So kann der Absturz vom Öl-Gipfel gelingen oder misslingen

Hanspeter Guggenbühl /  Billiges Erdöl kann die globale Energie- und Klimawende behindern – aber auch fördern. Eine Analyse zu zwei Szenarien.

Auf dem internationalen Spotmarkt für Elektrizität kam es in den letzten Jahren oft vor, dass die Preise ins Minus stürzten. Jüngstes Beispiel: Am Ostermontag erhielten Schweizer Stromhändler zwei Rappen pro Kilowattstunde, falls sie an diesem Tag überschüssigen Spitzenstrom kauften (mehr dazu hier). Erstmals ist nun am Montag dieser Woche auch der – weniger volatile – Marktpreis für Erdöl in den USA ins Minus gerutscht. Das sind Beispiele für die Bocksprünge im Börsengeschäft. In beiden Fällen waren davon allerdings nur kleine Handelsmengen betroffen, die sich kaum auf die Strom- und Ölpreise der Endverbraucher niederschlagen.

Relevanter sind die mittelfristigen Preise für Erdöl und Strom. Diese bewegen sich zwar noch über der Marke null. Aber sie sinken seit Beginn der Corona-Epidemie ebenfalls stetig und steil nach unten. Die Eingriffe in den Markt (Drosselung der Fördermenge) vermochten den Preiszerfall bislang nicht zu stoppen.

Die Frage ist, wie sich dieser virusbedingte Nachfragerückgang und die damit verbundene Verbilligung von Erdöl längerfristig auf die Versorgung, die Umwelt und den Ausstoss des klimawirksamen Gases CO2 auswirkt. Einige neue Entwicklungen und Informationen stellen alte Erkenntnisse und Regeln in Frage. Der Reihe nach:

Die Marktregeln und der Streit um mehr oder weniger

Wenn das Angebot höher ist als die Nachfrage, sinkt der Marktpreis. Diese Regel eines unverfälschten Marktes lernen Ökonominnen im ersten Semester und leiten daraus das Wechselspiel von Überfluss und Mangel ab: Sinkt der Preis, wird mehr gekauft; es steigt also die Nachfrage. Steigt die Nachfrage über das Angebot hinaus, steigt der Preis wieder. Steigende Preise bieten einen Anreiz, das Angebot mittels Investitionen zu steigern. Das grössere Angebot wiederum senkt den Preis – und die Spirale von steigender Nachfrage und steigendem Angebot beginnt von Neuem.

Innerhalb dieses Wechselspiels streiten sich Ökonomen einzig um die Frage, ob das höhere Angebot die Nachfrage oder die höhere Nachfrage das Angebot in die Höhe treibt – und treiben soll. Spätestens an dieser Stelle mischen sich dann auch Natur- und Konsumschützerinnen, Wachstumsgläubige und Wachstumskritiker in die Debatte ein: Mehr ist besser, sagen Wachstumsgläubige, weniger ist mehr, entgegnen Wachstumskritikerinnen, und zu viel ist zu viel, ergänzen Sachwalter der ausgebeuteten Natur.

Die Klimapolitik und der Einfluss der Corona-Epidemie

Bei der fossilen Energie, insbesondere beim Erdöl, spielt neben der Ökonomie und Ökologie auch die Politik eine zentrale Rolle. Zur Vereinfachung blende ich an dieser Stelle die Steuerung der Fördermenge durch Erdölkartelle aus, ebenso Importbeschränkungen, wie sie etwa US-Präsident Donald Trump ankündete, und richte meinen Blick allein auf die Klimapolitik.

Punkto Ziel der Klimapolitik sind sich die meisten Akteure einig – die einen überzeugt, die andern zähneknirschend: Weniger ist mehr, und am besten wäre mittelfristig gar nichts mehr: «Netto null CO2 spätestens bis zum Jahr 2050», also möglichst kein Erdöl, kein Erdgas und keine Kohle mehr, lautet die Konsequenz des 2015 in Paris abgeschlossenen Klimaabkommens.

Doch der langfristige Trend widerspricht dem klimapolitischen Ziel. Seit dem Zweiten Weltkrieg stieg der globale Konsum von Erdöl, Erdgas und Strom stetig. 2019 erreichte die Ölförderung den vorläufigen Gipfel von rund 100 Millionen Fass pro Tag, einzig in den Rezessionsjahren 1974, 1982 und 2009 gab es kleine Knicks in der langfristigen Wachstumskurve. Der Grund: Die klimapolitisch notwendigen Massnahmen waren schwach und zeigten wenig Wirkung.

Das ändert sich dieses Jahr mit dem Ausbruch der Corona-Epidemie. Der kleine Virus hat in drei Monaten mehr bewirkt als die gesamte Klimapolitik in drei Jahrzehnten: Im laufenden Monat April sinkt der globale Erdölkonsum gegenüber der Vergleichsperiode des Vorjahres um 30 Prozent, schrieb die Internationale Energieagentur (IEA) am 15. April in ihrem neusten Öl-Report. Fürs ganze Jahr 2020 dürfte der Absturz weniger steil ausfallen, erwartet die IEA, aber dies nur, falls die Staaten ihre Massnahmen zur Eindämmung der Epidemie schnell lockern.

Die Folgen dieses virusbedingten Nachfrage-Rückgangs spiegelt der Markt: Die Erdölpreise sanken in den letzten drei Monaten – wie erwähnt mit kurzfristig starken Schwankungen – auf weniger als einen Drittel. Pro Fass mit 159 Liter Erdöl zahlten Händler in den letzten Tagen (je nach Marktplatz) im Schnitt noch 15 bis 20 Dollar.

Die Wirkung von billigem Erdöl : zwei Szenarien

Damit komme ich zurück zu den oben aufgeführten Marktregeln und zur zentralen Frage: Behindert oder fördert der tiefe Preis die Abkehr vom Erdöl? Statt mit einer Prognose auf die Nase zu fallen, stelle ich hier zwei Möglichkeiten (Szenarien) einander gegenüber.

1. Tiefe Preise, steigende Nachfrage Nach allgemeiner Regel werden die tiefen Marktpreise den Konsum von Erdöl wieder erhöhen. Reiche, die schon immer überdurchschnittlich viel Erdöl verbrannten, werden künftig zumindest gleich viel Öl zu tieferen Kosten in CO2 umwandeln. Arme können sich damit ebenfalls mehr Erdöl leisten. Diese – klimapolitisch unerwünschte – Entwicklung könnten die Regierungen zwar korrigieren, nämlich mit hohen Lenkungsabgaben auf Erdöl oder CO2-Emissionen. Doch damit ist kaum zu rechnen, denn dieses wirksame Mittel scheiterte stets am politischen Widerstand der Wirtschaftsverbände. Die wahrscheinliche Folge dieses Szenarios: Sobald die Epidemie-bedingten Einschränkungen aufgehoben werden, wird der Ölverbrauch wieder steigen, und die Spirale von steigender Nachfrage und steigendem Angebot dreht sich weiter. Der Klimaschutz bleibt auf der Strecke.

2. Tiefe Preise, Ruin der Ölförderung Die tiefen Preise erhöhen zwar, wie oben gezeigt, die Nachfrage nach Erdöl. Doch gleichzeitig ruinieren tiefe Preise viele Unternehmen, die sich der Förderung von Erdöl widmen. Je länger die Epidemie und damit die wirtschaftlichen Einschränkungen dauern, desto mehr Förderunternehmen gehen pleite. Als Erstes trifft das die Staaten und Firmen mit den höchsten Förderkosten. Das sind die Gesellschaften, die Öl aufwendig aus Ölsand herausfiltern wie etwa in Kanada, oder die mittels Fracking Schieferöl aus den Gesteinen heraussprengen wie in den USA. Oder Ölmultis, die im Meer nach neuen Erdölquellen suchen, was ebenfalls hohe Förderkosten nach sich zieht.

Der Ruin von vielen Öl-Förderfirmen kann das heutige (Über-) Angebot an Erdöl zwar mittelfristig verknappen und die tiefen Ölpreise gemäss Lehrbuch wieder steigen lassen. Das gäbe einen Anreiz, die Förderung wieder auszuweiten auch auf teurere Ölquellen. Doch damit würden die Ölpreise wieder steigen – und damit die Nachfrage tief halten. In einer von Viren geschwächten Weltwirtschaft ist dieses Szenario durchaus möglich. Die Folge davon: Die Spirale dreht sich rückwärts, die Ölquellen mit tiefen Förderkosten versiegen allmählich, und die Erschliessung von neuen teureren Quellen rentiert nicht, weil es an Nachfrage fehlt. Damit steigen die Chancen für eine Zukunft mit weniger fossilem Energieeinsatz und weniger starkem Klimawandel.

Das sind zwei theoretische Szenarien, also Möglichkeiten. Was wird? Nochmals: keine Prognose.

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Weitere Artikel zu diesem Thema auf Infosperber:

– «Wie die Epidemie den Stromkonsum und CO2-Ausstoss senkt»

– «Schweizer Klimaziel 2020: Vom Verlauf der Epidemie abhängig»

– DOSSIER: «Die Klimapolitik – kritisch hinterfragt»

– DOSSIER: «Corona-Virus: Information statt Panik»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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4 Meinungen

  • am 22.04.2020 um 12:07 Uhr
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    "In einer von Viren geschwächten Weltwirtschaft ( . . )» Ich meine, dass wir nicht eine von Viren geschwächte Weltwirtschaft, sondern eine durch Dummheit, durch hysterische Überreaktion der Regierenden sowie einer bewussten, unverantwortlichen Panikmache der System-Medien haben.

  • am 22.04.2020 um 12:25 Uhr
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    Solange die G20-Staaten fossilie Energie jährlich mit hunderten Milliarden subventionieren, kann man eher nicht von einem unverfälschten Markt reden. Die Lösung wäre einfach: Alle diese Milliarden nur noch zur globalen Etablierung nachhaltiger, erneuerbarer Energie verwenden und die externen Effekte in die Preise fossiler Energie internalisieren.

    Die internationale Politik hat mit den drastischen Massnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie bewiesen, dass sie in der Lage ist, eine potenziell grosse drohende Gefahr, ohne Rücksicht auf die fossil betriebene Weltwirtschaft, abzuwenden. Was jetzt noch fehlt, ist die Einsicht, dass der laufende ökologische Kollaps den Fortbestand der menschlichen Zivilisation garantiert unendlich mehr bedroht, als das Virus SARS-CoV-2. Gegen kippende Oekosysteme nützen weder Quarantänen noch Masken. Wenn der Permafrost einmal aufgetaut ist, die verbleibenden Korallenriffe abgestorben sind, das Meerwasser übersauert, die Erdatmosphäre noch wärmer wird, dann ist Game over.

  • am 22.04.2020 um 12:41 Uhr
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    Keine Prognose! Aber welches Szenario sollen wir wünsche? Keines von beiden!
    Ihre zwei Szenarien, Herr Guggenbühl, spielen sich innerhalb des Denk- und Handlungsraums «liberaler Marktwirtschaft» ab, also des Crashkurses auf Gedeih und Verderb seit 200 Jahren mit Arbeitstitel Neoliberalismus.
    Mein Wunsch-Szenario: Corona bewegt uns dazu, ein neues Wirtschaftssystem zu erfinden, das das tödliche Nullsummenspiel von Angebot und Nachfrage bei nichterneuerbaren Gütern (wie etwa fossile Rohstoffe und Grund und Boden) unterbricht. Welches Szenario? Eines, das versteht, dass 800 Milliarden Rüstungsausgaben, Nato und neue Kampfflugzeuge für die Schweiz zur Vernichtung der menschlichen Spezies dient, aber gegen Corona nicht wirken. Ein Szenario das versteht, dass die Erdöl, Gas und Kohle nicht vermehrbare Güter sind, die weder von korrupten SA’s noch von eben solchen Nationalstaaten monopolisiert werden dürfen.
    Wahrscheinlichkeit und Prognose sind schwierig, hängt von der Schlauheit von Corona ab. Mit menschlicher Schlauheit ist ohne Corona kaum zu rechnen.

  • am 22.04.2020 um 17:24 Uhr
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    Ein gewisser politischer Druck – zB in der Form von Steuer-Erleichterungen – wird nötig sein, um zu verhindern, dass es ewig auf und ab geht mit dem Öl-Konsum. Dieser MUSS abnehmen und das kann man nicht allein dem «Markt» überlassen.

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