Kommentar

Die Selbst-Überwindung des Kapitalismus

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Robert Ruoff /  Für die Überwindung des Kapitalismus braucht es die Linke gar nicht. Das besorgt der Kapitalismus schon selber, schreibt die Rechte

Als die SP Schweiz sich 2010 von ihren Jusos und dem linken Flügel die «Überwindung des Kapitalismus» ins Parteiprogramm schreiben liess, waren die Aufregung und die Freude gross. Die Aufregung bei den ländlich-bürgerlichen SP-Sektionen und die Freude bei den bürgerlichen Konkurrenzparteien. Brunner, Darbellay und Pelli beeilten sich, die Vorlage zu nutzen und beschworen «das Gespenst des Kommunismus» (Karl Marx u.a.). Christian Levrat, Hans-Jürg Fehr und Ursula Wyss beschwichtigten auf der anderen Seite die aufgeregten Genossen in den Sektionen mit dem Hinweis, das sei ja nur ein langfristiges Ziel und ausserdem gar nicht so gemeint.

Weder die einen noch die anderen fanden zur augenfälligen Feststellung, dass der Kapitalismus gerade mit radikaler Konsequenz dabei war, seine eigene Überwindung zu betreiben. Lehman Brothers war anderthalb Jahre vorher Pleite gegangen. In den USA zerstörte die Subprime-Krise die Lebensgrundlagen eines weiteren Teils des Mittelstands. Und in Europa betrieben Banken wie die UBS oder die Hypo Real Estate mit verzweifelten Hilferufen ihre eigene Verstaatlichung, zumindest vorübergehend und auf jeden Fall die Verstaatlichung ihrer Schulden.

Die Angst um den Kapitalismus

Heute, drei Jahre weiter in der endlosen Krise, sieht selbst die liberal-konservative Rechte und die sozialliberale Publizistik den Kapitalismus in Gefahr. In der Schweiz melden sich Autoren wie Constantin Seibt zu Wort, beschreiben die Errichtung einer neuen Oligarchie und des Niedergangs des Mittelstandes und definieren die neue Rechte als «Feinde der Zivilisation». Und Philipp Löpfe zitiert den Börsen-Guru Nouriel Roubini: «Der Kapitalismus zerstört sich selbst.» « Es wird ein langer, harter, zäher, frucht- und freudloser Kampf», sagt Seibt, und er meint damit, darf man schliessen, die links-liberale Rettung des Kapitalismus im Kampf gegen die bornierte Rechte.

Das ist ein Mangel an Realismus und zugleich ein Mangel an Vorstellungskraft. Mangel an Realismus, weil die Logik der Entwicklung zur Selbstzerstörung des Kapitalismus führt, oder im besseren Fall und mit unserer wohlwollenden Hilfe: zu seiner Selbst-Überwindung. Aber dazu gehört die Bereitschaft, festgemauerte Vorstellungen zu durchbrechen und in Zukunftsdenken zu investieren – wie es der erklärte Liberale und Reformkapitalist Roger de Weck in einem Vortrag zu einem Jubiläum der «Alternativen Bank Schweiz» einmal formuliert hat: Wer im mittelalterlichen Feudalsystem lebte, glaubte auch an seinen Ewigkeitswert und konnte sich nicht vorstellen, dass die Aristokratenherrschaft durch das Bürgertum und die kapitalistische Industrialisierung vom 18. Jahrhundert an gründlich revolutioniert würde.

Der neue Stellenwert der Linken

Angefangen hat die jüngste Debatte mit Charles Moore, dem Kommentator des rechtskonservativen «Daily Telegraph» und Biografen der gewerkschaftsfeindlichen und monetaristischen Regierungschefin Margaret Thatcher («Infosperber» hat bereits Ende Juli als erstes Medium in der Schweiz darüber berichtet). Zitiert wird in anderen Medien häufig nur der schöne Titel: «Ich fange an zu denken, dass die Linke doch recht hat». Aber es lohnt sich, die ganze Kolumne zu lesen (siehe unten: «Weiterführende Informationen»).

Moore hat, so sagt er, aussergewöhnlich viele Reaktionen erhalten. Darunter viele Missverständnisse. Denn wenn er von der Linken spricht, meint er nicht die Sozialdemokraten oder New Labour, die Demokratie mit Populismus verwechseln. Und die man heute mit ihrer Politik zur Rechten zählen muss. Er meint das Spannungsfeld zwischen bürgerlichen Ideen und wirklich linken Ideen.

Moore und die Analyse der Linken

Folgendes, so Moore, die heute treffende Analyse der Linken: «’Freier Markt’ meint heute nichts anderes, als dass die Reichen ein globales System steuern, das ihnen erlaubt, Kapital zu akkumulieren und für Arbeit den geringst möglichen Preis zu bezahlen. Die Freiheit, die daraus erwächst, existiert nur für sie. Die Vielen müssen einfach härter arbeiten, unter zunehmend unsicheren Bedingungen, um die Wenigen zu bereichern. Demokratische Politik, die vorgibt, für die Vielen Wohlstand zu schaffen, steckt in Wirklichkeit in den Taschen der Banker, Medienbarone und anderer Moguln, die alles lenken und alles besitzen.»

Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ, macht sich in einem neuen Text zum Geistesverwandten von Charles Moore. «Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik», schreibt Schirrmacher. Und: «Es geht darum, dass die Praxis dieser Politik…nicht nur belegt, dass die gegenwärtige ‚bürgerliche’ Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahmen ihrer Gegner richtig sind.»

Und dann erinnert Schirrmacher an die «soziale Marktwirtschaft» des ordoliberalen Ludwig Erhard, deren soziale gesellschaftspolitische Werte die bürgerliche koalition von CDU plus FDP im Verein mit der neoliberalen, finanzkapitalistischen Globalisierung in die Luft gesprengt hat. Mit dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in eben diese Marktwirtschaft verloren hat – und offenbar zu Recht. Sagt Schirrmacher.

Augstein, die Linke und die Freiheit

Jakob Augstein («Der Spiegel» und «Der Freitag») schreibt über Schirrmacher in ganz anderem Zusammenhang: « Auffallend an Schirrmachers Texten ist das Drängende, Endgültige, Alarmierende, Entscheidende. Weil die Katastrophen erst noch kommen.» Das war vor fünf Jahren. Heute sind wir fast soweit. Jakob Augstein schreibt im «Spiegel» in Zusammenhang mit den britischen Krawallen über die «Gestalt unserer (künftigen) Tragödie» und über eine «Gesellschaft vor der Kernschmelze», am «menschlichen Nullpunkt».

Eine Gesellschaft, in der die Ausgebeuteten noch die Ausgebeuteten ausrauben, weil die einzige Frage in dieser moralfreien, marktdominierten Gesellschaft noch ist: Was liegt für mich drin? – Wie im Fall des malayischen Studenten, der blutend am Boden sitzt und von anderen Jugendlichen zuerst aufgerichtet und dann ausgenommen wird (siehe youtube). Und er zitiert David Cameron: «Die sozialen Probleme, die sich seit Jahrzehnten entwickelt haben, sind vor unseren Augen explodiert.»

Aber der Zusammenbruch der neoliberalen Ideologie in der Krise der Märkte des Westens und den Rebellionen auf den Strassen der Grossstädte ist kein Grund für billigen Triumph der Linken. Augstein nimmt mir in seiner Kolumne das Wort aus dem Mund – zu meiner Freude und Genugtuung -, vor allem mit der einen zukunftweisenden Feststellung: «Die … Linke krankt seit jeher daran, dass sie die Idee der Gerechtigkeit nicht mit der Idee der Freiheit verbinden kann.»

Verbindung von Freiheit und Demokratie

Das erinnert mich an die ungarische Philosophin Agnes Heller, die schon vor Jahren in Zürich, bei den Hannah-Arendt-Tagen, die westeuropäische Linke mahnte, bei ihrem (berechtigten) Kampf um mehr Demokratie nicht die scheinbar so selbstverständliche Freiheit zu vergessen, und die Rechte der Minderheiten. «It’s not for granted – es ist nicht selbstverständlich.» Die kritische Marxistin sprach aus der Erfahrung mit der Diktatur des «real existierenden Sozialismus», sprich: der sozialistischen Parteidiktatur.

Diese kritische Erinnerung ist entscheidend, wenn wir mit dieser krisenhaften Selbst-Überwindung des Kapitalismus, der wir beiwohnen, nicht «wieder in der Barbarei landen» wollen (wie der junge Karl Marx sagte). «Die Menschen», schreibt Charles Moore, «haben das Vertrauen in den freien Markt verloren. Aber sie haben, Gott sei Dank, ihre Hoffnung noch nicht auf den Totalitarismus gesetzt.» Obwohl sie, wie Augstein vermerkt, für autoritäre Rezepte wieder zugänglicher sind. Und obwohl politische Führer wie David Cameron für ihr politisches Fortkommen auf Einschränkungen der Freiheit und auf populistisch erfolgreiche autoritäre Massnahmen setzen. Auf eine Justiz, die die kochende Volksseele befriedigt und die Wünsche des Regierungschefs. Und auf Einschränkungen der Informationsfreiheit nach dem Beispiel von Mubarak und anderen.

«Wenn wir auf den Arabischen Frühling blicken», schreibt Moore, « dann sagen wir uns selbstgefällig, dass all die Menschen auf den Strassen die Freiheit haben wollen, die wir haben. Und gewiss ist unsere Situation besser als ihre. Aber ich bezweifle, dass die westliche Führung auf einen Protestierenden am Tahrir Platz in gleicher Weise schaut, wie sie damals auf jemanden blickte, der die Berliner Mauer niederschlug. Wir sind kaputt – wirklich und moralisch.»

Die Selbst-Überwindung des Kapitalismus

Da sind sich Moore und Augstein einig. Und Schirrmacher. Und die verbliebenen kritischen Schreiber in der Schweizer Medienszene. Aber sie bieten in dieser Krise, in der der Kapitalismus sich wieder einmal und vielleicht nicht zum letzten Mal in einer selbstzerstörerischen Krise windet, kaum mehr als die bekannten Rezepte.

Constantin Seibt verspricht im Tages-Anzeiger einen langwierigen Kampf mit der Betonfraktion des Neoliberalismus, von Blocher bis Pelli. Schirrmacher erinnert an die in der Globalisierung sinnentleerten Werte des liberalen Bürgertums und an den Untergang der sozialen Marktwirtschaft. Und Moore hofft am Ende doch auf die Rettung des Konservativismus, und sei es auch nur wegen der Dummheit der Linken – «by the stupidity of the Left».

Aber die alten Rezepte taugen nicht mehr.

Neue Vision gefragt

Eine lebenswerte postkapitalistische Gesellschaft braucht eine konkreten Vision. Sie braucht, um mit Stéphane Hessel zu reden, den Schritt vom «indignez-vous» zum «engagez-vous!».

Es geht um die Erhaltung der natürlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen, gegen die alles zerstörende Profit- und Wachstumsideologie.
Es geht um die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in Freiheit.
Es geht – mit Augstein zu reden – um die Verteidigung der Demokratie gegen den Kapitalismus mit seiner Minderheiten-Herrschaft.

Es geht politisch praktisch darum, dass alle, die die freiheitlichen Errungenschaften der französischen Revolution erhalten und kreativ in die Zukunft hinein entwickeln wollen, über Parteigrenzen hinweg, undogmatisch, für solche Ziele zusammenwirken.

Oder?

NACHTRAG:
Wir sollten nicht vergessen, dass es auch andere Meinungen gibt. So schreibt Christoph Mörgeli in der vorletzten «Weltwoche» (32/2011 – 11. August):
«Wahr ist: Einzig eine kapitalistische Gesellschaftsordnung kann die Menschen dieser Welt einigermassen ernähren. Die sozialistisch-marxistischen Rezepte der … Salonlinken bedeuten Massenarmut, Hunger und Tod. Wahr ist auch: Der Kapitalismus ist nicht einfach nur gut. Genau wie die Art unserer Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung nicht in jeder Hinsicht erfreulich ist. Aber es gibt für uns Menschen keine andere Möglichkeit. Die Alternative hiesse Hungertod.» (In einem Kommentar zur Reise von Bundespräsidentin Calmy-Rey ins ostafrikanische Hungergebiet)


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keine

Zum Infosperber-Dossier:

Neoliberalismus2

Neoliberale und ihre Ideologie

Der Neoliberalismus à la Reagan und Thatcher will möglichst wenig Staat und dafür freie Fahrt für Konzerne.

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