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Die Tabakindustrie arbeitet aktiv an der Vernebelung der Ausbreitung der Nikotinsucht © pixabay

Schweiz: Gesunde Tabakindustrie wichtiger als gesunde Bürger

Rainer M. Kaelin /  Die Schweiz belegt in der Europäischen Tobacco Control Scale den vorletzten Platz. Schuld ist der Einfluss der Tabakkonzerne.

Red. Der Arzt Rainer M. Kaelin war Vizepräsident der Lungenliga Schweiz und ist Vizepräsident von Oxyromandie, einem Verein, der sich für den Schutz der Nichtraucher und für Werbeverbote für Tabakprodukte einsetzt, wie sie die WHO-Rahmenkonvention vorsieht.

Die europäischen Krebsligen veröffentlichen alle paar Jahre eine Rangliste (1), in welcher die Länder Europas anhand der Massnahmen, zu denen sie sich als Partner der WHO-Tabak-Rahmenkonvention (FCTC) verpflichten, bewertet werden. Die Rangliste wurde am 20. Februar anlässlich der Konferenz über Tabak und Gesundheit veröffentlicht – und stellt der Schweiz ein Armutszeugnis aus.

2016 belegte die Schweiz immerhin noch den 21. Platz. Drei Jahre später liegt sie auf dem 35. und damit auf dem zweitletzten Rang aller untersuchten Länder. Von 100 möglichen Punkten erzielte sie nur deren 41. Dass die Schweiz nicht den letzten Platz belegt, verdankt sie Deutschland, das mit nur einem Punkt Rückstand auf die Schweiz die rote Laterne hält.

Entwicklungsland im Tabak-Präventionsbereich

Für die Tobacco Control Scale (TCS) bewerten die Krebsligen die von der Besteuerung mitbestimmten Verkaufspreise des Tabaks, die Rauchverbote im öffentlichen Raum, die Präventionsbudgets, die Werbeverbote und Warnhinweise, den Beitritt zur FTCT sowie zur Konvention über den Schmuggel. Ausserdem wird untersucht, ob die einzelnen Länder die Massnahmen vor der Unterwanderung durch die Tabakindustrie schützen, wie es der FCTC gebietet.

Die Gründe für das schlechte Abschneiden der Schweiz liegen beim Einfluss der multinationalen Tabakkonzerne, die wirkungsvolle Werbeverbote seit jeher verhindern (2). Auch das Parlament, das dem Bundesrat auf sein Ersuchen hin die Kompetenz entzog, die Tabaksteuern zu erhöhen (3), ist mitschuldig. Das lakonische Fazit der TCS: Die Schweiz ist mehr an einer gesunden Tabakindustrie als an gesunden Bürgerinnen und Bürgern interessiert.

Nähe von Industrie und Politik

Der Einfluss, den die Tabakindustrie auf die Bundesverwaltung ausübt, wurde für die breite Öffentlichkeit augenfällig, als es Philipp Morris beinahe gelang, am Schweizer Pavillon der Weltausstellung in Dubai als Hauptsponsor aufzutreten. Der kürzlich erfolgte Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts, welcher der Zollverwaltung gebietet, die Preisaufschläge der Tabakindustrie offenzulegen, um Kartellabsprachen untersuchen zu können, weist in dieselbe Richtung (4). Die grossen Gewinnmargen der Industrie, die einem entgangenen Steuergewinn des Bundes von mehr als 200 Mio. CHF/pro Jahr gleichkommen, sind in der Schweiz bedeutend höher als in den Nachbarländern, obwohl hier die Einzelverkaufspreise verglichen mit dem mittleren Einkommen niedriger sind.

Im Parlament widerspiegelt sich diese Nähe in der bisherigen Weigerung, die WHO-Rahmenkonvention zu ratifizieren, die bereits seit 16 Jahren (!) auf seiner Agenda steht.

Ausserdem wurde 2014 mit der Einsetzung des neuen Lebensmittelgesetzes auch gleich eine Gesetzeslücke für Tabak- und ähnliche Produkte installiert, weil das Parlament das Tabakproduktegesetz zurückgewiesen und damit griffige Massnahmen auf die lange Bank geschoben hatte. Die Händlerinnen und Händler von Snus und E-Zigaretten erwirkten so am Parlament vorbei durch das Bundesgericht die Legalisierung von Nikotin.

Grundlegender Konflikt zwischen Tabakindustrie und öffentlicher Gesundheit

Der Interessenkonflikt zwischen Tabakindustrie und öffentlicher Gesundheit, den weltweit dank der Unterzeichnung der FCTC insgesamt 184 Länder im Recht festhalten, wird in der Schweiz weiter ignoriert.

Mit der FCTC halten die Vertragsstaaten fest, dass Tabak- und Nikotinprodukte mit der Absicht hergestellt werden, Abhängigkeit zu erzeugen und zu erhalten. Ohne die Produkte als solche zu verbieten, soll die Nachfrage durch Steuern und durch ein Verbot der Werbung, der Promotion und des Sponsorings gedrosselt werden. Das Angebot soll beschränkt werden, indem der Schmuggel mit der Produkte-Verfolgbarkeit bis zum Einzelverkauf, wie auch der Verkauf an Minderjährige, verboten werden. Keine dieser FCTC-Massnahmen setzt die Schweiz um. Dabei beweisen die Länder, die in der TCS-Rangliste die vorderen Ränge belegen, dass koordiniert getroffene Massnahmen wirken. So sind die Raucherquoten im Vereinigten Königreich, das in der Rangliste den ersten Platz belegt, weniger als halb so hoch als in der Schweiz.

Unterwanderung von Tabak- und Suchtprävention

Einen weiteren Beweis für den fehlenden politischen Willen zu einer wirksamen Tabak- und Suchtprävention liefert die Auflösung der eidgenössischen Kommission für Tabakprävention (EKTP). Diese wurde im November 2019 zu Grabe getragen (5); ihr Auftrag wird seit 2020 der Kommission für Fragen zu Sucht und nichtübertragbaren Krankheiten (EKSN) anvertraut.

Ein Entscheid, der die Tabak- und Suchtprävention unterwandert. Denn die Strategiepapiere des Bundes, die der EKSN als Richtlinien dienen könnten, sind unbrauchbar. Obwohl Tabak den überwiegenden Teil der nichtübertragbaren Krankheiten (non communicable diseaes, NCD) verursacht, erwähnt die NCD-Strategie 2017-2020 des Bundes die FCTC mit keinem Wort. Sie nennt weder Verhältnisprävention noch Senkung der Raucherquoten von Jugendlichen als Zielvorgabe und lässt offen, warum die strukturelle Prävention vom Parlament bisher systematisch abgelehnt wurde. Dabei wäre ein Verbot der Werbung das nächstliegende Mittel, um die Zahl der tabakbedingten COPD- und Herzkreislauf-Patienten in der Bevölkerung zu senken (6).

Auch die Strategie Sucht 2017-2024 besteht aus Worthülsen, konkrete Massnahmen sucht man vergebens. Ihre Autorinnen und Autoren behandeln oberflächlich das individuelle Suchtverhalten und seinen Zusammenhang mit illegalen Drogen und Medikamentenmissbrauch, vernachlässigen aber völlig die kreative Habgier der Drogenhändler in einem liberalen Markt (7).

Dabei beweist die Geschichte der Tabakepidemie, dass das Verhalten der Industrie die Probleme, die für die öffentliche Gesundheit durch Tabak entstehen, nicht nur unterhält, sondern auch pro-aktiv verursacht. So erkannte die Industrie die Droge Nikotin als Chance für die erfolgreiche Kundenbindung, optimierte daher deren Aufnahme ins Gehirn und maskierte seine natürliche Irritation durch Zusatzstoffe, sodass Rauchen sogar für Kinder erträglich wurde. Durch Werbung und breite PR-Arbeit stilisierte sie die Tabak- und Nikotinsucht zur Mode und schaffte es so, Generationen junger Menschen abhängig zu machen. Gleichzeitig gelang es der Industrie mit instrumentalisierten Experten, Wissenschaftsbetrug, Meineiden, Bearbeitung von Politikern und Behörden sowie Desinformation von Kunden und Öffentlichkeit, die Toxizität und das Abhängigkeitspotential ihrer Produkte zu verschleiern.

Erneutes Alibi-Gesetz

Die Versäumnisse in Tabak- und Suchtprävention sowie die Verzögerungen im Parlament sind kaum zufällig, sondern müssen der Industrie und ihren Helferinnen und Helfern zugeordnet werden. Zu diesem Schluss kam auch die aufgelöste EKTP, die auf die Taktiken der Tabakindustrie hinweist (8): aktiv die Kontroverse um E-Zigaretten schüren, legale Entscheide verhindern oder verzögern, Expertinnen und Experten sowie Behörden einschüchtern, sich selbst als innovativ präsentieren und sich die Schadensminderung (9) auf die Fahne schreiben.

Das Resultat dieser Strategie ist beim dritten Entwurf des Ständerats zum Tabakproduktegesetz (TabPG) zu sehen: Er enthält zwar ein Verkaufsverbot für Minderjährige, Werbe-, Promotions- und Sponsoringverbote für Tabak- und Nikotinprodukte fehlen jedoch beinahe gänzlich. Damit erweist sich der Entwurf als Alibigesetz (10), das Jugendlichen die attraktive Botschaft vermittelt: «Nikotin ist für Kinder verboten, gilt aber als cooler Lifestyle-Genuss für Erwachsene».

Tabakindustrie als Partner der öffentlichen Gesundheit?

Die Mängel, die nun von der TCS ins Licht gerückt werden, widerspiegeln eine langjährige PR-Strategie. Mit den vermeintlich harmlosen E-Zigaretten will die Industrie Volksvertreterinnen und -Vertreter von ihrer Kehrtwende (9) überzeugen und sich als Partner der öffentlichen Gesundheit aufspielen, indem sie Schadensminderung propagiert. So betont die Industrie bei jeder Gelegenheit, dass E-Zigaretten und ähnliche Produkte ausschliesslich für Raucherinnen und Raucher zur Tabakentwöhnung oder als Tabakersatz bestimmt seien und nicht auf Nichtraucherinnen- und -Raucher zielen sollen. Dieser angebliche Gewinn für die öffentliche Gesundheit soll rechtfertigen, sie im TabPG von Steuern und Werbeverboten zu befreien.

In Werbung und bezahlten Beiträgen, die sich kaum von redaktionellen Artikeln unterscheiden (11,12), treten die CEOs der Tabakkonzerne persönlich an, um ihre Sicht der Dinge zu präsentieren. So versuchte etwa Philip Morris an einem PR-Anlass am Weltwirtschaftsforum in Davos, Schweizer Politikerinnen und Politiker von ihrer Vision der «Schadensminderung durch Innovation» zu überzeugen (13). Offenbar mit Erfolg, wie die parlamentarischen Vorstösse des Präsidenten der NR-Gesundheitskommission (14) und eines Nationalrates nahelegen (15).

Verbreitung der Nikotinsucht vernebeln

In Wahrheit dient die «Schadensminderung durch Innovation» aber dazu, die Verbreitung der Nikotinsucht zu vernebeln. Denn Raucherinnen und Raucher bedürfen keiner Werbung, um sich den «neueren Produkten» zuzuwenden. Rauchstopp-Beratungen oder Information im Laden genügen.

Die Behauptung der Industrie, sie wolle keine Tabakprodukte mehr verkaufen, sondern nur noch die angeblich harmlosen Ersatzprodukte wie E-Zigaretten, Tabakerhitzer und Ähnliches an Raucherinnen und Raucher vermarkten, kann nicht ehrlich gemeint sein: Ohne die Neurekrutierung von jungen Nichtraucherinnen und Nichtrauchern durch Werbung und ihr Weg in die Nikotinabhängigkeit würde der Markt der Tabakindustrie in einer Generation austrocknen.
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Quellen:

  • 1. Jossens L, Feliu A, Fernandez E : The tobacco control scale 2019 in Europe, Brussels 2020. Association of European Cancer Leagues. Catalan institute of oncology 2020. http://www.tobaccocontrolscale.org/TCS2019.pdf
  • 2. Kaelin RM : Der Staat im Staat. SAeZ.2019;100(43):1438-1440.
  • 3. Nationalrat, Wintersession 2016. Sitzung 14.12.2016. Tabaksteuergesetz. 16.051. www.admin.ch/Parlament/Nationalrat.
  • 4. Pressemitteilung 15.05.2020: Gifle pour l‘ industrie du tabac : elle doit dévoiler ses prix de vente au détail, qu’ elle était déterminée à garder secrets. www.oxyromandie.ch
  • 5. Lorenz Honegger: «Das Risiko einer Epidemie besteht». Der Bundesrat löst die Kommission für Tabakprävention auf. Luzerner Zeitung. 15.11.2019.
  • 6. R.M.Kaelin: Zwischen Volksgesundheit und wirtschaftlichem Interesse. SAeZ.2017;98(2122):700-702
  • 7. www.bag.admin.ch/sucht
  • 8. EKTP: Praktiken der Tabakindustrie zur Einflussnahme auf die Schweizer Gesundheitspolitik. Eine Übersicht. Nov. 2019. www.bag.admin.ch.
  • 9. R.M.Kaelin : Lügen: «Juul», Cannabis und die Stiftung für eine rauchfreie Welt… SAeZ 2019;100(10):350-352.
  • 10. R.M.Kaelin: Tabakproduktegesetz als zahnlose Alibiübung. Infosperber, 7.11.2019
  • 11. NZZ Media Solutions/Philip Morris SA: Inside Innovation. März 2020.
  • 12. Schweizer Presserat, Stellungnahme 5.4.2019 im Onlineportal «blick.ch», Beitrag «Ist IQOS weniger schädlich als eine Zigarette?» vom 2.07.2018
  • 13. RM Kaelin : CEO von Philip Morris tadelt Schweizer Politik, Infosperber 20. 02.2020.
  • 14. Interpellation 20.3115. De Courten: Werbeverbote zwecks Jugendschutz: Gesetzgebung muss mit Technik und Innovation Schritt halten. 12.03.2020.
  • 15. Interpellation 20.3343. Tuena Mauro : Tabak und Schadensminderung: Was hält die Schweiz von der Position der WHO? 06.05.2020.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Red. Der Arzt Rainer M. Kaelin war Vizepräsident der Lungenliga Schweiz und ist Vizepräsident von Oxyromandie, einem Verein, der sich für den Schutz der Nichtraucher und für Werbeverbote für Tabakprodukte einsetzt, wie sie die WHO-Rahmenkonvention vorsieht.

Zum Infosperber-Dossier:

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