Kommentar

Kulturkämpferische Töne im 21. Jahrhundert

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsGret Haller ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA- ASPE. ©

Gret Haller /  In der Europa-Frage geht es wie nach der Gründung des Bundesstaates 1848 um den Sinn für Realitäten kontra absolute Wahrheiten.

Eine Annahme der kürzlich lancierten Volksinitiative der SVP zum Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht würde mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention führen. Damit haben die Initianten nach dem Vorspiel der Zuwanderungsinitiative ihr Coming-out definitiv gewagt: Sie wollen die Schweiz aus der international gewachsenen Rechtsstaatlichkeit ausklinken und zu einer diesbezüglich anarchistischen Insel machen. Es kann nicht erstaunen, dass sich alle anderen Parteien sofort gegen die neuerliche Initiative in Stellung gebracht haben. Nur ein halbes Jahr vor den eidgenössischen Wahlen dennoch ein bemerkenswerter Vorgang.

Klärung der politischen Identität

Immerhin hat das Coming-out des national-konservativen Lagers zu einer Klärung geführt. Offensichtlich war die Ausländerfrage nur vorgeschoben, und es geht um viel Grundsätzlicheres. Man kann es als politische Identität dieses Landes bezeichnen. Übrigens ein gesamteuropäisches Phänomen, und auch diesbezüglich nimmt sich die Schweiz – wie in manchen anderen Bereichen – sehr europäisch aus. Auch Frankreich, Grossbritannien und andere Länder sind mit national-konservativen Bewegungen konfrontiert, welche vor allem die Europafeindlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Nun hat aber die Schweiz längere Erfahrung mit solchen identitären Konflikten. Die Gründung des heutigen Bundesstaates von 1848 geht darauf zurück, dass sich eine weltoffene Mentalität gegen das katholisch-konservative Lager durchgesetzt hatte, was zu identitären Verwerfungen führte. Kulturkampf nannte man das. Es war eine Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der katholischen Kirche, als diese auf das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit hinsteuerte. Zwischen Exponenten dieser dogmatisch orientierten Kirche und den Verteidigern des neugegründeten Staates gab es damals keinen Kompromiss.

Nationalismus mit absolutem Wahrheitsanspruch

Ähnlich unversöhnlich steht heute das national-konservative Lager in der Schweiz jener grossen Mehrheit gegenüber, welche die Tradition einer unverkrampften Welt- und Europaoffenheit weiterführen möchte, wie sie sich seit 1848 in diesem Land herausgebildet hat. Natürlich läuft die gegenwärtige Auseinandersetzung nicht entlang konfessioneller Grenzen. Dennoch trägt auch sie religiöse Züge. Wenn Exponenten des national-konservativen Lagers bestehende internationale Verflechtungen der Wirtschaft, des Rechts und der Politik hartnäckig ignorieren, leiden sie unter einer Wahrnehmungsverzerrung. Wahrnehmung der Realität wird ersetzt durch ihre Erkenntnis einer absoluten Wahrheit. Absolute Wahrheiten aber gehören in den Bereich der Religion. Dass Nationalismus immer auch durch religiösen Fanatismus unterfüttert ist, weiss man spätestens wieder seit den Kriegen der Neunzigerjahre auf dem Balkan.*

Kulturkampf betrifft eine Identität, die durch eine minoritäre Gruppe mit absolutem Wahrheitsanspruch diktiert wird. Ihre bevorzugte Methode ist die Verteufelung aller, die sich ihr nicht unterwerfen. Solche Entwicklungen zeichnen sich auch dann ab, wenn Nationalismus gegen Weltoffenheit steht. Noch schärfer wird der Gegensatz, wenn Nationalismus gegen Europaoffenheit steht, denn die EU wurde als Friedensprojekt eigens zur Überwindung des Nationalismus gegründet. Deshalb bildet die Verteufelung der Union für Nationalisten in allen europäischen Ländern das Kernstück ihres Programmes. Die längste Erfahrung mit diesem Phänomen hat Frankreich, wo schon Vater und nun auch Tochter Le Pen die Verteufelung der EU geradezu perfektioniert haben. Ob eine Le Pen-isierung nun auch in der Schweiz bevorsteht, werden die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden im Herbst entscheiden.

Dieser Beitrag ist erstmals als Editorial auf der Web-Seite der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE erschienen: www.sga-aspe.ch


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Gret Haller ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA- ASPE.

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8 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 30.04.2015 um 12:02 Uhr
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    Die heutigen Probleme mit der europäischen Union sind nun wirklich in keiner Weise mit der Gründung des Bundesstaates von 1848 zu vergleichen, da hat man eben halt gar keine Quellenkenntnis, was bei Joschka Fischer zwar normal ist, weniger bei Frau Haller. Wohl richtig sieht sie die Thematik des Kulturkampfes. Ein solcher findet sowohl innerhalb Europas als auch in der Schweiz statt. Der Verlag hier+jetzt startet zu dieser Thematik, mit Perspektiven aus dem 19. und 21. Jahrhundert, demnächst ein Buchprojekt.

  • am 30.04.2015 um 13:40 Uhr
    Permalink

    Pirmin Meiers Kommentare sind m.E. meist würzig, oft gut unterlegt, für regelmässige Leser aber zunehmend vorhersehbar und gelegentlich auch überflüssige, arg schulmeisterliche Schnellschüsse. Wie im Falle des Textes von Gret Haller. Meier kritisiert etwas, was Frau Haller gar nicht tut – die schweizerischen Probleme mit der Europäischen Union direkt zu vergleichen mit den Gründungswehen des Bundesstaates – um dann einräumen zu müssen, dass es wohl seine Richtigkeit habe, beides auch oder sogar vor allem als religiösen, bzw. quasi-religiösen Kulturkampf zu verstehen.
    Peter Egloff

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 30.04.2015 um 16:25 Uhr
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    Ich möchte Herrn Egloffs Kommentar sekundieren.

    Natürlich, wie Pirmin weiss, stamme auch ich aus einem sehr konservativen, Kulturkampf belasteten, Milieu, wie eben unser Freund Pirmin. Aber ich habe mich doch etwas in der Welt herumgeschaut und ich finde Gret Haller immer sehr bedenkenswert.

    Auch ich war ein paar Jahre lang bezahlt, alles besser als die anderen zu wissen. Aber dieser Teil der Schulmeisterei hat meiner Ehe und der darauf folgende professionellen Karriere nicht stand gehalten. Jetzt weiss ich, dass es immer auch andere, bedenkenswerte Standpunkte geben kann, selbst wenn ich intim immer noch von meiner Wahrheit überzeugt bin.

    Als ich in Genf lebte, dachte ich immer, dass die Berner doch den vernünftigen Forderungen der Jurassier nachgeben sollten. War ich dann übers Wochendende zurück im Kanton Luzern, fand ich dass die Jurassier doch übertrieben und dass ihre kulturellen Eigenheiten doch gar nicht so wichtig sein könnten, den alten «Fritz» zu köpfen oder gar die Berner «Justizia» zu verunglimpfen, vom Unspunnenstein gar nicht zu reden.

    Mittlerweile habe ich gereist und bin etwas gealtert. Ein Minimum an Toleranz scheint mit jetzt ein Minimum an Zivilisation zu reflektieren. Ich muss nicht unbedingt mit Faust 2 die Hoffnung auf Erkenntnis aufgeben, aber ich darf mir jetzt zugestehen auch andere Auffassungen zu respektieren ohne meine eigenen Werte in Frage zu stellen.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 1.05.2015 um 08:05 Uhr
    Permalink

    @Hunkeler. Was heisst da vom Kulturkampf belastet? Als Mitglied der Zschokke-Gesellschaft begleitete ich Werner Orts in zehn Jahren erarbeitete Zschokkebiographie , ein Hauptwerk zum Verständnis der Schweiz zwischen 1798 und 1848, ohne das man nun mal einfach nicht auf dem heutigen Stand der Forschung ist, ferner habe ich etwa 1000 Briefe und Akten von Steiger, Ochsenbein, und vor allem von Ignaz Paul Vital Troxler in den Archiven von BE, LU, AG usw. in der Hand gehabt und für die FDP des Kantons Luzern 2012 das Steigerjubiläum organisiert. Umgekehrt zeigte ich vorgestern der Seniorenvolkshochschule Luzern auf, wie der Parteiheilige der Luzerner Konservativen, Niklaus Wolf von Rippertschwand (1745 – 1832) in Sachen Selbstbornierung so weit ging, dass er Bibellektüre als gefährlich einschätzte, übrigens auch Gegner der Allgemeinen Schulpflicht war, jedoch zu Hause «Homeschooling» praktizierte einschliesslich Hausandachten. Andererseits war Philipp Anton von Segesser (gest. 1788) mutmasslich der bedeutendste Schweizer konservative Intellektuelle aller Zeiten, er hat ein gewaltiges Werk hinterlassen, ohne seine Aufzeichnungen kann man natürlich über die Sonderbundszeit kaum mitreden. Dabei war Segesser ein bedeutender Kritiker jeder Art von Schweizer Nationalismus, was man vielleicht auch zur Kenntnis nehmen sollte. Wie Schleuniger und Troxler war er jedoch gegen den Handelsvertrag mit Frankreich, die damaligen «Bilateralen», zum Teil leider auch mit antisemitischen Argumenten.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 1.05.2015 um 08:07 Uhr
    Permalink

    PS. Segesser ist 1888 gestorben.

  • am 1.05.2015 um 09:25 Uhr
    Permalink

    Die SVP wird hier völlig falsch verortet. Sie ist eines sicher nicht: NationalKONSERVATIV.
    Die nächsten Modelle liegen in der Richtung Faschismus, einer Steigerung des MODERNEN Nationalstaates in Richtung organisch/totalitär. Die hier geplante Veränderung im Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht ist am nächsten verwandt mit dem Unilateralismus der Bush Junior – Regierung. Nur halt eines Zwerges statt eines Riesen. Sie hat nichts Schweizerisches, sondern ist 08 15 bei allen Europäischen populistischen rechtsradikalen Parteien, wie den US-Republikanern.
    In unserer Geschichte gleicht die Situation nur dem Frontenfrühling, insbesondere auch was die Schwächung des liberalen Immunsystems betrifft.

    mfG
    Werner T. Meyer

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 1.05.2015 um 10:54 Uhr
    Permalink

    @Meyer. Die «Frontenbewegung» von 1933 war eine Jugendbewegung, von der damals viele Jungfreisinnige angesteckt waren, so im Aargau, ich habe einige der wichtigsten Repräsentanten noch gekannt und studierte ihre damalige Argumentation. Der Bundesrat galt für sie als «stumpfe Spitze», weswegen man die Exekutive gegenüber dem verachteten Parlament stärken wollte, auch den Föderalismus betrachtete man als veraltet, es galt «in grossen Dimensionen» zu denken. Ausserdem war man gegenüber Deutschen «vorurteilsfrei», man war seit der Zeit des 1. Weltkrieges deutschfreundlich geblieben. Insgesamt war also die Frontenbewegung progressiver und «weltoffener» als heutige SVP. Pfarrer Eduard Blocher, 1914 noch extrem deutschfreundlich, hielt Abstand, hingegen sympathisierten begabte Junge wie Emil Staiger, Verleger Otto Wanner, der spätere hochanständige Religionskritiker und Walserbiograph Robert Mächler, der Badener Bierbrauer Müller, der Zeltlifabrikant Disch von Othmarsingen, der spätere marxistische Schriftsteller u. Psychologe Franz Keller und noch viele andere, die gar nicht zur heutigen SVP passen würden, mit den Fronten, bei denen es wiederum doch sehr verschiedene Richtungen gab. Dichter Huggenberger, vom 3. Reich später stark beansprucht, war nie Frontist, doch befürwortete noch der 20jährige parteilose Dürrenmatt den Anschluss an Deutschland. Dabei passt Minarettverbot zum Radikalliberalismus von 1848, wo 7 Jesuiten zur Demonstration, was man nicht tolerieren wollte, genügten.

  • am 1.05.2015 um 22:16 Uhr
    Permalink

    "Die Liesel Gret Haller, erkenn ich am Geläut!» Was will sie uns mitteilen? Entsteht gar gemäss Gret Haller eine Verbrüderung zwischen den katholisch-konserativen Kräften der CVP und der eher referormierten SVP? Gret Haller befürchtet dies, zum Nachteil der Schweiz? Wird Gret Haller gar Christoph Blocher gar als «papsttreu» bezeichnen? Nein, liebe Gret Haller, lesen Sie endlich die Schrift an der Wand! (nachzulesen bei «Heinrich Heine – Belsazar")

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