Der Spieler: Spielen in Zeiten von Corona
«Haltet Abstand!» und «Bleibt zu Hause!»: Diese beiden Massnahmen gegen die weitere Verbreitung des Corona-Virus zwingen die Menschen näher zusammen. Ob Einzelperson, ob Paar, ob Erwachsene mit Kindern – unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation müssen wir entscheiden, wie wir in den nächsten Wochen oder Monaten unser Zusammensein auf ungewohnt engerem Raum gestalten wollen.
Wie sieht unsere Tagesstruktur aus? Wann ist Arbeitszeit? Wann ist Schul- und Bildungszeit? Wann ist «Frei»- und Erholungszeit? Wie halten wir uns fit? Wie schaffen wir eine gute Balance zwischen körperlicher Distanz auf der einen und dem Bedürfnis nach Nähe auf der anderen Seite? Was tun wir für unser soziales Wohlbefinden? Was unternehmen wir für unsere psychische Gesundheit, gegen Verunsicherung, Ängste und aufkommenden Lagerkoller?
«So etwas habe ich in meinem Leben noch nie erfahren.» Diese Aussage, die man in diesen Tagen immer wieder hört, zeigt nur, dass wir alle mit ungewöhnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, mit Fragen, auf die wir kaum Antworten haben. Die Zeit der Fragen ist aber auch immer die Stunde der Expertinnen und Experten, sowohl der echten als auch der selbsternannten. Auf allen Kanälen verbreiten sie Ratschläge, wie wir uns am besten organisieren.
Gut über die Runde kommen
Die Liste der Empfehlungen ist lang. Und wenn mein Eindruck nicht täuscht, hat das klassische Gesellschaftsspiel mit Brett, Würfel und Karten innerhalb kürzester Zeit einen festen Platz unter den Dingen erobert, die man tun sollte, um möglichst gut über die Runden zu kommen. Ich behaupte sogar, dass unsere Corona-Notausrüstung erst vollständig ist, wenn sie auch Gesellschaftsspiele umfasst. Dies aus den folgenden Gründen:
- Spielen bietet Raum für Gemeinsames: Eine der grössten Hausforderungen besteht gegenwärtig darin, dass die gewohnten Tagesabläufe mit ihren Strukturen wegfallen. Die daraus entstehende Unordnung ermüdet alle Beteiligten und besitzt enormes Konfliktpotenzial. In der angepassten neuen Struktur schafft das Spielen Raum für Gemeinsames, eine ideale wie nötige Ergänzung zu anderen Tätigkeiten wie Lesen, Home-Schooling, Homeoffice, Haushalt, Fitnesstraining.
- Spielen schafft eine eigene Zeit und eine eigene Welt: Spielen hat viel strukturelles Potenzial. Aufgrund von Regeln, die für alle gelten, entsteht eine eigene Welt mit einer eigenen Zeit. Während gespielt wird, muss alles andere draussen bleiben. Solch klare Abgrenzungen schaffen Ordnung in einer durcheinander geratenen Welt, was auch psychische Entlastung mit sich bringt.
- Spielen weckt Verständnis für Mitmenschen: Im Spielen kommen wir einander näher, was in einer Situation, in welcher Bürgerinnen und Bürger von den Behörden zum Distanz- und Abstandhalten verpflichtet werden, sehr paradox erscheint. Die Verordnungen des Bundes verhindern zwar grössere Spielrunden, tasten aber das soziale Potenzial des Spielens nicht an. Glücklicherweise, und so werden viele Menschen in dieser Zeit die altbekannte Erfahrung machen, dass sie bereits bei einem gemeinsamen Kartenspiel und erst recht bei einem kooperativen Strategiespiel ihre Nächsten wieder besser kennen lernen. Was es wiederum erleichtern könnte, künftig mehr aufeinander Rücksicht zu nehmen.
- Spielen hält uns geistig fit: Beim Spielen trainieren wir unsere Hirnzellen, einfach so nebenbei. Wir setzen uns mit den Regeln auseinander, analysieren die sich ständig verändernden Situationen auf dem Spielbrett und sind gezwungen, innerhalb kürzester Zeit Entscheide zu treffen, von denen dann abhängt, ob wir siegen oder verlieren. Das hält uns geistig wach und fit. Spielen bewahrt uns auf diese Weise auch vor der intellektuellen Langeweile, die in dieser reizarmen Zeit droht.
- Spielen erlaubt uns, Emotionen auszuleben: Die Nähe führt zu einer Veränderung im Umgang mit unseren Emotionen und Gefühlen. Vor allem ist es nicht mehr möglich, sie so frei auszuleben, wie wir es von der Vor-Corona-Zeit her gewohnt waren. Eine solche Zwangssituation birgt enorme Risiken für unser Zusammensein. Deshalb müssen wir immer wieder Räume schaffen, in denen wir unsere Emotionen und Gefühle zeigen und ausleben können. Das Spielen eignet sich dafür besonders gut. Mit seinen Regeln setzt es klare Grenzen. In der eigenen Welt, die dadurch entsteht, dürfen wir ungeniert zeigen, dass wir besser sind als die andern oder dass wir uns ärgern, wenn wir verloren haben. Es ist erlaubt, andere bluffend übers Ohr zu hauen und voller Schadenfreude über das Missgeschick der Konkurrenz zu lachen. Würden wir uns die ganze Zeit so verhalten, wäre der Hauskrach programmiert. Aber hier wissen wir: Alles ist ein Spiel mit eigenen Regeln, die für alle gelten und zwar nur so lange, bis Karten und Würfel wieder verpackt sind. Solches ist wichtig für die Sozial- und Psychohygiene der Gruppe.
- Spielen sorgt als Auszeit für Spass und Unterhaltung: Das Spiel grenzt sich als eigene Welt mit eigenen Regeln von unserem Alltag ab. Wenn wir spielen, nehmen wir im wahrsten Sinn des Wortes eine Auszeit, weg von unseren Verpflichtungen, Sorgen und Beschäftigungen. Spielen ist eine Pause, in der wir es ruhig lockerer nehmen dürfen. Gerade jetzt brauchen wir zur Abwechslung auch Spass und Unterhaltung. Spielen sorgt dafür.
Nicht auszuhalten
Für mich gibt es aus diesen Gründen keinen Zweifel, dass Spiele in den Corona-Notfallkoffer gehören. Und ich frage mich schon, welche Vorstellung Leute vom Spielen haben, die explizit mit Blick auf die heutige Situation schreiben: «Wer in der jetzigen Lage als erwachsener Mensch Brett- oder auch sogenannte Gesellschaftsspiele spielt, der hat die Kontrolle über sein Leben verloren.» Will heissen, hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Das Zitat stammt von Dirk Peitz, dem Stellvertretenden Ressortleiter Kultur von «Zeit Online». Doch damit nicht genug: «Seine Zeit auf Erden auch nur teilweise mit Brett- und Gesellschaftsspielen zu verbringen, davon bin ich zutiefst überzeugt, ist Ausdruck einer derart grossen Vergeudung des hohen Gutes ‹existenzielle Langeweile›, dass mir dafür absolut keine Rechtfertigung denkbar erscheint.»
Ich kann nur hoffen, dass ich nie in meinem Leben die Selbstisolation mit jemandem teilen muss, für den Spiele «nichts anderes sind als ein absurderweise freiwilliger Akt des Aussitzens des eigenen Daseins, ein nichtsnutzender Aufschub von anderem Tun oder gar Sein». Ich würde solche Gesellschaft nicht aushalten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.