Kommentar
Ungleichheit lähmt die Wirtschaft
«Das Pariser Sekretariat der OECD droht zunehmend Töne anzuschlagen, die geradezu klassenkämpferisch anmuten», jammert die «NZZ» – und das mit gutem Grund. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stellt in ihrem neuesten Bericht fest, dass die wachsende Ungleichheit nicht nur moralisch ein Problem ist, sondern zunehmend auch eine Gefahr für die Weltwirtschaft wird.
Für die neoliberale Ökonomie ist das Tabubruch und Verrat in einem. Die OECD ist eine Art oberste Instanz. Sie bestimmt die reine Volkswirtschafts-Lehre, und wenn sie jetzt Ungleichheit als Wachstumsbremse deklariert, dann stellt sie einen zentralen Pfeiler der herrschenden Ideologie in Frage. Es ist etwa so, wie wenn der Vatikan die unbefleckte Empfängnis Marias anzweifeln würde.
Die Fakten sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Im Bericht mit dem Titel «In it together: Why Less Inequality Benefits All» hält die OECD fest, dass die wachsende Ungleichheit das Wachstum in den OECD-Staaten zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte vermindert habe. Das deutsche Bruttoinlandprodukt (BIP) etwa würde heute 6 Prozent höher liegen, gäbe es mehr Gleichheit.
Solche Töne hörte man bisher primär aus der linken Ecke. Vor Jahresfrist sorgte Thomas Piketty mit seinem Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» weltweit für Schlagzeilen. Darin weist er die wachsende Ungleichheit in den modernen Industriegesellschaften empirisch nach. Piketty wurde jedoch von einer Gegenpropaganda-Lawine förmlich niedergewalzt.
Dasselbe geschieht regelmässig mit Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und ehemaliger Chefökonom der Weltbank. Auch er hat die «Mehr-Ungleichheit-gleich-weniger-Wachstum»-These in mehreren Büchern durchexerziert – und wird dafür ebenso regelmässig in die linke Exoten-Ecke gestellt.
Lausige Löhne – weniger Produktivität
Mit der OECD lässt sich das nicht so leicht machen, zumal sie auch von anderer, prominenter Seite Unterstützung erhält. Der «Economist» – weiss Gott keine marxistische Hochburg – hat kürzlich die gleiche These mit einer Fülle von Zahlen belegt. Zwei Beispiele:
● Trotz einer fünfjährigen Wachstumsperiode liegen die Reallöhne in den USA immer noch 1,2 Prozent unter dem Stand von 2009.
● In Deutschland liegen die Löhne durchschnittlich immer noch 2,4 Prozent unter dem Niveau von 2008. Generell hat sich der Anteil der Löhne am BIP in allen Industrienationen vermindert. Der gierige Banker sei nicht mehr das Feindbild, stellt der «Economist» fest. Er wird abgelöst vom «geizigen Boss, der die Hoffnungen seiner Angestellten mit lausigen Löhnen zerstört».
Die lausigen Löhne lähmen das Wachstum. Larry Summers, ehemaliger US-Finanzminister und Harvard-Ökonom, begründet seine These der «säkularen Stagnation» unter anderem mit einer schwindenden Binnennachfrage. Das ist nicht weiter verwunderlich: Wenn die Menschen kein Geld in der Tasche haben, dann konsumieren sie weniger, und wenn der Konsum einbricht, dann haben die Unternehmer keinen Grund zu investieren.
Geizige Bosse am Pranger
Diese an sich banale Einsicht zeigt langsam Wirkung. In den USA ist der Mindestlohn ein Mega-Polit-Thema geworden. Grossverteiler wie Walmart und Fastfood-Ketten wie McDonald’s haben die Mindestlöhne angehoben. Sie wollen damit zwei Fliegen auf einen Schlag treffen: Einerseits soll so die Binnennachfrage angekurbelt, andererseits auch die Produktivität der Mitarbeiter erhöht werden. Schlecht bezahlte Mitarbeiter sind auch wenig motivierte und damit wenig produktive Mitarbeiter. Auch das ist eine banale Einsicht.
Politisch ist in Sachen Mindestlohn viel in Bewegung geraten. Präsident Barack Obama will den nationalen Mindestlohn auf zehn Dollar pro Stunde erhöhen. Einzelne Städte gehen deutlich weiter: Seattle, San Francisco und neuerdings auch Los Angeles haben einen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde beschlossen. Und geizige Bosse sollen an den Pranger gestellt werden: Kalifornien will ab 2016 die Namen aller Unternehmer mit mehr als 100 Angestellten, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, veröffentlichen.
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Dieser Artikel erschien auf watson.ch.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Philipp Löpfe war früher stellvertretender Chefredaktor der Wirtschaftszeitung «Cash» und Chefredaktor des «Tages-Anzeiger». Heute ist er Wirtschaftsredaktor von Watson.ch.