Kommentar
Wahrheit, Lüge und Populismus
«Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik», schreibt Hannah Arendt.* Christoph Blocher gestand laut NLZ vom 31. Oktober ein, seine Partei habe im Wahlkampf Fehler gemacht, möglicherweise sei sie mit dem Plakat über die Masseneinwanderung zu präsent gewesen. Mit diesem Eingeständnis gibt er einen taktischen Fehler zu. Somit ging es bei dem Plakat nicht um die Wahrheit, sondern um die richtige Taktik. Taktik wird als ist ein erlaubtes Mittel in der Politik eingesetzt. Nur geraten die Akteure damit rasch in Gefahr, Tatsachen zu verfälschen, sie verkürzt wiederzugeben, meist um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Die Einwanderung zum Beispiel hat viele Gründe. Der Hauptgrund ist wohl doch die Wachstumsspirale in unserem Land, die sich unaufhaltsam weiterdrehte. Vor mehr als zwanzig Jahren fuhr ein Unternehmer der Baubranche, den ich persönlich kannte, jeden Frühling in den Kosovo, um Arbeiter zu rekrutieren. Er umwarb besonders gern tüchtige Bauersöhne, weil er die einfachen Menschen als zuverlässige Arbeitskräfte schätzte. Im Winter brauchte er sie nicht mehr und schickte sie nach Hause zurück. Nach Jahren auf dem Bau suchten sich die meisten Arbeit in einer Fabrik, blieben hier und heirateten. Das war noch, bevor es das Freizügigkeitsabkommen gab.
Damals begann der grosse Bauboom als Folge eines dynamischen wirtschaftlichen Wachstums. Nun waren auch hochqualifizierte Fachkräften gefragt, die im eigenen Land nicht zu finden waren. So wurden sie im Ausland angeworben. Und da die Fixkosten des Staates im Gesundheitswesen, bei den Sozialwerken und vielen anderen staatlichen Aufgaben stark wuchsen, benötigte die Schweiz Wachstum, um das Steuerpotential zu erhöhen. So konnten sich viele Kantone und Gemeinden sogar Steuernsenkungen leisten.
Gern wird verschwiegen, dass die eingewanderten Fachkräfte unserem Land sehr hohe Ausbildungskosten ersparen. Bezahlt hat sie der Staat, in dem die ausländischen Spezialisten herangebildet worden sind. Es handelt sich dabei um Beträge, die in die Milliarden gehen. Allein ein Ausbildungsjahr für einen zukünftigen Lehrer an der Pädagogischen Hochschule kostet den Kanton vierzigtausend Franken.
Es war also in erster Linie die Wachstumsspirale, die für die Zuwanderung von fremden Menschen verantwortlich ist. Das Plakat mit den gespenstisch marschierenden Stiefeln gerät so in die Nähe der Verwischung wahrer Tatsachen. Somit ist es denkbar, dass bei den Wählern die Frage aufkommt, wie es denn um die Wahrhaftigkeit steht, die hinter einer solchen Propaganda steckt.
Der Politiker ist nicht zur Wahrheit verpflichtet, er kann ja schweigen, aber redet er, dann muss, was er sagt, wahr sein, den Tatsachen entsprechend. Eine kleine Lüge genügte, und Elisabeth Kopp sah sich im Dezember 1988 gezwungen, den Rücktritt aus dem Bundesrat bekanntzugeben. Der Einzige, der lügen darf oder durfte, ist Sivlio Berlusconi, weil ihn seine eigenen Massenmedien immer wieder deckten und es ihm gelang, Parlamentarier anderer Parteien anzuwerben, so auch der in der Schweiz gewählte Antonio Razzi, der ursprünglich der Gruppe «Italien der Werte» von Di Pietro angehörte.
Auf der Suche nach einer Definition des Populismus, kommt man nicht darum herum zu sagen, es handle sich dabei um eine Politik, die die Lüge oder die Halbwahrheit jederzeit als legitimes Mittel zum Erreichen politischer Zwecke einsetzt. Der Populismus braucht sich um die politische Tugend der Wahrhaftigkeit nicht zu kümmern, geht er doch von Devise aus: Die Hunde bellen und die Karawane schreitet weiter. Hernach erklärt er den Kritiker für unzuständig, der von Politikern Wahrhaftigkeit fordert. Erkläre ihn als unzuständig, und seine Waffe wird stumpf!
Warum aber hat der Populismus Erfolg und warum ist die Wahrhaftigkeit kein Thema in der öffentlich verhandelten politischen Ethik? Eine Antwort könnte lauten: Die Fakten, die ein Populist vorbringt, könnten tatsächlich so sein, wie er behauptet. Ohne die Nähe zur Realität verfängt auch der Populismus nicht. Dem Gegnern, der populistische Aussagen zu widerlegen versucht, geht es wie einem Wirt, der um seinen Ruf kämpft, weil er einmal ein zu zähes Entrecote serviert hat. Er muss mindestens dreizehn Mal ein sehr zartes auf den Tisch bringen, bis der Rufschaden beseitigt ist. Unterdessen ist der Populist bereits beim nächsten Thema.
Populisten halten nichts von einem Intellektuellen, der ihr Versteckspiel durchschaut und versucht aufzuklären. Sie nennen ihn einen Gutmenschen oder Schöngeist. Damit ist er gebrandmarkt und ausser Gefecht gesetzt. Darum scheut sich manch ein Intellektueller, den Kampfplatz des Populismus zu betreten. Zum Glück ist es dann die Torheit der Taktiker selber, die sich mit ihren unwahren Behauptungen übernehmen. Ich selber teile mich Menschen in meinen «Ansichten» mit, freilich offenbar nur solchen, die sich die Mühe machen, hie und da auch Kritisch-Kompliziertes nicht nur zu überfliegen. Jedenfalls sagte mir jüngst ein Leserbriefschreiber, er lese meine Artikel nicht. Er erklärte mich für unzuständig.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Andreas Iten war von 1986 bis 1998 Ständerat des Kantons Zug. Er ist Buchautor und publiziert regelmässig Kolumnen in der Neuen Luzerner Zeitung. Auch diese Kolumne von besonders aktuellem Wert - kurz vor den Bundesratswahlen - ist in der NLZ erschienen.