Kommentar
Warum die Schweiz keine Bananenrepublik ist
Nehmen wir an: Das Volk beschliesst heute, Tempo 100 auf Schweizer Autobahnen in der Verfassung zu verankern. Der Bundesrat vollzieht den Beschluss per Gesetz. Darin steht: Autos, die vor dem 1. Juli 2013 gekauft wurden, dürfen weiterhin 120 km/h fahren. Wer ein neues Auto kauft, darf auf 140 km/h beschleunigen, falls er ein Bahn-Generalabonnement (GA) besitzt. Falls sich nach zwanzig Jahren herausstellt, dass das GA für den Besitzer nicht mehr rentiert, so erhöht sich sein zulässiges Autobahntempo auf 180 km/h. Nach diesem – hier nur leicht zugespitzten – Muster will der Bundesrat die Franz-Weber-Initiative gegen den Bau von Zweitwohnungen umsetzen.
Schon bisherige Verordnung bricht Bundesverfassung
Zur Erinnerung: Der neue Verfassungsartikel schreibt seit dem 11. März 2012 klipp und klar vor: Mehr als 20 Prozent Zweitwohnungen in einer Gemeinde sind verboten, unabhängig davon, wie warm oder kalt deren Betten sind, und unabhängig davon, wer diese Zweitwohnungen baut oder besitzt. Diese zulässige Quote von 20 Prozent ist in den meisten Tourismusgemeinden längst überschritten.
Die temporäre Ausführungsverordnung, gültig ab Januar 2013, lässt jedoch die Umnutzung aller bestehenden Erstwohnungen sowie den Neubau von «touristisch bewirtschafteten» Zweitwohnungen weiterhin zu. Schon damit bricht der Bundesrat die Verfassung. Wer an dieser Stelle einwendet, sachlich mache der Verfassungsbruch immerhin Sinn, weil die touristische Bewirtschaftung erwünscht sei, verkennt die Realität. Denn in der Schweiz gibt es schon heute rund zwei Millionen Zweitwohnungs-Betten, die mangels Nachfrage in neun von zehn Nächten leer bleiben. Wenn nun der Bund erlaubt, alte Erst- in Zweitwohnungen umzuwandeln und obendrein neue «touristisch bewirtschaftete» Zweitwohnungen zu bauen, dann schafft er viele neue Fremdenbetten, die nicht wärmer, sondern kälter werden.
Zusätzliche Löcher fördern Bau von Zweitwohnungen
In seinem Gesetzesentwurf, den er letzte Woche in die Vernehmlassung schickte, beantragt der Bundesrat nun, die Verfassungsbestimmung weiter zu durchlöchern:
o Alle bestehenden Erstwohnungen dürfen unbegrenzt in Zweitwohnungen umgewandelt werden; das erlaubt theoretisch eine Zweitwohnungsquote von 100 Prozent. Obendrein dürfen die Besitzer ihre Zweitwohnungen um 30 Prozent ausbauen, was die Betonierung der Alpen weiter voran treibt. In einer Alternativfassung verzichtet der Bundesrat immerhin auf den Ausbau der verfassungswidrigen Zweitwohnungen und stellt an die Umnutzung einige – wenig griffige – Bedingungen; diese Alternativfassung aber werden die Zuhälter der alpinen Baulöwen im Parlament mit allen Mitteln bekämpfen.
o Wer ein Hotel besitzt, darf weiterhin Zweitwohnungen bauen, um sein Hotel oder dessen Sanierung zu finanzieren. Und wenn das Hotel nach 20 Jahren Pleite macht, weil die Gäste vor lauter Zweitwohnungen und Residenzen den Hoteleingang nicht mehr finden, dürfen die Hoteliers auch noch ihr Stammhotel zu Zweitwohnungen umnutzen.
Mit ihrer Vorlage verwandelt die Regierung das Zweitwohnungsverbot in ein Gesetz zur Förderung von Zweitwohnungen. Und das ist leider kein Einzelfall. Regierung und Parlament machen immer häufiger Gesetze, welche die Bundesverfassung und damit den Volkswillen ausser Kraft setzen. Zum Beispiel beim Alpenschutz-Artikel. Oder ganz neu bei der Umsetzung des Einzonungsverbots von Kulturland im Kanton Zürich.
»Die da oben» – Ihr da unten
Einige Zeitungen, bemerkenswerterweise die im Kanton Graubünden verankerte «Südostschweiz», haben diese «Aushöhlung des Volkswillens» dezidiert kritisiert. Die meisten hingegen enthielten sich eines Kommentars. Und der Zürcher «Tages-Anzeiger» TA urteilte, der Vorschlag des Bundesrats sei «in Ordnung». Begründung des TA-Kommentators: «Dass die Zweitwohnungsinitiative kein totales Bauverbot für Gemeinden bedeutet, in denen der Zweitwohnungsanteil schon 20 Prozent beträgt, war immer klar.» Wenn diese Argumentation ins Kraut schiesst, kann der Bundesrat künftig davon ausgehen, dass das dumme Volk gar nicht will, was es beschliesst.
»Die da oben machen ja doch was sie wollen», hörte man früher an Stammtischen. Diese resignative Haltung fördere die Abstimmungsabstinenz, fürchteten damals die gläubigen Demokraten. Und also kämpften wir mit klappernden Schreibmaschinen unverdrossen gegen die Abkehr des Volks von der Politik. Allmählich aber keimt der Verdacht, es sei umgekehrt: Die Regierungen missachten Entscheide des Volkes, um die politische Abstinenz zu fördern, damit sie ihren eigenen Willen – oder den Willen der starken Lobbies – ungestört umsetzen können. Das verdriesst. Und man ist versucht, die Schweiz mit einer Bananenrepublik zu vergleichen. Doch das wäre unfair. Denn so, wie die Schweizer Regierung mit der Zweitwohnungsinitiative umspringt, würde kein Bauer seine Bananenplantagen malträtieren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine