Kommentar

Verteidigung der Demokratie gegen ihre Verächter

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsKeine. Aurel Schmidt war bis 2002 Redaktor der «Basler Zeitung» (vorher «National-Zeitung»). Er war mitverantwortlich für ©

Aurel Schmidt /  Immer häufiger werden bürgerliche Rechte und Freiheiten auf Schleichwegen umgangen. Dagegen gilt es sich zu wehren.

Die Demokratie an ihrer Effizienz zu messen ist genauso verkehrt wie dem Parlamentsbetrieb Leerlauf anzukreiden. Es geht hier nicht um ein Wirtschaftsunternehmen, das bestimmte Ziele verfolgt, denen der Geschäftsverlauf untergeordnet wird, sondern darum, Lösungen für die divergierenden Interessen der Menschen zum Wohl der Allgemeinheit zu finden. 
Dass das Parlament gelegentlich als Schwatzbude bezeichnet wird, ist etymologisch zutreffend, im übrigen aber abschätzig. Manchmal muss man über gewisse Dinge reden, weil es Klarheit schafft. Einer wie Christoph Blocher hat es leicht, das Parlament als Plattform herabzumachen. Ihm steht ein eigener Fernsehkanal zur Verfügung, vielen anderen nicht. Das ist ein Unterschied.
Nachhilfe für Gauck
Demokratie ist ein grosses, oft strapaziertes Wort. Auch wenn man manchmal etwas an ihr kritisieren möchte, muss man sie doch um jeden Preis gegen ihre Verächter verteidigen. Denn immer häufiger werden die unter dem Begriff Demokratie versammelten bürgerlichen Rechte und Freiheiten, die der englische Philosoph John Locke als Fundament des sich konstituierenden Bürgertums nominiert hatte, heute infrage gestellt oder auf Schleichwegen umgangen.
Kürzlich hat sich der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Besuch in der Schweiz skeptisch über die Direkte Demokratie geäussert. Die Menschen seien zu wenig gut unterrichtet, um bei allen Fragen mitreden zu können, meinte er in seiner gewohnt pastoralen Art. Ärger hätte er die Schweizer Staatsform nicht desavouieren können. Den «Gripen» hat das Volk abgelehnt, die Mindestlohn-Initiative ebenfalls. Keine schlechten Reifezeichen. Mit gemessenen Worten hat Bundespräsident Didier Burkhalter Gauck ins Bild gesetzt.
Entmündigung der Bürger
Eines der grossen Themen unserer Zeit ist seit Edward Snowdens Enthüllungen die Überwachungspraxis, und zwar die staatliche durch Geheimdienste wie zum Beispiel die NSA in den USA noch mehr als durch private Instanzen. Nichts dagegen, dass der Staat sich und seine Bürger und Bürgerinnen schützt. Der Stein des Anstosses liegt vielmehr in der 1. im Geheimen vollzogenen, 2. zu keiner Rechenschaft verpflichteten und 3. ungezielten Überwachung.
In ihr drückt sich auf dem Umweg über die Aushöhlung der «privacy», des Privatlebens als eines Grundrechts, eine infame Entmündigung der Menschen aus, was dem demokratischen Gedanken oder der Idee der freien, offenen Gesellschaft zutiefst widerspricht. Auch kommt darin ein nicht hinnehmbares Misstrauen der Staaten gegen die eigenen Bevölkerungen zum Ausdruck.
Statt nun, wie es in Deutschland eine parlamentarische Kommission zu tun versucht, Aufklärung über die amerikanische Überwachungsaktivitäten zu verlangen, wird diese Absicht von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und von christlicher Unionsseite erschwert und behindert. Eine Befragung Snowdens und selbst die Kenntnisnahme seiner Papiere wird zum Geheimnisverrat, gar zur Verschwörung («conspiracy», so die Einschätzung einer amerikanischen Kanzlei für die Bundesregierung) erklärt.
Demokratiedefizite der EU
Auch die EU mit ihren notorischen Demokratiedefiziten verhandelt im Geheimen, nämlich mit den USA über ein Freihandelsabkommen mit Fussangeln wie etwa dem Investitionsschutz, der uns noch zu schaffen machen wird. Erst jüngst ist der Widerstand dagegen erwacht. Warum sollen die Menschen nicht wissen dürfen, was in ihrem Namen verhandelt wird, für dessen Folgen sie aber aufzukommen haben, wenn die Konzerne ihre Rechnungen für «entgangene Gewinne» präsentieren?
Klar ist: Die Brüsseler Kommission scheut die Öffentlichkeit, weil sie sehr gut weiss, dass die Mehrheit der Betroffenen niemals ihre Zustimmung geben würde, wenn sie Bescheid wüsste. Zunehmend benimmt sie sich wie zu den Zeiten der Kabinettspolitik während der Restauration in Europa unter Metternich nach den Napoleonischen Kriegen.
Auch darin liegt eine Desavouierung der Demokratie, die erst noch ausgerechnet von einer politischen Formation ausgeht, die anderen gern Lektionen in Demokratie erteilt. Ohne Öffentlichkeit ist die demokratische Idee aber undenkbar. Darin besteht gerade eine ihrer Grundvoraussetzungen.
Der Ausgang der Wahlen für das Europaparlament (oder eher für das EU-Parlament) hat gezeigt, dass die Bürger und Bürgerinnen der EU sich das nicht mehr unbedingt gefallen lassen wollen. Eine kuriose Koalition hat ein deutliches Zeichen gesetzt und ein Votum ausgesprochen sowohl gegen das Versagen der politischen Klasse im Allgemeinen wie gegen die EU in ihrer heutigen Form im Besonderen, mit der kein Staat mehr zu machen ist.
Die Menschen haben begonnen, ihre Mündigkeit und eine «Regierung des Volks, durch das Volk, für das Volk» (Abraham Lincoln, «Gettysburg Address», 1863) einzufordern. Die EU ist bisher ungenügend auf die Erwartung nach einer demokratischen und sozial gerechten oder angemessenen Ordnung eingegangen. Dass sich unter Jean-Claude Juncker, dem Merkel-Favoriten als Präsident der Kommission, daran etwas ändern wird, ist eher unwahrscheinlich.

Dieser Artikel erschien zuerst auf OnlineReports.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Aurel Schmidt war bis 2002 Redaktor der «Basler Zeitung» (vorher «National-Zeitung»). Er war mitverantwortlich für das «Basler Magazin» und verfasste zahlreiche philosophische Essays, Reise-Reportagen, Kommentare und Kolumnen.

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2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 8.06.2014 um 11:39 Uhr
    Permalink

    Ich gratuliere Infosperber zu diesem Beitrag des «Elder statesman» unter Basels Literaten, Aurel Schmidt, nicht nur nebenbei einer der besten Kenner der Geistesgeschichte des Alpenraums und dadurch auch ein hervorragender Schweizkenner.

  • am 20.09.2014 um 11:40 Uhr
    Permalink

    Aktualisierung:
    die europäische Kommission weist die Bürgerinitiative gegen
    CETA und TTIP ab. 250 Bürgerproteste zählen nicht. Diesen könnte sich die Schweiz offen anschliessen. z.B. Foodwatch nachlesen
    Zweitens
    Aktionen gegen CETA am 26.09. Europaweit
    https://www.global2000.at/ceta-stoppen
    Wie bringt man das und mehr an die Öffentlichkeit und wie fragt man jeden Politiker was er oder sie vertritt?

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