Kommentar
Familiendrama: Blick und 20 Minuten gehen zu weit!
Eine Familie aus dem Kanton Zürich macht Herbstferien in der Toskana. Beim Baden im Meer geraten drei Söhne in Schwierigkeiten. Der Vater rettet sie und ertrinkt. Eine Tragödie für die fünf Kinder und die Mutter. Kaum ist das Unglück geschehen, ist bereits ein Fotograf zur Stelle und bald veröffentlichen Blick.ch und 20 Minuten Online sowie deren Printausgaben die Fotos.
Fotos der schockierten und trauernden Familie
Ohne Skrupel servieren der Blick und 20 Minuten die Fotos der schockierten und trauernden Familie am Strand: Zwei Söhne umarmen sich und geben sich Halt. Der tote Vater ist in ein weisses Tuch gehüllt und liegt im Sand. Die Mutter kauert verzweifelt daneben, während sie von der italienischen Polizei befragt wird. Dabei schaut sie in Richtung des Fotografen, als wollte sie ihre Empörung über dessen Anwesenheit ausdrücken. Der Sarg mit der Leiche des Familienvaters wird weggetragen. Zuhause in der Schweiz bleiben die Redaktionen von Blick und 20 Minuten nicht untätig. Zwei Fotografen schwärmen aus, um Haus und Hof der Familie mit dem Fotoapparat festzuhalten. Am Ende hat der Blick die Nase leicht vorne: Es gelingt ihm, ein kleines Passfoto des Familienvaters aufzutreiben.
Bundesverfassung und Presserat schützen die Privatsphäre
Mit der Publikation der Fotos ist der Voyeurismus der Öffentlichkeit vorerst gestillt. Aber sind solche Fotos wirklich von so grossem, öffentlichem Interesse, dass die Privatsphäre der Familie eine untergeordnete Rolle spielt? In einer solchen Extremsituation?
Der Schutz der Privatsphäre ist im Artikel 13 der Bundesverfassung verankert und auch in der «Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» des Schweizer Presserates. Punkt 7 der Erklärung sagt dazu: «Sie (die Medienschaffenden) respektieren die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt.» Im vorliegenden Fall kann von einem öffentlichen Interesse keine Rede sein. Vielmehr überwiegt der Anspruch der Familie auf den Schutz ihrer Privatsphäre.
Blick-Redaktorin: «Ich kann Ihre Frage leider nicht beantworten»
In einem solchen Fall ist die Einwilligung der Betroffenen zentral. Hat also die Mutter zugestimmt, dass sie, ihre Kinder und ihr toter Mann fotografiert und die Fotos veröffentlicht werden? Auf Anfrage von Infosperber erklärte Myrte Müller, eine der vier verantwortlichen Blick-Redaktorinnen und -Redaktoren: «Ich kann Ihre Frage leider nicht beantworten. Da dies nicht in meinem Verantwortungsbereich liegt. Diese Frage müssen Sie nicht an die Autoren des Textes stellen, sondern an den italienischen Fotografen. Diese Fotos wurden bereits am Tag bevor sie dem Blick verkauft wurden, in sämtlichen italienischen Tageszeitungen und Online-Medien veröffentlicht.»
Medienschaffende stehen in der Pflicht
Gehen wir von der unwahrscheinlichen Annahme aus, die Mutter habe eingewilligt, diese Fotos zu knipsen und in der ganzen Welt zu verkaufen. Selbst dann hätten Blick und 20 Minuten diese Fotos nicht veröffentlichen dürfen. Denn die Familie stand unter Schock. Die Mutter konnte die Folgen einer Einwilligung in diesem Moment nicht abschätzen. In jedem Fall ist das Abschieben der Verantwortung auf den italienischen Fotografen und die italienischen Medien zu billig. Den Redaktionen war es offensichtlich egal, ob die Veröffentlichungen in Italien von der Familie autorisiert waren oder nicht.
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Siehe: «Zeitung deckt den Mörder ab statt das Opfer» vom 16.9.2013
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Das sogenannte «öffentliche Interesse» ist ausser Rand und Band! Niemand kann darüber gebieten, schon gar nicht Auflage heischende Gazetten. Wie kann es nur sein, dass im Zusammenhang mit persönlicher Tragödie und deren intimstem Moment dieser abscheuliche Ausdruck fällt? Was ist aus der alten Pietas geworden, der Ehrfurcht vor und dem Gehorsam gegenüber den Ordnungen des Lebens?
Ohne Zweifel ist hier die Grenze überschritten. Es braucht aber immer zwei für einen solchen Akt: das Medium und die voyeuristischen Leser. Wenn es die nicht gäbe, die sich an tragischen Schicksalen anderer ergötzen, dann gäbe es solche Berichte nicht. Man kann schärfere Gesetze schaffen, die greifen vielleicht. Aber die Menschen werden sich nicht ändern, es zieht sie an, was anderen wiederfährt. Das Tempo und die Informationsdichte der Medien schadet unserer Gesellschaft, allen voran den jungen Menschen. Kein Wunder, verlieren sie den Boden unter den Füssen. Sex and Crime and Games – damit wachsein sie auf. Und das tut ihnen in dieser Konzentration und Art nicht gut.