, zusammen mit dem Journalisten Marcel Reif, der vom Fussball lebt und der Grünen Politikerin Claudia Roth, die nichts Substantielles wusste. Wer eine solche Runde zusammenstellt, hat kein Interesse an Aufklärung.
Der Tages-Anzeiger publizierte einen wohlwollenden Artikel über Fifa-Pressesprecher Walter de Gregorio. Der für den Text zuständige Autor hielt mit seiner klammheimlichen Bewunderung für den ehemaligen Kollegen nicht zurück, ein Kollege, der illegale Mafia-Machenschaften öffentlich schönredet und sich zum Komplizen macht. Am ehesten getrauen sich seit Jahren die Süddeutsche Zeitung oder angelsächsische Medien wie BBC, Guardian und New York Times kritische Recherchen zu veröffentlichen. Investigative Journalisten wie etwa der Schotte Andrew Jennings erhalten längst keinen Zugang zu Fifa-Anlässen mehr und werden bei jeder Gelegenheit mit Strafklagen eingedeckt. Gemäss seinem Twitter-Eintrag hat Jennings dem FBI mit belastenden Fifa-Dokumenten ausgeholfen, damit diese sinnvoll verwendet würden. Das Publikum schliesslich, der mächtigste aller Akteure, funktioniert als Drohkulisse auch nur beschränkt. Ein völliger Verzicht auf Sportkonsum, das wirksamste aller Mittel, ist illusorisch.
Reformversprechen sind bisher immer versandet
So bleibt allein die vage Hoffnung auf die Reform von innen. Nach Sport-Skandalen wird sie jeweils angekündigt und bleibt doch reine PR-Aktion, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Mit System, wie die Geschichte zeigt. Nach der Razzia in Zürich-Oerlikon hatte der Schweizerische Landesverband für Sport sofort ein Komitee zum «Studium des Dopingproblems» initiiert und dafür 3000 Schweizer Franken gesprochen. Die Aktion blieb wirkungslos.
Im Anschluss an die Festina-Affäre hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) eilig eine Welt-Antidoping-Agentur (Wada) gegründet. Die Mitgliederverbände zogen nach und initiierten nationale Agenturen. Doch letztlich sind es von den Verbänden ausgelagerte PR-Instrumente, spezialisiert darauf, den öffentlichen Doping-Diskurs zentral zu steuern oder einzudämmen. Sie haben keinerlei rechtsstaatliche Mittel, um Doping strafrechtlich zu verfolgen. Auch die letzte Sportinstanz, das internationale Sportgericht in Lausanne, ist ein Privatgericht ohne demokratische Legitimation. Da Lance Armstrong als Einzeltäter und besonders infamer Betrüger galt und von den Medien öffentlich auch so behandelt wurde, bedurfte es nach 2012 im Radsport nicht einmal einer Image-Korrektur.
Ankläger wurde zum Angeklagten
Deshalb sind die FBI-Ermittungen möglicherweise ein Ansatz, das System zu ändern. «Dies ist erst der Anfang», versprach die US-Justizministerin Loretta Lynch. Wenn sie standhaft bleibt, geht sie volles Risiko. Marie-George Buffet, Kommunistin und damals französische Ministerin für Jugend und Sport, hätte die Festina-Affäre beinahe das Amt gekostet. Denn gleichzeitig fand 1998 die Fussball-WM in Frankreich statt und die Festina-Ermittlungen förderten unappetitliche Gemeinsamkeiten zwischen Rad- und Fussballprofessionals zutage, was den frisch gewählten Blatter damals schwer erzürnte.
Der Jurist Patrick Keil, ein 1,57 Meter grosser Mann mit standfester Arbeitsethik, verlor gar alles, was sein Leben bisher bestimmte: Arbeit, Familie und die Würde. Schon im Verlaufe der Untersuchungen wurde er behördlich schikaniert, die Berufs-Kollegen distanzierten sich. Später die Familie. Nach den Prozessen im Oktober 2000, die mit Freisprüchen, geringen Bussen und kleinen Bewährungsstrafen für die Verhafteten endeten, verlor Keil seinen Posten und fand keine Anstellung mehr. Zudem hatte er eine Klage wegen angeblicher Bestechlichkeit am Hals und musste drei Monate ins Gefängnis. Schliesslich wurde er psychisch krank. 2009 schrieb er ein Buch mit dem Titel «Du barreaux aux barreaux», vom Ankläger zum Angeklagten. Mit dem Sportsystem hat sich noch keiner angelegt und ist heil davon gekommen.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann ist freier Autor und Sporthistoriker
Noch vor der Haussuchung in der offenenen Rennbahn Oerlikon, wo ich seit 1958 Rennen besuchte, schockierte Zollüberprüfung von Luxemburgs Jahrhundertsportler Charly Gaul am 2. Juli 1959 vor Beginn der Tour de France, damals immerhin als aktueller Giro-Sieger und Titelverteidiger der Tour. Es kam eine riesige Menge Aufputschdrogen an den Tag, welche zwar beschlagnahmt wurden, jedoch den Start des trotzdem menschlich eindrucksvollen «Engels der Berge», von Roland Barthes «Rimbaud du cyclisme» genannt, nicht verhinderten. Dabei konnte Gaul den Titel nicht verteidigen und es ging innerhalb weniger Jahre mit ihm rapide abwärts. Gemäss seinem zeitweiligen Mannschaftskollegen Carlo Clerici (Girosieger 1954) hat Gaul wie kaum einer systematisch «Pillen geschluckt», was mir Clerici noch kurz vor seinem Tode erzählte. Doch waren freilich die Leistungen der grossen Radsportler der 50er Jahre teilweise schlicht übermenschlich, was nicht nur die legendäre Giro-Etappe vom Monte Bondone im Juni 1956 bei Schnee und Eis bestätigte, als beinahe zwei Drittel des Feldes das Rennen aufgaben. Die Gesundheit von Hugo Koblet (Giro 1950, Tour de France 1951, 3 Siege in der Tour de Suisse und vor Federer wohl der charismatischste Sportler der Schweiz) wurde schon 1952 auf ausdrücklichen Wunsch der Tour de Suisse-Rennleitung dauernd beschädigt, weil man nicht wollte, dass der Star aufgebe. Selbst auch Kübler hat zumindest auf dem Mont Ventoux mal beinahe ausgesehen wie das spätere Opfer Tom Simpson.