Kommentar
Wenn der Witz vom Markt Wirklichkeit wird
»Eine Marktfrau verkauft Äpfel so billig, dass sie bei jedem Kilo 20 Rappen drauflegt. Die Konkurrentin erklärt ihr, mit dieser Preisgestaltung werde sie bald Pleite machen. Ach nein, antwortet die Marktfrau fröhlich, denn ich mache das Geschäft nicht mit der Marge, sondern mit dem grossen Umsatz.»
Diesen Witz erzählte ich vor 19 Jahren in der «Südostschweiz» (die damals noch «Bündner Zeitung» hiess), und er war schon damals nicht neu. Inzwischen aber hat die wirtschaftliche Wirklichkeit den Witz eingeholt. Zum Beispiel in den USA: Dort erhöhten sich die Staatsschulden allein in den letzten zwölf Monaten um 1200 Milliarden auf 16 Billionen Dollar. Das zeigen die neusten Daten des Finanzministeriums. Zum Vergleich: Die US-Wirtschaft, gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP), wuchs letztes Jahr nominal um rund 600 Milliarden Dollar. Das zeigt: Mit jedem Dollar, um den die US-Wirtschaft wächst, legt der Staat zwei Dollar drauf.
Auch in andern Industrieländern wächst die Verschuldung seit Jahren stärker als das BIP. In den USA sind die aufgelaufenen Staatschulden von 16 Billionen Dollar heute höher als ihre gesamte Wirtschaftsleistung. Das heisst: Um ihre Staatsschulden zu tilgen, müssten die Arbeitstätigen dort mehr als ein Jahr lang gratis schuften.
Die USA können ihr Geschäft mit dem Umsatz machen, weil ihre Notenbank virtuell Geld druckt, weil China die USA mit dem Kauf von Staatsanleihen stützt, und weil sie den Dollar, die globale Leitwährung, abwerten kann. Letzteres funktioniert seit Jahrzehnten: In den 1960er-Jahren kostete ein US-Dollar 4.30 Franken, heute noch 95 Rappen.
Doch Pleite werden die USA nicht gehen. Denn sie sind – wie die Grossbanken – zu gross, um zu fallen. Darin unterscheiden sich mächtige Staaten von schmächtigen Marktfrauen. Und darum ist die marktwirtschaftliche Wirklichkeit zum Witz verkommen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine