Ich bin schwul. Das ist meine Natur.
7. März 2020
Der Schwinger Curdin Orlik macht es auf dem Titelblatt des heutigen Magazins öffentlich: «Ich bin schwul.» Das habe er schon immer gewusst. «Seit ich zwölf war.» Aber jetzt will er «frei sein. Viel zu lange habe ich verdrängt, wer ich wirklich bin.» Das erfährt nun die ganze Nation oder zumindest alle, die es wissen wollen. Sein Bekenntnis ist nicht nur die Titelgeschichte – «Lieber frei als ängstlich» – des Magazins. Es ist auch eine Schlagzeile in der Hauptausgabe der Tagesschau. Die alten und neuen Medien begleiten das Coming-Out des 27-jährigen Vaters. Das sein Bruder und Schwinger als «das Mutigste, das jemand machen kann» (Magazin) bezeichnet. Auch wenn mit Verweis auf die «Diktatur der politischen Korrektheit» gerne behauptet wird, es brauche heutzutage mehr Mut zu sagen, Homosexualität verstosse gegen die Natur – die Kombination von Homosexualität und Schwingen generiert auch 2020 noch mehrdeutige Aufmerksamkeit. Mehdi Künzle, damals Vorstandsmitglied der Schwulenorganisation Pink Cross, erklärt 2014, so das Magazin: «Schwingen ist in der Schweiz sicher die heikelste Sportart für ein Coming-Out. Da muss sich ein Sportler gegenüber dem konservativsten Teil des Landes zu seiner Homosexualität bekennen.» Und beweist damit, dass Homosexualität einen nicht vor Vorurteilen schützt. Orlik selbst, schreibt Christof Gertsch im Magazin, «liebte seinen Sport, und er liebte Männer. Er glaubte einfach nicht, dass sich beides vereinbaren lässt, eine Karriere als Schwinger und ein heimliches Leben als Schwuler. Das eine, dachte er, schliesse das andere aus. Er sah nur einen Weg: sich öffentlich zu outen.»
Curdin Orliks Schritt mag – im Gegensatz zu Neil Armstrongs Hüpfer auf den Mond im Jahre 1969 – subjektiv ein grosser sein. Ob er’s auch für «die Menschheit» oder zumindest «die Schweiz» ist, ein Schritt in eine (Schwinger-)Gesellschaft, in der Schwulsein als das «Normalste der Welt» (Orlik im Magazin) gesehen wird, oder nur ein mediales Sensatiönchen, das ein Tabu bricht, das längst zerbröselt ist, bleibt offen. Interessanter als der Stellenwert des Comingouts, bemerkenswerter als der Applaus – der Homosexualität aus der «Normalität» klatschen würde, wenn sie schon dort angekommen wäre – ist Orliks Begründung seiner sexuellen Orientierung: «Ich bin so. Ich kann nichts dafür. So bin ich geboren.» Das ist meine Natur. Ich höre Marlene Dietrich als fesche Lola den Text von Friedrich Hollaender im Blauen Engel singen: «…Ich bin von Kopf bis Fuss // Auf Liebe eingestellt // Denn das ist meine Welt // Und sonst gar nichts // Das ist, was soll ich machen // Meine Natur // Ich kann halt lieben nur // Und sonst gar nichts…» Die Denkfigur «Ich bin schwul. Ich bin so. Ich kann nichts dafür. So bin ich geboren.» verweist auf soziobiologische Menschenbilder und alte Strategien homosexueller Bewegungen. Wenn die sexuelle Orientierung in den Genen steht, kann das homosexuelle Individuum nichts für seine Neigungen. Es liegt an der «Natur», dass es schwul oder lesbisch, hetero oder bi ist. Es ist (auch) ein Opfer Gottes. Wer sich so rechtfertigt, glaubt nicht wirklich, dass Homosexualität «das Normalste der Welt» ist. Niemand würde sagen: Ich kann nichts dafür. Ich bin so. Ich bin heterosexuell. Aber Homosexuelle tun das. Und sagen damit im Subtext (bewusst oder unbewusst): Wenn ich könnte, wäre ich anders, «normal». Diese Denkfigur ist im Innersten konservativ, ja, homophob. Die «Re-Biologisierung der Homosexualität» und damit «die Behauptung von der Unveränderlichkeit der Homosexualität», schreibt Rainer Herrn 2000 im Jahrbuch für Kritische Medizin, sei auch eine Art Garantie (für die Heteronormalen), «dass Schwul- und Lesbischsein nicht ansteckend ist, dass niemand lesbisch oder schwul werden kann, der es nicht schon von Geburt an ist».
Die Projektion unterschiedlichster Menschenbilder auf «die Natur» – die dann, umgekehrt, als Legitimation für soziale beziehungsweise innerpsychische Werte und Normen instrumentalisiert wird – hat eine lange Tradition. Aber die «Natur» – die, zum Beispiel, sowohl von Homosexuellen als auch von Homophoben als Komplizin umworben wird – ist ein äusserst «unsicherer Kanton» und kann für alles, wurde auch schon für das Menschenmöglichste beansprucht. Die Formel «Ich bin so. So bin ich geboren.» und das oft gesuchte (aber nie gefundene) Kriminalitäts- beziehungsweise Gewalt-Gen würden auch Pädosexuelle, Vergewaltiger und Mörderinnen schützen. Ihnen allen aber unterstellen wir, sie könnten etwas dafür, und bestrafen sie im Namen der Entscheidungsfreiheit. Als ob sich einer im Laufe seines Lebens dazu entscheiden würde, Serientäter oder Massenmörder zu werden. Zu welchem Leben darf man sich entscheiden? Zu welchem nicht? Wer die Curdinsche Verteidigung wählt, verrät – er lebt in einer Kultur, in der es noch immer verwerflich wäre, wenn einer aus freien Stücken schwul würde. Wenn er die Wahl hätte und es trotzdem täte. Wirklich frei aber wäre nur die Gesellschaft, in der eine oder einer Homosexualität, Zölibat, Vielehe, Heterosexualität und das (soziale) Geschlecht frei wählen könnte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Es gibt keine homophoben Denkfiguren. Denken kann man alles, nur Handeln unterliegt u.U. Strafbewehrung. Homophobie ist ein Nonsensausdruck, da der Begriff Phobie von der Psychopathologie belegt ist. Es hat niemand eine auf Homosexualität bezogene Phobie, es gibt nur Leute, die das aus unerfindlichen Gründen ablehnen.
Die sog. sexuelle Identität ist wie das soziale Geschlecht eine frei wählbare Rolleneigenschaft. Rolleneigenschaften sind subjektive soziokulturelle Kategorien ohne biologische und psychologische Determination.