Kommentar
Der Bundesrat bricht die Verfassung
Nachdem die Abstimmenden die Initiative von Franz Weber «gegen den uferlosen Bau von Zweitwohnungen» angenommen hatten, setzten Baulobbyisten, Touristiker und Politiker in den Bergkantonen alle Hebel in Bewegung, um das ungeliebte Volksbegehren auszuhöhlen. Beim Bundesrat, der die Initiative ebenfalls ablehnte, fanden sie offene Ohren: Mit der gestern beschlossenen Ausführungs-Verordnung durchlöchert die Landesregierung das übergeordnete Verfassungsrecht in mehreren Punkten. Das belegen allein schon die Reaktionen: Jene Lobbies, welche die Initiative ablehnten, jubeln oder zeigen zumindest verhaltene Freude. Die Befürworter hingegen sind mehr oder weniger empört.
Zur Sache: Der neue Verfassungsartikel 75 b schreibt seit dem 11. März klipp und klar vor: Mehr als 20 Prozent Zweitwohnungen in einer Gemeinde sind verboten, unabhängig davon, wie warm oder kalt deren Betten sind. Die bundesrätliche Verordnung hingegen lässt in jenen 570 Gemeinden, welche die 20-Prozent-Quote überschritten haben, die Umnutzung von bestehenden Erstwohnungen sowie Hotels in unbewirtschaftete und den Neubau von «touristisch bewirtschafteten» Zweitwohnungen weiterhin zu.
Bei der bewilligten Umnutzung von Altbauten in Zweitwohnungen handelt es sich um eine einseitige Bevorzugung des früheren Verfassungsartikels 26, der festhält: «Das Eigentum ist gewährleistet.» Bei der Bewilligung von «touristisch bewirtschafteten» Neubauten hingegen handelt es sich um einen klaren Bruch des neuen Verfassungsartikels.
Gewiss, die Vermietung und Bewirtschaftung von Zweitwohnungen ist erwünscht. Dazu braucht es aber keine weiteren Betonburgen in den Alpen. Denn in der Schweiz gibt es schon heute rund zwei Millionen Zweitwohnungs-Betten, die durchschnittlich in neun von zehn Nächten leer stehen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Logiernächte. Wenn nun der Bund erlaubt, die Zahl und den Anteil der Zweitwohnungen weiter zu erhöhen, macht er die Betten nicht wärmer, sondern kälter.
Wer sich gegen diesen Verfassungsbruch wehrt, gilt als Hinterwäldler, der bestehende Strukturen konservieren will. Doch dieser Vorwurf ist falsch. Neuerung und Erneuerung sind wichtig und richtig. Hotels, die keine Gäste mehr finden, sollen sterben. Zweitwohnungen, die leer stehen und Dörfer sozial verganden lassen, müssen verschwinden. Gegen neue touristische Zweitwohnungen oder hybride Hotelmodelle ist wenig einzuwenden, sofern sie alte Bauten und überkommene Strukturen ersetzen. Eine weitere Vermehrung der Zweitwohnungen hingegen ist rechtlich unzulässig, ökologisch schädlich und ökonomisch unsinnig.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine