Kommentar

Wenn Gerhard Schwarz die Idee der Freiheit erklärt

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Die freie Marktwirtschaft erzeuge immer mehr Brote und sei deshalb sozial, sagt der Chef von Avenir Suisse. Gut gebrüllt, Löwe!

Wir Zeitungsleser kennen das alle. Wir blättern in unserem täglichen Leibblatt, lesen dies und jenes, und – ach, hier, das ist aber interessant, auch das sollte ich noch lesen: Und schwups ist die Seite rausgerissen und zur Seite gelegt. Bis nach drei vier Wochen die Angetraute einen sachte daran erinnert, dass man das doch noch nachlesen wollte. Oder könnte man den Stoss herausgerissener Zeitungsseiten etwa gleich en bloc entsorgen?

Man könnte, aber man sollte nicht. Denn beim nochmals Durchblättern findet man nicht selten doch noch eine Trouvaille. So geschehen bei einem Artikel mit dem Titel: «Weshalb die unbequeme Idee der Freiheit gut ist» und mit einem Bildchen von Gerhard Schwarz. In einer Zeitung vom 2. Juni 2012*.

Was sagt denn GS, so das Kürzel des langjährigen Wirtschaft-Chefs und Stellvertretenden Chefredaktors der Neuen Zürcher Zeitung – im NZZ-Impressum jetzt als «Autor» aufgeführt – zur «Idee der Freiheit»? Und wie erklärt der heutige Direktor von Avenir Suisse, dem Think Tank der Schweizer Wirtschaft, warum die Idee der Freiheit gut ist?

«Freiheit ist sozial»

GS ist ein Mann des Wortes, des geschriebenen und auch des gesprochenen. Und so hält der Journalist, Redaktor und Avenir Suisse-Direktor auch immer wieder brillante Reden. Diesmal an einer Generalversammlung auf dem Schloss Lenzburg. Im erwähnten Zeitungsbericht wird denn auch genau darüber berichtet, warum GS die Freiheit eine gute Idee findet. Erstens: Freiheit ist gut für das Individuum. Zweitens: Der wissenschaftliche, gesellschaftliche und nicht zuletzt der wirtschaftliche Fortschritt ist der Freiheit zu verdanken. Drittens: Der heutige Wohlstand, der höher ist als noch vor 300 Jahren – siehe unter Zweitens –, ist also auch der Freiheit zu verdanken. Viertens, und jetzt kommt das Neue: Freiheit ist sozial. Wörtlich GS: «Denn ob etwas verteilt werden kann, hängt davon ab, ob es etwas zu verteilen gibt. Die Marktwirtschaft sorgt für möglichst viele Brote, statt das vorhandene Brot in viele gerechte Scheiben aufzuschneiden.»

Witzig formuliert, aber trotzdem falsch

Das Gelächter und der Applaus der Anwesenden auf Schloss Lenzburg waren GS sicher. Eine so einfache, logische und erst noch witzige Formulierung? Sie muss ja zutreffen!

Aber tut sie es auch? Nicht wirklich. Denn dass die freie Marktwirtschaft immer noch mehr Brote backen kann, ist längst widerlegt. Erstens: Die heutige Menschheit verbraucht 1.5mal soviel Energie, wie in der Natur nachwachsen kann. Die Ölreserven sind beschränkt und gehen langsam aber sicher zur Neige. Wir leben vom Jahrtausende alten Vorrat und auf Kosten der Zukunft. Zweitens: Auch die Fische, zum Beispiel, gehören zum «täglichen Brot». Die Weltmeere sind total überfischt, mit elektronischen Suchgeräten finden die kommerziellen Fischfang-Flotten auch den entlegensten Schwarm. Wissenschaftliche Beobachter brauchen bereits das Wort «leergefischt». Drittens: Die landwirtschaftliche Produktion konnte (und kann noch) mit massivem Einsatz von Agrochemie gesteigert werden, aber mehr und mehr kommen auch die negativen Folgen zum Vorschein: ausgelaugte Böden, auf denen kaum noch etwas wächst, vertriebene Kleinbauern, die verarmt und hungrig in den Armenvierteln der Megacities hausen, vergeblich auf einen Job hoffend. Und so weiter. Auch hier gäbe es viertens, fünftens, und so fort.

Der Vor- und sein Nach-Denker

Auch Gerhard Schwarz müsste gelegentlich zur Kenntnis nehmen, so er denn Anderes liest als nur gerade seinen geliebten Vordenker Friedrich August von Hayek, dass das Wachstum in einer mehr und mehr globalisierten Welt keine unbedenkliche Langfrist-Strategie mehr ist, zumal das vergötterte Mass aller Dinge, das Brutto-Inland-Produkt BIP, so definiert ist, dass höhere Erdöl-Förderung zu einer BIP-Erhöhung führt, statt wegen des irreversiblen Reserve-Verzehrs zu einer Reduktion.

Was vor dreihundert Jahren richtig, zumindest vordergründig «richtig gedacht» war, muss heute, in einer globalisierten Welt mit beschränkten Ressourcen, nicht mehr richtig sein. Für «mehr Brote zu sorgen» war zu gegebener Zeit sicher ein gutes Konzept. Heute heisst «für mehr Brote sorgen» aber immer öfter: Brote den Anderen wegnehmen, um selber mehr zu haben. Denn um immer noch mehr Brote zu backen, bräuchte es mehr Mehl, mehr Wasser und mehr Energie – aber alle diese drei Komponenten sind – global! – beschränkt.

Die Schweiz ist nicht die Welt

Gerhard Schwarz, «das liberale Gewissen der Schweiz» (Avenir Suisse über Gerhard Schwarz), sollte sich gelegentlich ver-«gewissern», dass das, was er öffentlich vorträgt, für die kleine Schweiz vielleicht noch richtig ist, aber sicher nicht für die grosse Welt. Niemand ist gegen die Freiheit, solange sie die Freiheit der Anderen und deren Wohl nicht beeinträchtigt. Wo aber die individuelle Freiheit – und das gilt insbesondere auch für die Freiheit der Unternehmen – zulasten Anderer geht, muss sie beschränkt werden. «Brot für Alle» hat Vorrang vor «Noch mehr Brot für die Satten».

…………

* Der oben zitierte Artikel «Weshalb die unbequeme Idee der Freiheit gut ist» war in der az Aargauer Zeitung und deren Splitausgaben als Teil der Berichterstattung über die Generalversammlung der AZ Medien am Freitag, 1. Juni 2012, in Lenzburg. «Die Generalversammlung folgte einstimmig allen Anträgen des Verwaltungsrates» steht als Legende unter einem vierspaltigen Bild der händehochstreckenden Gesellschaft. Warum denn hätte jemand nicht zustimmen sollen? Über 80 Prozent der Stimmen gehören ohnehin dem Verleger und AZ-Medien-Verwaltungsratspräsidenten Peter Wanner.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war von 2003 bis 2009 CEO der Vogt-Schild Medien Gruppe Solothurn und in dieser Funktion zu früheren Generalversammlungen der AZ Medien Gruppe als Gast selber eingeladen. Jetzt – in Pension – hat er Zeit, über das dort Gesagte nachzudenken und es gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen.

Zum Infosperber-Dossier:

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Der ordoliberale Gerhard Schwarz

«Ordoliberale Prinzipientreue» propagierte Schwarz jahrelang in der NZZ und bis März 2016 bei Avenir Suisse

Gerhard_Schwarz_Portrait

Gerhard Schwarz: Widerspruch

Der frühere NZZ-Wirtschaftschef und Leiter von «Avenir Suisse» zählt sich zum Kreis der echten Liberalen.

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3 Meinungen

  • J1
    am 15.07.2012 um 17:49 Uhr
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    Über die Idee von Freiheit im Denken von Gerhard Schwarz liessen sich in seinen Artikeln noch zahlreiche saftige Zitate finden. Freiheit ist letztlich für Schwarz, wie untenstehende Zitate zeigen, die freien Wildbahn. Gefressen oder gefressen werden, das ist sein Credo. Solidarität und soziale Gerechtigkeit hingegen sind des Teufels. Dazu zwei Zitate von G.S.:

    «Zur moralischen Dimension einer freien Ordnung gehört auch der Appell an alle, für sich und die Ihren zu sorgen und nicht die Gesellschaft für das eigene Schicksal verantwortlich zu machen. Diese Selbstverantwortung fordert keinen Egoismus – und fördert ihn auch nicht. Zentral ist jedoch das Prinzip der Haftung. […] Der dritte Vorteil einer freien Ordnung liegt in der Generierung von Wohlstand – für alle. Dass heute zehnmal so viele Menschen auf der Erde leben wie vor dreihundert Jahren (und nicht etwa elender als damals), dass der Wohlstand in Mitteleuropa heute fünfundzwanzigmal so hoch ist und die Lebenserwartung bei der Geburt dreimal so hoch, verdankt sich hauptsächlich dem Mut zur Freiheit, der Industrialisierung und der Marktwirtschaft. […] Freiheit heisst also, dass die Zwänge der Natur, der Knappheit und damit der Ökonomie durchaus bestehen. Eine freiheitliche Ordnung ist kein Schlaraffenland. Es gibt in ihr keinen «free lunch» und keine «komfortable Stallfütterung» durch den Staat, von der Wilhelm Röpke gesprochen hat. Das Ross im Stall, das «alles» bekommt, ist unfrei, das Wildpferd, das sich sein Futter suchen muss und vielleicht verhungert, ist frei. Freiheit ist also keine Idylle.» NZZ 2. März 2012
    «Von den Gefahren, denen die liberale Ordnung ausgesetzt ist, ist das Streben nach ökonomischer Gleichheit wohl die älteste. Der sozialistische Traum führt unweigerlich in den Totalitarismus.» NZZ 253, 30./31. Okt. 2010

  • am 27.07.2012 um 19:59 Uhr
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    Die Freiheit, von der G.S. spricht und die alle Marktlibertären als Inbegriff von «Freiheit» deuten wollen, ist einfach die Freiheit dazu, von seiner Marktmacht (Produktivität, Kaufkraft, auch und vor allem als Investor) in allen Stücken «freien» Gebrauch zu machen. Vgl. http://www.mem-wirtschaftsethik.de/das-mem/publikationen/markt-und-freiheit/
    Ja, dies schafft «den Wohlstand", der allerdings nicht nur zunehmend keiner mehr «für alle» ist, sondern überdies mit «Kosten» verbunden ist, die die Lebensqualität all derjenigen, die auch andere Dimensionen von Freiheit als nur die Marktfreiheit kennen und ausleben wollen, bedroht. Letztlich votiert G.S. für einen ökonomischen Imperialismus, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Denn dadurch, dass die einen ihre «Freiheit» bzw. ihre Marktmacht ausüben, zwingen sie die anderen zu einem ebensolchen Leben, welches G.S. sich und für allen anderen so sehr wünscht.

  • am 28.07.2012 um 02:10 Uhr
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    Das Recht auf die Freiheit zu verhungern, wie sie G.S. in seinem Rössli-Beispiel wörtlich fordert, muss unbedingt der Menschenrechtskonvention hinzugefügt werden. Ein Jammer bloss, dass die Welt da draussen keine Ahnung hat, welche grossartigen Denker wir in unserem schönen Land alimentieren.

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