Kommentar

Irak: seit dem US-Krieg eine Verhängnisspirale

Erich Gysling © zvg

Erich Gysling /  Der Einmarsch der USA in den Irak 2003 hat die Region nachhaltig destabilisiert. Die neuste Entwicklung ist eine Folge davon.

In den 90er Jahren gab es einen pazifistischen Slogan: «Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin». Er hat jetzt, in Irak, seine Verwirklichung gefunden: die Radikal-Islamisten von ISIS erobern eine Stadt nach der anderen und kontrollieren immer weitere Landstriche, und die irakische Armee zieht sich fast kampflos zurück. Wenigstens aus den Regionen, in denen mehrheitlich Sunniten leben. Wie sich die Situation entwickeln würde, wären die ISIS-Islamisten (unterstützt, das ist ganz wesentlich, von frustrierten, ausgemusterten Offizieren des alten Saddam-Regimes) schon in Bagdad oder würden sie versuchen, in die Schiiten-Hochburgen weiter südlich (Kerbala, Najaf) vorzudringen, ist eine andere Frage. Das würde der von Grossayatollah Sistani geforderte Abwehrkampf der Schiiten gegen die Sunniten wohl in blutige Abwehr-Schlachten umsetzen.

Osama bin-Laden träumte – vergeblich – davon, einen seiner fundamentalistischen Ideologie hörigen Staat zu gründen. Was ihm, glücklicherweise, versagt blieb, könnte nun aber Abu Bakr al-Baghdadi gelingen: ISIS* kontrolliert bereits einen fast zusammenhängenden Landstreifen von über tausend Kilometern in der weiteren Umgebung des Euphrat, und eine Stadt nach der anderen, in beiden Ländern, kapituliert beim Einmarsch von al-Baghdadis Kriegern. Selbst in der 3-Millionen-Stadt Mossul gab es kaum Widerstand, als die (geschätzten) 8 000 «Gotteskrieger» einzogen.

Weshalb die militärischen und strategischen Erfolge der einen Seite, weshalb die Passivität der Gegenseite? Es gibt mehrere Gründe:

1. Die Vernachlässigung breiter Bevölkerungsschichten durch die offiziellen Regime. In Syrien marginalisierte das Assad-Regime die Sunniten als Religionsgruppe und gewisse Provinzen als uninteressant. In Irak schloss der Schiiten-Politiker Maliki die Sunniten von der Machtbeteiligung und weitgehend auch von Beamtenkarrieren aus. Das begründete er meistens sehr salopp mit der Nähe vieler Sunniten zum früheren Saddam Hussein-Regime. Jetzt, in der Stunde der Wahrheit, solidarisieren sich viele ehemalige Saddam Hussein-Offiziere mit den Truppen al-Baghdadis und bringen ihre Erfahrungen in die ISIS-Einheiten ein. Wahrscheinlich sind bereits jetzt mehr alt-aktive Saddam-Soldaten und -Offiziere bei ISIS engagiert als hart gesottene Islamisten.

2. Das Machtvakuum: in Syrien kontrolliert das Assad-Regime etwa 40 Prozent des Landes – und interessiert sich vor allem für die grossen Städte im Zentrum und im Westen. Der Osten ist weniger dicht bevölkert, Assad überlässt ihn den miteinander rivalisierenden oppositionellen Kräften. Eine ideale Voraussetzung für ISIS! In Irak ist es, spiegelbildlich, ähnlich: Premier Maliki und dessen Armee konzentrieren sich auf die Region von Bagdad an südwestlich bis Basra – was eigentlich absurd ist, denn in diesen Gebieten leben vor allem Schiiten, und um die muss Maliki sich keine Sorgen machen. Weiter nordwestlich ist es aber schon seit Jahren kritisch und problematisch: Ramadi und Falluja bereits an ISIS verloren, Tikrit ebenfalls und jetzt auch noch Mossul.

3. Der Defätismus der irakischen Armee: 271 000 Mann unter Waffen, dazu noch 302 000 Polizisten – das sollte doch eigentlich reichen, eine ISIS-Truppe von einigen tausend Aktivisten zu besiegen, zurück zu schlagen? Offenkundig nicht. Diese Truppen sind demoralisiert, weil Maliki sie, parteilich ausgerichtet, vor allem dazu einsetzte, politische Gegner in Schach zu halten. Desertion ist längst alltäglich – ebenso alltäglich wie die Korruption rund um das Regime Malikis. Die USA überschwemmten Irak nach dem Krieg von 2003 gegen das Saddam Hussein-Regime mit zig-Milliarden – und ebenfalls zig-Milliarden wurden durch Korruption abgezweigt. Irak rangiert in Sachen Korruption auf der Liste der Transparency International auf Platz 171 von 177 erfassten Ländern – noch korrupter sind fast nur noch Libyen, Afghanistan und Jemen. Dazu kommen verheerende Versäumnisse in der generellen Entwicklung: grassierende Armut trotz Erdöl-Reichtum und miserable Rechtssicherheit. 2013 starben 9000 Menschen durch Terror, im Jahr 2014 sind es, bis jetzt im Juni, bereits wieder mehr als 4000. Muss man sich da wundern, dass viele Menschen sich einfach spontan einer neuen Machtgruppe zuwenden, die ihnen Gerechtigkeit und soziale Verantwortung verspricht – was ISIS wortreich tut?

Unverständlich bleibt auf der anderen Seite, dass sich in den von ISIS kontrollierten respektive tyrannisierten Regionen nichts mehr an Volks-Widerstand regt. Wo ISIS herrscht, wird eine – willkürliche – Extrem-Interpretation von Sharia-Gesetzen vollstreckt. Ist das populär oder nicht? Das kann von aussen schlicht nicht beurteilt werden.

Schwer verständlich ist anderseits die Haltung der USA: Sie waren es, die mit dem Krieg von 2003 die zentrale Region des Nahen Ostens, Irak, destabilisiert haben. Nun kann man gewiss argumentieren, dass der jetzige Präsident, Obama, nicht für die katastrophalen Entscheidungen von George W. Bush gerade stehen muss – aber eine zumindest moralische Verantwortung bleibt für das Handeln der US-amerikanischen Nation im Jahr 2003 und danach. Also müsste Obama vielleicht doch noch einmal über die Bücher gehen – sich selbst befragend, was im Rahmen seiner eigenen Wertvorstellungen noch möglich wäre. Obama fordert jetzt fünf Milliarden Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung fremder Truppen im Antiterrorkampf. Mit Geld möchte Obama die so genannten moderaten Gegner des syrischen Regimes unterstützen (im Hinterkopf jedoch wohl wissend, dass Waffen von den «Moderaten» ohne Skrupel an «Radikale» verkauft worden sind). Und in Irak, so gewisse Planspiele in den USA, könnte man mit Drohnen die ISIS-Einheiten bekämpfen. Das ist allerdings naiv – ISIS ist bereits in den grossen Städten präsent, in Hochhäusern und Wohnquartieren, und da kann man Drohnen zielgerichtet nicht einsetzen.

So bleibt es wohl bei Aufrufen, gut gemeinten Worten und wenigen Taten.

Und ISIS wird sich weiter ausbreiten – allerdings nicht jeden Tag und nicht mit Beständigkeit. ISIS taktiert ähnlich wie die Mujaheddin in Afghanistan während des Kampfs gegen die Sowjet-Russen in den achtziger Jahren: erkennt man Stärke, geht man in die Offensive; sieht man den Gegner als zu stark an, zieht man sich vorübergehend zurück. Wohin? Ins Privatleben. Kein ISIS-Kämpfer hat eine entsprechende Tätowierung, alle können sich fluktuierend vom einen Lager ins andere begeben.

Es ist und bleibt ein asymmetrischer Krieg. Gegen den es nur ein Rezept gäbe: soziale Verantwortung des Staates für Alle, auch für die Angehörigen von Minderheiten; Fairness und Chancengleichheit. Alles Elemente, zu deren Aufbau viele Jahre notwendig wären. Diese Jahre stehen nicht zur Verfügung, und ein Wille, etwas Konkretes in diesem breiten Feld zu erreichen, ist bei den tonangebenden Politikern, leider, auch nicht zu erkennen.

Was also ist zu erwarten? Wahrscheinlich der Zerfall Iraks in drei Regionen (der Süden plus Bagdad von den Schiiten dominiert, der Nordwesten von Sunniten in Zusammenarbeit mit Extrem-Islamisten, der Norden kurdisches Autonomiegebiet), möglicherweise sogar ein lang andauernder Bürgerkrieg wie jetzt in Syrien, früher in Libanon. Und eine generelle Destabilisierung der ganzen Region, mit der problematischen Option, dass Iran sich an der Seite der Schiiten Malikis im Irak engagieren könnte.
Keine rosigen Aussichten – und nichts an Glück verheissenden Optionen für die USA, die mit ihrem Krieg von 2003 die ohnehin schon labile Region schwerwiegend destabilisiert haben.

* ISIS: Islamischer Staat in Irak und Syrien, arabisch, in der Umschrift, daulat-al-islamiy fii ‚iraq ua ash-shaam


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

ISISKmpfer_2

Der «Krieg gegen den Terror» im Irak forderte 500'000 Todesopfer

USA, Iran, Türkei, Saudis, Europa und Russland mischten und mischen im ölreichen Irak mit. Noch immer sind Teile des Landes besetzt.

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