Kommentar
Verbietet die Burka! Beerdigt die Aufklärung!
Evelyne Widmer-Schlumpf darf persönlich so empfinden. Aber es äussert sich unsere Justizministerin* in der Antwort auf die Frage, ob sie für ein Burka-Verbot sei: ‚Sie könne sich vorstellen (so die NZZ am Sonntag vom 3. Januar 2010*), «dass man sagen würde, in der Schweiz wollen wir das nicht».’ Das ist nicht privat, das ist politisch im Amt gesprochen. –
Der mindestens doppelte Konjunktiv – man «kann sich vorstellen», man «würde sagen» – bietet genug politische Rückzugsmöglichkeit, um bei Gelegenheit das Ganze wieder zurückzunehmen. Aber die Sprecherin der Bundesrätin, Brigitte Hauser-Süess (CVP), früher Informationschefin im Bundesamt für Migration, erklärt auf NZZ-Nachfrage immerhin, ‚ein Burka-Verbot stehe dann zur Debatte, «wenn Burka-Trägerinnen in grosser Zahl auftreten.»
Was ist eine «grosse Zahl»? – Genügen schon die Gruppen Burka-verhüllter Frauen, die regelmässig in der Bahnhofstrasse Zürich oder auf dem Quai du Mont-Blanc in Genf gesichtet werden? Wohl kaum: der Aufschrei der Geschäftsleute in der Zürcher City-Vereinigung und der Genfer Juweliere und Banquiers wäre Frau Widmer-Schlumpf gewiss, denn diese Burka-Trägerinnen schütten erhebliche Mengen von Petrodollars in die Kassen und Bilanzen von Banken und Geschäften an der Limmat und am Genfersee. Auch wenn sich die zahlungsfähige Kundschaft selbstverständlich gerne auch direkt in den Hotelsuiten bedienen lässt, wo diese Frauen ihre Burka ablegen und die Designerstücke von Chanel, Dior, Gucci, DKNY offen tragen.
Also: was ist «eine grosse Zahl»? Und was heisst das: die Burka «passt nicht zu unserer offenen und gleichberechtigten Kultur»? Was meint Frau Widmer-Schlumpf damit? Denkt sie an die «offene und gleichberechtigte Kultur» in unseren Berggebieten, wo viele Frauen bis heute Tag für Tag das Kopftuch tragen, wie unsere balkanesische Nachbarin, die in unserer Abwesenheit die Blumen giesst (und sich freut über das Glas selbstgemachter Konfitüre von meiner Frau)? Die einen tragen das Kopftuch aus christlicher, bündnerischer, walserischer Sitte, die anderen aus islamischer, arabischer, afrikanischer Tradition. Ich respektiere sie alle in ihrer jeweils ganz besonderen Würde. Ich denke, das sollten wir alle tun.
Was ist «unsere Kultur»?
Oder denkt Frau Widmer-Schlumpf an die katholischen Ordensschwestern in ihrer keuschen Tracht, die ich selber als Putzfrauen und Krankenpflegerinnen in der Klosterschule erlebt habe? Ich verbeuge mich, bei aller weltanschaulichen Distanz, noch heute vor den Leistungen und der Dienstbereitschaft und der Warmherzigkeit dieser Frauen – aber: »offene und gleichberechtigte Kultur»? Und: warum das eine oder andere verbieten?
Was ist denn überhaupt «unsere Kultur»? Wird sie vom Gesetzgeber festgelegt? Sollen Hosenverbot und Rockzwang («weibliche Kleidung»!), die für Frauen bis vor dreissig, vierzig Jahren noch in Parlamenten und bessern Hotels die feste Vorschrift waren, jetzt abgelöst werden vom Gegenteil? Sind die hängenden Baggy Pants der Hip-hop-Generation heute die Norm (zu denen eine verzweifelter Kabarettist nach dem Besuch des Heizungsmonteurs einmal ausrief: «Ich will seinen A… nicht sehen!»), oder die hüftkurzen Hipsters mit dem nabelfreien Body, oder die T-Shirts über den Bierbäuchen, die Leggings für jede noch so übergewichtige Figur? Ich gebe zu: da fordert mancher Anblick meine Fähigkeit zur Toleranz mehr heraus als die gelegentliche Ansicht einer Burka, und es meldet sich der starke Wunsch nach mehr Verhüllung (sorry!).
Aber sei’s drum. Nur noch eine Frage: Was ist, wenn Armani, Zegna, Gucci, H&M Abschied nehmen von der kurz berockten und eng behosten Mode, wenn sie Kaftan, Kopftuch und Burka zum neuesten Modeschrei erklären? Was dann, Frau Hauser-Süess, was dann, Frau Widmer-Schlumpf? – Irgendwann muss die Mode-Wende ja kommen!?
Beerdigung der Aufklärung im Namen der Aufklärung?
– Nein, Scherz, Satire, Ironie beiseite: Was ist das für ein Mief, der einem da aus dieser von BDB und CVP geschlungene Connection entgegenweht? Durchzieht die Fremdenangst die Chefetage im Justizdepartement? Oder muss man der Frage nachgehen, welche Motive eigentlich hinter den immer neuen Versuchen zur Verschärfung von Ausländer- und Asylgesetzgebung stehen? Hinter dieser kaum verschleierten Pflege anti-islamischer Stimmung? Wer soll mit einer Burka-Debatte eigentlich bedient werden? Schielt da jemand bereits auf künftige Wahlen und Wählerschichten? Wären wir im Justizdepartement vielleicht doch besser bedient mit einem «echten» SVP-Bundesrat, der nicht dauernd seine Rechtsgläubigkeit beweisen muss?
Als ich vor zwei, drei Jahren einen Besuch bei Al Jazeera Childrens Channel – ich weiss, schon der Name schürt die Ängste! – im arabischen Emirat Qatar machen konnte, bin ich dort in den redaktionellen Grossraumbüros Frauen in Burkas begegnet, und Frauen mit Kopftuch, und Frauen in eleganter westlicher Kleidung – nebeneinander im gleichen Raum, in selbstverständlicher Zusammenarbeit. Der CEO war ein ehemaliger Leiter des arabischen Dienstes von Schweizer Radio International SRI und die Programmdirektorin eine überaus dynamische, moderne Marokkanerin. Die Errungenschaften der europäischen Aufklärung – Freiheit der Religion, der persönlichen Überzeugung und der Lebensgestaltung – waren alltägliche Selbstverständlichkeiten. Und die kulturelle Vielfalt ist bis heute ein festes Thema im Programm dieses Kinder- und Jugendkanals.**
Das sind Grundwerte, die wir noch im letzten Jahrhundert zu den gesicherten Errungenschaften der Schweiz zählten. Soll dieses Erbe, dieser Kern der Aufklärung, bei uns nun eingeschränkt werden – wegen einer herbeigeredeten Gefahr? Freie Gestaltung des Privatlebens, einschliesslich der Kleidung, freie Meinung, freie Religionsausübung: Wollen wir diese Freiheiten retten, indem wir damit beginnen, die Freiheit abzuschaffen? Die angedrohte Kleiderordnung ist dafür nur ein kleines Zeichen, aber alarmierend allemal: Welche Tracht wird am Ende noch tragfähig sein? – Kurz: Wäre es nicht besser, die bürgerlich-demokratische Frau Bundesrätin und der christlich-demokratische Parteipräsident Christophe Darbellay, der in die gleiche Richtung schiebt, würden anstatt Ängste zu pflegen das Zusammenlebens der Kulturen aktiv und offensiv fördern?
Der Alltag entscheidet, nicht die staatliche Bevormundung
Auch und gerade weil es stimmt: Es gibt Frauen, die unter die Burka gezwungen werden, gegen ihren Willen. Sie verdienen unsere Unterstützung, wenn sie die Burka ausziehen wollen. Aber nicht mit gesetzlichen Beglückungsmassnahmen. Emanzipation ist immer zuerst eine Entscheidung derer, die sich emanzipieren wollen. Um diesen emanzipationswilligen Frauen (und vielleicht Männern) zu helfen, müssen wir direkte, lebendige Beziehungen herstellen und Strukturen schaffen, die diese Unterstützung erleichtern. Das verlangt allerdings harten, alltäglichen Einsatz. Und es ist wahrscheinlich eine Aufgabe für Generationen. Da kann die Politik helfen.
Solidarische Hilfe zur Emanzipation
Um es konkret zu machen, mit einem Beispiel aus eigener Erfahrung: Das erste Frauenhaus in Deutschland wurde von einer durchaus privaten Initiative von Frauen in Berlin gegründet. Und mit ihrer überzeugenden Arbeit haben sie die Unterstützung der Stadtregierung gewonnen: Finanzierung von Stellen und Einsatz von Sicherheitskräften, wenn es notwendig wurde.
Vielleicht wird die Tochter unserer Nachbarin vom Balkan einmal Shirt und Jeans tragen und nicht mehr Mantel und Kopftuch. Vielleicht werden das viele Töchter tun, wie jetzt schon in unseren Städten. Auch wenn in unseren Berggebieten das Kopftuch vielleicht immer noch für manche Frauen die Regel ist. Aber der Einsatz für eine Entwicklung zur freiheitlichen Vielfalt ist ausdauernde Arbeit. Da kann man sich nicht leichthin mit einem politischen Statement profilieren, das im besten Fall wirkungslos bleibt.
Georg Kreis, der Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, ärgert sich nach dem Bericht der «NZZ am Sonntag» über die Burka-Debatte: »Da wird versucht, einen Generalverdacht gegenüber den Muslimen an einer faktisch nicht existierenden Extremvariante festzumachen. Diese Diskussion ist das grössere Problem als die Burka selber.» Und ich möchte hinzufügen: Eine Ursache dieses Problems sind Politiker an der Spitze eines Departments oder einer Partei, die diese Diskussion ohne jede Not immer wieder anzetteln.*** – Oder?
**NACHTRAG 1: Die Diskriminierung von Frauen ist in Qatar aber noch nicht vollständig überwunden. Insbesondere ausländische Arbeitnehmerinnen haben mit Problemen zu kämpfen. Aber auch die gesetzlichen Verbesserungen für einheimische Frauen werden durch Gerichtsurteile immer wieder nicht angewendet (Amnesty Report 2010)
***NACHTRAG 2: Die bedeutende aktive Rolle von Kopftuch (und Burka) tragenden Frauen bei den Befreiungskämpfen im Iran, in Tunesien, Aegypten und anderen arabisch-islamischen Staaten gibt weiteren Anlass, unser Bild von Frauen im Orient kritisch zu überprüfen.
*Entstehung des Textes: 6. Januar 2010
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine