Kommentar

Freie Marktwirtschaft – aber nicht im Arbeitsmarkt

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Die Schweiz setzt sich für weltweite Marktwirtschaft ein. Aber sie beansprucht wichtige Ausnahmen, ohne sie zu benennen.

Gehören – wie ich – auch Sie zu jenen, die nicht beliebig Geld zur Verfügung haben? Achten deshalb auch Sie beim Einkaufen auf den Preis? Leisten auch Sie sich bei Dingen, die Ihnen besonders am Herzen liegen, die bessere Qualität? Und kaufen auch Sie bei weniger Wichtigem einfach das preisgünstigere Produkt?

Was wir alle da machen, nennt sich freie Marktwirtschaft. Ob Manor, Migros oder Coop, ob Meier, Müller oder Tante Emma: die Detailhändler entscheiden selber, welchen Preis Sie für welches Produkt verlangen wollen. Und Sie und ich und alle unsere Freunde und Bekannten entscheiden selber, wo wir was kaufen wollen.

Das gleiche gilt für den Arbeitsmarkt. Wer geht schon putzen, wenn er einen Beruf erlernt hat, bei dessen Ausübung er das Doppelte verdienen kann? Und welcher in Hunzenschwil wohnende Pharmakologe arbeitet schon in Hunzenschwil für ein niedriges Gehalt, weil es dort keine Pharma-Firma gibt, und pendelt nicht nach Basel, wo er das Dreifache erhält? Auch das ist der freie Markt – der Arbeitsmarkt eben.

Die Wirtschaftswissenschafter predigen uns dieses System seit Adam Smith im 18. Jahrhundert und preisen es als höchste Errungenschaft. Und alle, die etwas zu verkaufen haben, möchten dies ganz selbstverständlich auch im Ausland tun können. Deshalb gibt es seit 1995 die World Trade Organization WTO mit Sitz in Genf, die dafür sorgt, dass die freie Marktwirtschaft weltweit spielt – spielen sollte, mit zunehmendem Erfolg notabene.

Wenn zwei das Gleiche tun …

Ob das dann zum Beispiel für die Afrikaner auch immer gut ist, steht auf einem anderen Blatt – und steht hier im Moment auch nicht zur Diskussion. Die WTO propagiert den freien Handel ja auch nicht, um die Afrikaner glücklich zu machen, sondern um den Europäern und den Amerikanern den Export ihrer Produkte zu erleichtern.

Viele Afrikaner haben das Prinzip der freien Marktwirtschaft aber auch absolut verstanden. Und sie möchten die Möglichkeiten dieser freien Marktwirtschaft denn auch ganz gerne nutzen. Zu exportieren haben sie allerdings nichts – oder genauer: das Wenige, dass sie auf ihren paar Aren Land produzieren, lohnt einen Transport in die Industriestaaten nicht. Aber die freie Marktwirtschaft im Arbeitsmarkt möchten sie gerne leben und dort arbeiten, wo es etwas zu verdienen gibt. Genau wie der Pharmakologe, der von Hunzenschwil nach Basel zur Arbeit fährt.

… so ist es nicht das Gleiche

Ein freier Arbeitsmarkt auch für Ausländer? Um Gottes Willen! Wo kämen wir hin, wenn all jene, die irgendwo auf der Welt keinen Job haben, einfach dorthin ziehen würden, wo es Jobs gibt?! Das muss strengstens reguliert und am besten verboten werden! Da hat Freiheit keinen Platz! Und so haben die westlichen Industriestaaten, die USA, die EU und natürlich auch die Schweiz, ihre Grenzen ganz schön dicht gemacht.

Die bittere Realität ist: Die reichen Industriestaaten propapieren die freie Marktwirtschaft genau und ausschliesslich dort, wo sie ihnen nützlich ist. Und sie verhindern sie systematisch, wo Gefahr besteht, dass sie unser (geschütztes) Paradies aufmischen könnte.

Zur Erinnerung: Unsere uns allen ans Herz gewachsene Schweiz war in der Vergangenheit ein typisches Auswanderungsland. In ländlichen Gegenden – etwa im Wallis – konnte der knappe und oft karge Boden die wachsende Bevölkerung schlicht nicht mehr ernähren. Auswanderungswillige Familien wurden deshalb sogar aus der Gemeindekasse mit Geld versorgt, damit sie die Überfahrt nach Nord- oder Südamerika berappen konnten. Und dies bis zum Jahr 1880! Erst nach dem Jahr 1880, also mit dem Entstehen der Fabriken, kippte das Verhältnis von Ein- und Auswanderung zugunsten der Einwanderung.

Wo bleibt unsere Ehrlichkeit?

Wären wir mit uns selber ehrlich und würden wir die Dinge beim richtigen Namen nennen, so müssten wir das Wort «Wirtschaftsflüchtling» ganz schnell aus unserem Wortschatz tilgen. Wirtschaftsflüchtlinge tun nämlich nichts anderes, als dass sie den Regeln der Marktwirtschaft folgen: Sie wollen arbeiten und versuchen deshalb dahin zu gehen, wo es Arbeit gibt. Sie sind also Arbeitsmarkt-Teilnehmer und müssten korrekterweise auch so genannt werden.

Die Personenfreizügigkeit, die wir mit den EU-Ländern teilen, ist nichts anderes als eine logische Konsequenz des auch für uns offenen Marktes innerhalb der EU. Wenn aber unsere Bundesräte und Diplomaten versuchen, weltweit Handelshemmnisse abzubauen, wie sie das im Moment wieder intensiv tun, ohne auch von dort eine grössere Zuwanderung zu akzeptieren, so ist das die reine Rosinen-Pickerei – ein Nehmen-Wollen, ohne jede Bereitschaft, auch zu geben.

Deshalb nochmals: Das Wort «Wirtschaftsflüchtling» will uns suggerieren, diese Menschen kämen «nur», weil sie es im eigenen Land zu wenig gut haben. Dabei kommen sie, weil sie das tun, was wir auch tun: sie suchen sich auf dem Arbeitsmarkt eine Arbeit, die bezahlt ist. Sie sind keine Schmarotzer. Aber wir, die wir sie nicht hereinlassen, sind Rosinen-Picker.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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4 Meinungen

  • am 6.05.2013 um 11:46 Uhr
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    Freie Marktwirtschaft: Freiheit, die uns passt, Verbote, wenn sie uns nützen. Ich bin einverstanden mit der Tilgung des Begriffs «Wirtschaftsflüchtling". Immer sind zu unterschiedlichen Zeiten irgendwelche Menschen irgendwo auf der Suche nach besseren Arbeits- und damit Lebensbedingungen. Im Roman «Ibicaba» der Schweizer Schriftstellerin Evelyn Hasler wird das am Beispiel der SchweizerInnen, die im 19. Jahrhundert ihr Glück in Südamerika suchten, geschildert. Notabene wurden auch diese Leute mit einer Anschubfinanzierung ausser Landes «spediert". «Wirtschaftsflüchtlinge» eben…..

  • am 21.05.2013 um 16:01 Uhr
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    Wirtschaftsflüchtlinge gabs auch, wie sie beschreiben, in unserer Familie.
    Meine Grossmutter war das 3.letzte von 14 Kindern im Emmental war das. Ihre beiden ältesten Schwestern wanderten als 14 und 15 Jährige nach Amerika aus. Einziger Besitz zum mitnehmen, ein Kleid das sie anhatten und Schuhe und ein zweites Kleid in einem Tuch eingewickelt. Meine Grossmutter war damals noch nicht geboren. Sie sah ihre beiden ältesten Schwestern zum ersten Mal als sie schon lange erwachsen war.
    In der damaligen Zeit wurden überall Menschen aufgenommen, wenn sie kamen, gerade in Süd- und Nordamerika war bevölkerungsmässig noch ein grosses Vakuum da. Allerdings wird auch heute noch gewissen Einwanderern der rote Teppich ausgelegt, wenn sie denn überdurchschnittlich ausgebildet sind. Wenn sie Mehrwert bringen hat niemand etwas dagegen, im Gegenteil.

  • am 10.06.2013 um 16:21 Uhr
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    Freie Einwanderung in ein reiches und bereits dicht bepacktes Land wie die Schweiz eines ist, bedeutet zwingend einen Wohlfahrtsverlust für die bereits hier Anwesenden. Ein- und Auswanderungen halten sich dann wieder die Wage, wenn sich die Niveaus der Wohlfahrt angenähert haben. Wenn wir das wollen (z.B. aus ethischen Gründen oder weil wir ein Heer von billigen Arbeitskräften wollen), dann sollten wir das auch so sagen. Aber die Mär, dass uns das allen nützt, mag ich nicht mehr hören – und schon gar nicht das «Rosinenpicker-Argument"; dieses zeugt nicht gerade von ökonomischem Sachverstand. Freier Handel und freie Migration können sehr wohl – auch unter ethischen Aspekten auseinander gehalten werden, ohne dass man dabei zum Heuchler wird.

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