Kommentar

Das „freie“ Libyen: Sharia und / oder Demokratie?

Erich Gysling © zvg

Erich Gysling /  Etliche der «neuen» Machthaber in Libyen waren schon die alten. Und sie verheissen - so man denn genau hinhört - nichts Gutes.

Keine Frage: Muammar al-Ghaddafi war während seiner Herrschaft nicht der Wohltäter Libyens. Kennzeichen der 41 Jahre dauernden Diktatur waren die Unterdrückung der Menschenrechte und eine beispiellos willkürliche Justiz. Man erinnere sich nur an den Fall der fünf bulgarischen Krankenschwestern, die 1999 zum Tod verurteilt wurden, weil sie, angeblich, Kinder in einem Spital Benghasis mit dem AIDS-Virus infiziert hatten. Dass dies eine glatte Lüge des Regimes war, wussten wohl Alle. «Gelöst» wurde das Problem im Juli 2007, als die Europäische Union, Bulgarien und private Spender dem Ghaddafi-Regime rund 400 Millionen Dollar zukommen liessen – damit der Revolutionsführer die Eltern der angeblich 426 an AIDS gestorbenen Kinder entschädigen konnte. Und dann durften die fünf Krankenschwestern (plus ein palästinensischer Arzt) Libyen verlassen.

Der Richter hat ganz schnell die Seite gewechselt

Ende gut, alles gut? Der Skandal zieht seine Kreise in das «neue» Libyen. Wer denn war in das Todesurteil gegen die Krankenschwestern involviert? Niemand anders als Abd al-Jalil (übersetzt: Diener des Erhabenen), der jetzt vom ganzen Westen so hoch gelobte, milde auftretende Präsident des libyschen Übergangsrats. Er bestätigte, als Richter, die Todesurteile gleich zweimal!

Seitenwechsel auch bei Anderen

Und noch eine jetzt angeblich so lupenreine Persönlichkeit spielte im Justiz-Skandal um die Krankenschwestern eine Rolle, Idris Laga. Er war es, der als Vertreter der an AIDS gestorbenen Kinder die Finanzforderungen gegenüber Bulgarien (dann, nach dem EU-Beitritt, auch an die EU) formulierte. Laga präsentiert sich zur Zeit als «militärischer Koordinator» bei den Aufständischen. Und Abdul Fatah Yunis, der im August in Libyen ermordete militärische Kommandant der Aufständischen, soll, so geht das zumindest aus bulgarischen Quellentexten hervor, eine unrühmliche Rolle bei der juristischen Untersuchung gegen die Bulgarinnen gespielt haben.

Hauptsache Demokratie…

Als Abd al-Jalil vor wenigen Tagen in Tripolis auftrat, kündigte er die Etablierung von Demokratie an – einer Demokratie, deren wichtigste juristische Quelle die sharia, also das islamische Gesetz, sein soll. Westliche Politiker nahmen das höchstens am Rande zur Kenntnis – man will ja möglichst in der «direttissima» ein neues Libyen sehen. Also überwiegen zur Zeit noch die lobenden Worte zum Thema Demokratie – sharia schiebt man an den Rand.

Und was verheisst der Verweis auf die sharia?

Nun kann man tatsächlich sharia sehr verschiedenartig bewerten. Es gibt kein «Sharia-Buch». Sharia ist ein Kompendium der juristischen Hinweise im Koran und in den Hadithen (mündliche, später schriftlich niedergelegte Aussagen über Worte oder Handlungen des Propheten Mohammed), und jede Rechtsschule innerhalb des Islams legt die Sharia (das Wort bedeutet Weg, Pfad) anders aus, respektive legt mehr Wert auf diesen oder jenen Aspekt. Man kann die Sharia-Texte auch in drei grosse Kapitel unterteilen: Familienrecht plus Soziales; Wirtschaft; Strafrecht. In keinem vom Islam geprägten Staat, mit der Ausnahme Saudiarabiens, wird das Strafrecht mit seinen für unser Empfinden barbarischen Folgen (Handabhacken etc) beachtet.

Gleichstellung der Frau: nicht in dieser Welt!

Wichtig sind aber in vielen Ländern jene Texte, die sich auf das Familienrecht, auf die Regelung des Sozialen beziehen. Fragt man, wie sich diese Abschnitte beispielsweise mit der Frage der Gleichstellung der Frau vereinbaren lassen, gelangt man unweigerlich zu problematischen Antworten. Die Frau ist zwar vor Allah mit dem Mann gleich gestellt, aber nicht hier auf unserer Erde, in unserer Welt. Und fragt man, ob religiöse Minderheiten gleiche Rechte haben wie die muslimische Mehrheit, muss man mit Nein antworten: Christen, Alaviten, Yesiden etc werden zwar respektiert und toleriert, aber da handelt es sich um eine Toleranz in Abstufungen. Volle Rechte haben, gemäss dem islamischen Recht, nur Muslime und Musliminnen.

Was also meint Abd al-Jalil, wenn er die Sharia als die wesentlichste Quelle des Rechts bezeichnet und gleichzeitig Demokratie verspricht?

»Demokratie» ist nicht gleich Demokratie

Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer schildert in ihrem kürzlich erschienen Buch «Demokratie im Islam» die Problematik sehr detailliert, bleibt aber weitgehend in Theorien verhaftet. Der Protagonist der tunesischen al-Nahda-Partei, Rachid al-Ghannouchi (sehr aussichtsreich für wichtige Positionen im künftigen Tunesien) hat sich dazu schon recht klar geäussert. Demokratie sei eigentlich ein zentrales Anliegen des Islams, schrieb er, nur gebe es da ein paar Unterschiede zum westlichen Verständnis von Demokratie. Im Westen stehe das Individuum im Zentrum, im Islam sei es Allah. Woraus man bei der Lektüre der Arbeiten Ghannouchis schliessen darf / muss: nur wer die grundlegenden Vorstellungen des Islams anerkennt, kann Teilhaber einer islamischen Demokratie sein. Für Ghannouchi und ähnlich Gesinnte (das gilt wahrscheinlich auch für Abd al-Jalil in Libyen) sind die wichtigsten Glaubenssätze des Islams vergleichbar mit absoluten Wahrheiten: zwei mal zwei ist vier, niemand kann die Schwerkraft leugnen – so felsenfest gelten für Ghannouchi oder Abd al-Jalil die wichtigsten Aussagen im Islam.

Der Westen sollte sehr genau hinhören

So weit so gut – aber mit einer Demokratie westlichen Zuschnitts, mit dem Individuum im Zentrum, mit der Anerkennung von Menschenrechten gemäss europäischen Wertvorstellungen, hat das nur bedingt zu tun. Und der Westen sollte sehr genau hinhören, was Leute wie Abd al-Jalil sagen und schreiben. Und ein wenig Abstand nehmen von der Idealisierung der libyschen Revolution.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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