Kommentar
Ach, Kanton Bern!
«Die Berner sind die Griechen der Schweiz». Mit solcher Häme kommentierten SVP-Blätter und Zürcher Medien die hohen Finanzausgleichszahlungen zugunsten des strukturschwachen Kantons Bern. Der Kanton Bern ist mit jährlich 1,1 Milliarden Franken der grösste Nettoempfänger im interkantonalen und bundesweiten Finanzausgleich. Jetzt setzen die reichsten Zahlerkantone wie Zug, Schwyz, Waadt den interkantonalen Finanzausgleich politisch unter Druck.
Zwar erhält der Kanton Bern pro Kopf der Bevölkerung weniger Finanzausgleichszahlungen als die Kantone Wallis, Jura, Freiburg, Uri, Glarus. Doch als bevölkerungsreicher Kanton mit 900’000 Einwohnern ist für Bern die Transfersumme am höchsten – mehr als doppelt so hoch wie für das Wallis als zweitgrösstem Nettoempfänger.
Riesige Wachstumsunterschiede innerhalb des Kantons
Der Kanton Bern kennt zwar tiefere Arbeitslosen- und Jugendarbeitslosenquoten, er ist Top im Lebensqualitäts-Rating und er hat eine ausgebaute und sanierte öffentliche Infrastruktur, aber Bern hat ein Problem: Die riesigen kantonsinternen Wachstumsdisparitäten! Die 40 Prozent der Bevölkerung der Region Bern-Mittelland erwirtschaften fast 60 Prozent des bernischen Bruttoinlandprodukts.
Das BIP-Pro Kopf dieser Wirtschaftsregion ist mit 80’000 Franken fast doppelt so hoch wie die entsprechende Kennziffer der Regionen Berner Jura, Oberland, Emmental-Oberaargau und Seeland (alle zwischen 40’000 und 45’000 Fr pro Kopf). Es liegt deutlich über dem schweizerischen Durchschnitt. Auch das jährliche Wirtschaftswachstum liegt über dem schweizerischen Mittel. Würde der Kanton Bern nur aus dem Aaretal von Thun bis Region Bern und von Biel dem Jurafuss entlang bis zur Solothurner Grenze bestehen, wäre er im obersten Drittel der Kantons-Rankings angesiedelt. Der starke Bremsklotz in makroökonomischer und politischer Sicht sind die vielen strukturschwachen Regionen.
Branchen mit geringer Wertschöpfung
Im Emmental, im Oberland, überall in den peripheren Regionen des Kantons Bern wird viel, fleissig und solid gearbeitet, vielleicht mehr als in Zug und Zürich. Doch die Strukturschwäche kommt von der Branchenverteilung. Der Kanton Bern hat immer noch 7 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft, im Vergleich dazu Zürich mit 2 Prozent. Das Berner Oberland hat eine überproportionale Verteilung von Tourismus und Gastgewerbe und eine hohe Anteilsquote mit Bauwirtschaft aus dem Zweitwohnungsbau.
Die Bruttowertschöpfung pro Vollzeitbeschäftigen (Branchenproduktivität) beträgt im Durchschnitt aller Branchen der Schweiz rund 123’000 Franken, doch in der Landwirtschaft liegt sie bloss bei 44’000, im Tourismus/Gastgewerbe bei 59’000 und im Baugewerbe bei 100’000. Mit dem hohen Anteil der unterdurchschnittlich produktiven Branchen in den bernischen Randregionen ist auch die Strukturschwäche begründet. Nach offizieller bernischer Lesart spricht man übrigens nicht von Randregionen, sondern von «Förderregionen», womit semantisch gleich auch die wirtschaftspolitische Strategie angezeigt wird.
Jedem Tälchen sein Spitälchen…
Die dezentrale Besiedelung erfordert viel höhere Infrastrukturkosten. Jedem Tälchen sein Spitälchen, jedem Dörfchen seine Schule, jeder Kalberhütte die Zufahrt und den Lawinenschutz. Jedes Tal, jeder Hoger ist verkehrsmässig erschlossen, mit vollem Unterhalts- und Winterdienst. Dieser an sich gerechte aber extrem teure Service public ist bedingt durch das starke demographische und damit politische Übergewicht der Vertreter aus den «Förderregionen» im Kantonsparlament. Die Regionalvertreter unterstützen sich gegenseitig bei allen Zahlungen und Infrastrukturvorhaben.
Rudolf Mingers BGB gegen die «Versuchung der Grossstadt»
Diese bernische Wirtschaftsstruktur ist historisch bedingt. Um 1900 kannte Bern einen enorm dynamischen industriellen Aufschwung, es war früher elektrifiziert als Zürich, es florierten die Industrien der zugewanderten Firmengründer Tobler, Wander, von Roll, Hasler. Der bernische Freisinn förderte Industrie und staatliche Infrastruktur. Doch nach 1917 kam der grosse konservative Umschwung mit der Abspaltung der Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei BGB des Rudolf Minger, der seine Partei gegen die, wie er sagte, «zersetzende Überindustrialisierung, die Landflucht und die Versuchung der Grossstadt» gründete. 1922 erhielt die BGB bei den ersten kantonalen Proporzwahlen auf einen Schlag 110 von 224 Grossratssitzen, und von da an gab es mit der konservativen Dominanz keine Wachstumsstrategie mehr.
Eingemeindungen und Einzonungen verhindert
Die «Politik der Scholle» der BGB verhinderte ab 1922 weitere Eingemeindungen der Stadt Bern. Während die Stadt Zürich um die sechzehn umliegenden Dörfer eingemeindete, konnte in Bern vor dem konservativen Umschwung nur gerade Bümpliz integriert werden (1920), danach gab es nur noch Blockaden. Deshalb hat die Stadt Bern keine Ausdehnung und nur im Westen (Bümpliz) noch Zonenreserven.
Während Jahrzehnten wurden mit der «Politik der Scholle» Industriezonen und überhaupt Einzonungen im ganzen Kanton verhindert. 1944 brachte die BGB das Projekt des damaligen Regierungsrats Robert Grimm für den nationalen Flughafen in Utzenstorf bei Bern zu Fall, worauf Kloten zum Zuge kam. Das Abstimmungsplakat der BGB (heute SVP) zeigte einen Kartoffelacker: «Rettet die Scholle». Wirtschaftshistoriker wie Christian Pfister und neulich auch Stefan von Bergen und Jürg Steiner haben diese wirtschaftliche Abstiegsstrategie nachgezeichnet (u.a. in von Bergen/Steiner: Wie viel Bern braucht die Schweiz?).
Nach der Abspaltung der Konservativen und der BGB aus dem alten Freisinn wurde die Rest-FDP zu einem abhängigen Juniorpartner der BGB, später der SVP, und sie hatte nie mehr die Kraft, eine liberale Industrie- und Wachstumspolitik durchzusetzen. Einzig in den Neunziger Jahren wurde es in einer kurzen Reform-Zwischenphase mit einer Allianz zwischen FDP und SP möglich, gegen den erbitterten Widerstand der SVP eine Gebietsreform durchzusetzen, die die 27 bisherigen Amtsbezirke in eine Handvoll Regionen zusammenfasste. Doch die öffentliche Hand zersplittert sich immer noch in 380 Gemeinden.
Randregionen politisch am längeren Hebel
Neulich wollte der bernische Regierungsrat mit einer «Wirtschaftsstrategie 2025» Wachstumsprioritäten setzen, mehr die starken Regionen und die strukturstarken Branchen fördern, grössere Wirtschaftszonen einrichten. Doch die Randregionen-Vertreter im bernischen Grosse Rat machten einer solchen Schwerpunktstrategie einen Strich durch die Rechnung mit dem verbindlichen Planungsbeschluss: «Der Regierungsrat setzt sich dafür ein, dass sämtliche Branchen inklusive Landwirtschaft mit deren vor- und nachgelagerten Branchen wirtschaftlich gestärkt werden und ihre Wertschöpfung steigern können.»
Dieses Bremsverdikt gegen jede Schwerpunktbildung ist faktisch ein Verzicht auf eine effektive Wachstumsstrategie des Kantons Bern. Der Kanton wird weiterhin und verstärkt Finanzausgleich beziehen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die SVP-Medien wegen des Finanzausgleichs ausgerechnet jenen Kanton prügeln, den die frühere BGB- und heutige SVP-Mutterpartei historisch am stärksten geprägt und retardiert hat.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieses Essay erschien in der Unternehmer-Zeitung vom 22.1..2013.
geschätzter herr strahm, ich könnte alles absolut unterschreiben. ausser dass die neue luzerner zeitung, welche das thema als erste aufgegriffen hat (und auch auf das problem der strukturschwachen regionen und ihrem einfluss im grissrat hingewiesen hat) in keinster weise ein «svp-blatt» ist, wie strahm insinuiert. die grössten kritiker des heutigen finanzausgleichs sowohl regional wie auch national stammen zudem aus der fdp.
Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung, welche zu dieser Strukturschwäche geführt hat, ist es auch nicht erstaunlich, dass es einen starken statistischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft und SVP-WählerInnenanteil gibt. Wo die SVP dominiert, ist die Wirtschaftskraft tief und die Steuersätze hoch. Dabei stelle ich keineswegs die «Schuldfrage", vielmehr sollte es allmählich auch Bürgerlichen dämmern, dass sich wirtschaftliche Entwicklung nicht mit Steuerdumping erreichen lässt, welcher die SVP das Wort redet. Wäre es so, wären die im Kanton Bern dominierenden SVP-Gemeinden längst an der Spitze in Sachen Wirtschaftskraft; das Gegenteil ist der Fall.