Kommentar

Lehrbuch-Ökonomie hat ideologische Schlagseite (1)

In den Lehrbüchern gibt es eine Reihe von Doktrinen, die schlicht weltanschaulich besetzt sind und dennoch unausrottbar dominieren. ©

Rudolf Strahm /  In den Lehrbüchern gibt es eine Reihe von Doktrinen, die schlicht weltanschaulich besetzt sind und dennoch unausrottbar dominieren.

Hier einige Beispiele solcher fragwürdigen Doktrinen:

Irrationales Verhalten kaum berücksichtigt

Den ökonometrischen Modellen liegt das Menschenbild des Homo Oeconomicus als Verhaltenshypothese zugrunde, also des rein zweckrationalen, nutzenorientierten Handlungsmenschen. Dieses anthropologische Konzept des Homo Oeconomicus ist eine normative Konstruktion. Es gibt ihn nämlich gar nicht oder nur ganz eingeschränkt.
Irrationales Verhalten an den Märkten, etwa Panik, Herdeneffekte, Gier, wie wir sie an den Finanzmärkten erfahren, werden nur in Aussenseiterdisziplinen ernst genommen und dort werden sie als blosse Störung der Märkte abgehandelt. Vielleicht finden jetzt solche von der Psychologie ausgehenden Denkkategorien mit der neueren «Behaviour Economics» eine hoffähigere Stellung.

Gesetz von Angebot und Nachfrage stimmt meistens nicht

Das so genannte «eherne Gesetz von Angebot und Nachfrage», das sich in jedem Lehrbuch wieder findet und jetzt sogar als Pflichtstoff für die Unterstufe im Lehrplan 21 Eingang finden soll, ist eine eng begrenzte, fast fundamentalistische Doktrin. Diese sog. «Gesetzmässigkeit» gilt nämlich nur bei völliger Markttransparenz mit völlig homogenen Gütern wie Rohstoffen oder Devisen. Aber sie ist in der Wirtschaftswirklichkeit die grosse Ausnahme und nicht die Regel – das weiss der frühere Preisüberwacher!

Unbezahltes Arbeiten wird ignoriert

In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechung VGR der Ökonomen wird definitionsgemäss als Arbeit nur die bezahlte Arbeit gemessen und in Franken bewertet. Unbezahltes Arbeiten, Hausarbeit, Betreuungsarbeit von Kindern, freiwillige Arbeit gehört zum «informellen Sektor» und wird im BIP nicht als Wertschöpfungsbeitrag gezählt. Obschon gerade diese menschlichen Tätigkeiten einen unverzichtbaren Beitrag zur Lebensqualität leisten.

Gerechtigkeit interessiert nicht

Die Frage etwa nach der «gerechten Verteilung» des Einkommens oder Vermögens, «Gerechtigkeit», ist im ökonomischen Mainstream schlicht ein Unwort. Wer das braucht, ist schon fast aus der Wissenschaftszunft exkommuniziert.

Der Staat als Störefried

In der auf die Märkte fixierten Mainstream-Ökonomie ist die Tätigkeit des Staates fast per definitionem eine Störung. Die Staatstätigkeit stört bloss den Markt! Der Anti-Etatismus gehört quasi zur impliziten Grundanschauung der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft.

Bedeutung der Berufsbildung verkannt

Ich habe bei den klassischen Ökonomen nie ein Interesse oder einen Widerhall gefunden zu jenem Thema, für das ich mich seit Jahren intensiv beschäftige und publiziere, nämlich die Berufsbildung als Antwort auf die Jugendarbeitslosigkeit. Ich halte dieses Problem von derzeit 20.5 Prozent Jugendarbeitslosenquote in Europa für das grössere Drama als die täglich schlagzeilenträchtige Verschuldung der Staaten. Denn es gibt keine grössere Demütigung eines jungen Menschen, als das Gefühl, nicht gebraucht zu werden.

Veränderung von Weltbildern

Ökonomen tun sich schwer damit, von den hier aufgezeigten Doktrinen abzurücken. Können sie sich überhaupt von ihren Weltbildern distanzieren?
Kann die Wirtschaft ihre Sachziele und Systemzwänge selber verändern? Oder ist sie ein selbstreferenzielles System, das sich selber kaum korrigieren kann?

Oder eine noch weiter gefasste Fragestellung: Wer/was verändert eigentlich die Wirtschaft? Wer verändert die Weltwirtschaft? Wer verändert die Welt?

Zivile Organisationen geben den Anstoss

Ein Rückblick auf über vierzig Jahre Wirtschaftspolitik ergibt folgendes Fazit:

Grundlegende Verschiebungen in der Weltwirtschaft lösen nicht die etablierten Mächte aus. Es sind nicht die Regierungen, nicht die Amtskirchen und nicht die Universitäten, nicht einmal die politischen Parteien und Gewerkschaften, die in den letzten vier Jahrzehnten Veränderungen in der Welt angestossen haben.
Es sind die Nichtregierungsorganisationen, die sogenannten NGOs (Non Governmental Organizations), welche die gesellschaftliche Entwicklung im Sinne von Humanität, Solidarität und Nachhaltigkeit voranbrachten. Es sind diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen, welche neue ethische Werte in die globale Wirtschaftsgesellschaft einführen und diese durch themenbezogene Aktionen und Provokationen ins breite Bewusstsein bringen. Und letztlich sind es solche Lernprozesse, welche die neuen Grundwerte und globalen Normen einbringen und das Verhalten der Regierungen beeinflussen – dies oft mit grosser Verspätung erst.

NGOs als wichtige Träger der Zivilgesellschaft

NGOs verhinderten die Versenkung von ausgedienten Ölplattformen im Meer, – und heute ist diese Art von Entsorgung generell verboten. Andere NGOs dokumentierten die grassierende Abholzung von tropischem Regenwald und vergeben heute das Nachhaltigkeitslabel für Holz oder Palmöl.
Wiederum andere kontrollieren die Einhaltung von internationalen Artenschutzabkommen bei Meerschildkröten in Polynesien, von Zugvögeln in Zypern, von Walen und Delphinen im Atlantik und Pazifik. Und zwingen die Regierungen, gegen das Artensterben aktiv zu werden. Andere beobachten die konkrete Einhaltung von Menschenrechten.

Nichts hat die westliche Gesellschaft und die Transparenz in der Weltgesellschaft der Völker in den letzten vier Jahrzehnten so stark geprägt wie die Zivilgesellschaft. Es sind die Sozialbewegungen, Entwicklungsorganisationen, Umweltverbände, Menschenrechtsorganisationen. Weltweit gehen sie zahlenmässig in die Tausenden.
Sie heissen Amnesty International, Erklärung von Bern, Oxfam, Helvetas, Caritas, HEKS, Greenpeace, WWF, Transparency International oder Human Rights Watch. Sie geben jährlich im Weltsozialforum (WSF) von Porto Alegre, Mumbai, Belem oder Dakar eine Heerschau ihrer Truppen; – eine Art Gegenveranstaltung zum jeweils gleichzeitig stattfindenden Weltwirtschaftsforum in Davos.

Dies ist ein erster Auszug aus der Rede, die Rudolf Strahm im Hinblick auf den Dies Academicus der Universität Bern am 2. Dezember 2011 gehalten hatte. Die Universität Bern verlieh Strahm auf Antrag der Theologischen Fakultät die Ehrendoktorwürde. Es folgen noch zwei weitere Teile.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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