MarkRutte

Niederlands Regierungschef Rutte: macht Hilfe von Bedingungen abhängig © ZDF

Corona-Solidarität auf holländisch

Markus Mugglin /  Auf das forsche Nein der Niederlande zu Corona-Bonds folgt harsche Kritik an dessen Steuersystem.

Angriff, oder in diesem Fall, Gegenangriff ist die beste Verteidigung. Das haben sich italienische Politiker wohl gedacht, als sie Ende März über ein Inserat in der Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ an die europäische Solidarität im Kampf gegen die Corona-Krise und deren Folgen appelliert und gleichzeitig schwere Vorwürfe gegen die Niederlande erhoben haben. Die Niederlanden würden über ihr Steuersystem den europäischen Ländern Steuereinnahmen entziehen. Das gehe auf Kosten der Sozialsysteme und der schwächsten Bürger in den anderen europäischen Ländern, die am meisten von der Corona-Krise betroffen seien.
Aggressive Steuerpolitik
Die Kritik an der niederländischen Steuerpolitik ist nicht neu, wurde bisher aber nicht publikumswirksam verbreitet. In den Berichten der sogenannten «Europäischen Semester», in denen die EU-Kommission alljährlich die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten analysiert, wurden die Niederlanden schon wiederholt einer «aggressiven Steuerpolitik» bezichtigt. Im neusten «Semester»-Zeugnis vom Februar dieses Jahres hat die EU-Kommission den Vorwurf erneut erhoben.
Die Kommission benennt eine ganze Reihe kritischer Punkte, auf die sich die Kritik aus Italien abstützen kann. Das Land sei mit 15‘000 Briefkastenfirmen hinter Luxemburg zum weltweit zweitwichtigsten Standort für diese wenig transparenten Unternehmen aufgestiegen. Deren Bilanzsumme belaufe sich auf 4‘500 Milliarden Euro und damit auf das Sechsfache der niederländischen Wirtschaftskraft. Die Hälfte von allen Briefkastenfirmen der Welt befände sich in den Niederlanden und in Luxemburg.
Zahlreiche multinationale Konzerne wählen die Niederlande als Zwischenstation für den Transfer von Dividenden, Zinszahlungen und Royalties in Steuerparadiese.
Dahinter steht ein System, das «Double-Irish with a Dutch Sandwich» genannt wird. «Irish» und «Dutch» stehen für die prominente Rolle, die Irland und die Niederlande in diesem System spielen. Am Anfang und am Schluss der Sandwich-Konstruktion stehen irische Gesellschaften oder Tochtergesellschaften weltweit operierender Konzerne. Die eine hat ihren Sitz in Irland, die andere in einem Tiefststeuerland wie beispielsweise in den Bermudas. Dazwischen geschaltet ist eine Niederlassung in den Niederlanden.
Das Unternehmen in Irland müsste für den direkten Transfer seiner Gewinne in das Steuerparadies eine Quellensteuer bezahlen – nicht aber für den Transfer in ein EU-Land. Die Niederlande bieten sich als Transitstation an, weil sie als eines der wenigen EU-Länder auf Auslandsüberweisungen keine Quellensteuer erheben. Global führende Konzerne von Google über Amazon, Apple, Facebook, Starbucks und auch europäische Unternehmen wie etwa IKEA haben das System rege praktiziert und so von rekordtiefen Steuersätzen profitiert.
Niederlande in Spitzengruppe intransparenter Finanzplätze
Bereits vor Jahren hat der Internationale Währungsfonds festgestellt, dass die Niederlande bei der internationalen Steuervermeidung eine entscheidende Rolle spielten. Die auf Steuerfragen spezialisierte Nichtregierungsorganisation «Tax justice network» schätzt die Bedeutung heute noch grösser ein als bisher. In ihrem kürzlich publizierten Financial Secrecy Index 2020 rangiert das Land neu auf Position acht. Vor zwei Jahren lag es noch auf Rang 14. Von den europäischen Ländern werden nur die Schweiz, Luxemburg und indirekt über die Cayman-Inseln Grossbritannien als weniger transparent bewertet.
Die Niederlande haben zwar einige Steuerreformen mit Quellensteuern beschlossen. Ob sie die gewünschten Wirkungen haben werden, sei aber ungewiss, heisst es im «Semester»-Bericht der EU-Kommission. Auch in den Niederlanden selbst werden immer wieder Zweifel laut. Jüngstes Beispiel ist eine Klage gegen das ursprünglich argentinische Ölunternehmen Pluspetrol, das seinen Hauptsitz in Form einer Briefkastenfirma in Amsterdam hat. Eingeklagt wurde Pluspetrol beim Nationalen Kontaktpunkt zur Einhaltung der OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen. Gründe sind die undurchsichtigen Steuerpraktiken und die Umweltschäden, die das Unternehmen in Peru anrichtet. Die niederländische Nicht-Regierungsorganisation Centre for Research on Multinational Corporation SOMO, welche die Klage mitträgt, macht geltend, dass die komplex-verschachtelte Unternehmensstruktur es möglich mache, Profite über Luxemburg in den Steuerfluchthafen Bahamas umzuleiten. Damit verstosse das Unternehmen gegen die OECD-Verhaltensregeln über Steuern und Transparenz.
Die Steuervermeidungsvorwürfe machen der niederländischen Regierung offensichtlich wenig Eindruck. Sie machte in der Telefonkonferenz der Euro-Finanzminister in der Nacht vom 7. auf den 8. April Corona-Hilfszusagen noch immer von strengen Konditionen abhängig. Regierungen, die Rettungsgelder beanspruchen, sollen sich länderspezifisch zu «wachstumsfördernden» Reformen bereit erklären. Die Spaltung zwischen Nord und Süd im Euroraum droht sich damit aber weiter zu vertiefen.


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6 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 9.04.2020 um 11:50 Uhr
    Permalink

    NL ist wohl das neue Zug der EU. Wenn der Finanzausgleich solche Steuerplünderungen nicht auszugleichen vermag, darf man sicher mit den Italienern und Griechen und … fragen, wie lange es Euoropa in der Form der EU noch geben wird.

    Von der Personenfreizügigkeit und offenen Grenzen im Schengenraum spricht ohnehin niemand mehr.

  • am 9.04.2020 um 12:12 Uhr
    Permalink

    Die Solidarität der EU funktioniert schon lange nicht mehr: Experiment EU abbrechen! Das Experiment ist definitiv am Ende.

  • am 9.04.2020 um 13:20 Uhr
    Permalink

    Der Artikel ist ein Volltreffer !

    siehe auch
    "Steuerhinterziehung kostet die EU-Staaten 825 Milliarden Euro pro Jahr

    Die Lage hat sich gebessert, aber nur ein wenig: Laut einer neuen Studie werden in der EU jedes Jahr Steuern in dreistelliger Milliardenhöhe hinterzogen. Im Jahr 2015 betrug der Schaden rund 825 Milliarden Euro, wie eine Studie der University of London besagt."

    https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/steuerhinterziehung-kostet-die-eu-staaten-825-milliarden-euro-pro-jahr-studie-a-1249844.html

    Dazu passt auch der Artikel von Oskar Lafontaine:

    Wer soll das bezahlen?

    "Oskar Lafontaine1.04.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wirtschaft

    Der Bundestag hat ein Corona-Hilfspaket von insgesamt 756 Milliarden Euro beschlossen. Um Himmels willen, wer soll das bezahlen? Wieder einmal bestätigt sich der berühmte Satz Bertold Brechts: „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.“

    Die Antwort ist einfach: Beendet die überflüssige Beteiligung an Kriegen. Stoppt die Aufrüstung und das absurde zwei Prozent-Ziel der Nato. Versteuert endlich große Erbschaften und Vermögen. Und stoppt die Steuerhinterziehung der Reichen.
    .
    .

    https://www.theeuropean.de/oskar-lafontaine/coronakrise-756-milliarden-euro-rettungspaket/

    Wie kann man noch zu Geld kommen ?
    Schweden gibt real pro Kopf weniger Geld für Gesundheitswesen als Deutschland aus.
    Aber die gesunde Lebenserwartung ist in Schweden 17 Jahre ! höher als in Deutschland.

  • am 11.04.2020 um 19:40 Uhr
    Permalink

    Der Artikel ist zu allgemein gehalten und arbeitet zudem mit seltsamen Angaben. So ist davon die Rede, daß die Niederlande nach Luxemburg der zweitwichtigste Standort weltweit für Briefkastenfirmen sei. Das kann bei einer Zahl von 15.000 nur falsch sein. So wichtig und schädlich die Niederlande auch sind, so gibt es weit größere Standorte für Briefkastenfirmen. Der US-Bundesstaat Delaware zB! Allein im Corporation Trust Center, einem winzigen Häuschen mit nur einer Etage in Wilmington sitzen 285.000 dieser Scheinfirmen! Und auf den Caymans sitzen im «Ugland House» 18.000 «Firmen». Und solcherlei Standorte gibt es weltweit hunderte!

    Was die Niederlande angeht, so fehlt eine Erklärung, wie dieser Staat mit seinen Inlandssteuern anderen Staaten schadet. Ein wichtiges – aus Luxemburg importiertes Instrument ist die niedrige Besteuerung von Lizenz/Patenteinnahmen. Deshalb gründet man in den Niederlanden eine Tochtergesellschaft (Holding etc:), der man die Rechte an den eigenen Patenten, Lizenzen oder Firmenlogos überträgt. Und dann bezahlt man zB. für die Verwendung dieses «geistigen Eigentums» in Deutschland an die niederländische Tochter «Gebühren», die in den Niederlanden mit 5% (oder weniger) versteuert werden, und die die Gewinne in Deutschland schmälern, auf die 30 oder mehr Prozent gezahlt werden müßten.

    Und keiner in der EU unterbindet diesen Diebstahl. Was auch kein Wunder ist, hat doch Ex-Kommissionspräsident Juncker in Luxembourg dies einst mit erfunden.

  • am 12.04.2020 um 13:06 Uhr
    Permalink

    Die sind ja fast so bauernschlau wie wir Schweizer! Ob es an der guturalen Sprache liegt, das Rosinen-picken-können-ohne-rot-zu-werden? Ihr CHCH ist ja fast schlimmer als unser Chuchichänschterli.

  • am 15.04.2020 um 13:40 Uhr
    Permalink

    Wir sehen hier keine besondere kriminelle Energie der Holländer, sondern einen weiteren Konstruktionsfehler der EU.
    Man hat an Orten vereinheitlicht, wo man es besser hätte sein lassen (Bsp. Euro). Man hat die Personenfreizügigkeit zum unverzichtbaren Teil eines Binnenmarktes erklärt, obwohl das höchstens aus ideologischen, nicht aber aus ökonomischen Gründen zutreffend ist.
    Dafür hat man es versäumt, die Steuerpolitik der am Binnenmarkt teilnehmenden Länder aufeinander abzustimmen.
    Wenn ein Konzern im Binnenmarkt Geschäfte tätigen kann, völlig unabhängig davon, in welchem Land er seinen Hauptsitz hat, dann müsste man dafür sorgen, dass er auch überall gleich besteuert wird.
    Und wenn die Einigkeit für eine solche Harmonisierung nicht zu erreichen ist, wäre das eigentich ein deutliches Zeichen, dass die Zeit für eine allzu enge Union noch nicht reif ist.

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