Im schmelzenden Eis verewigt
Wer online geht und «Alpinismus» sucht, bekommt neuerdings auch Dinge wie «Morna» (Musikstil aus Kap Verde) oder gar «Al-kalpak» (hohe Kopfbedeckung) angezeigt: Auf die Berge steigen, die moll-lastige Musik aus Kap Verde und der spitze Filzhut in Kirgisien sind vereint. Dies hat der zwischenstaatliche Ausschuss der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) im Dezember 2019 in Bogotá beschlossen. Die Meldung scheint banal. Der Prozess ist umso interessanter. Denn die Ehrung wird einem nicht nachgeschmissen. Wer sich mit omanischen Dattelpalmen und vergorener Stutenmilch aus der Mongolei verlinken will, muss sich ausserordentlich bemühen.
Eigentlich sollte es der Mont Blanc sein
Die Idee für eine Unesco-Bewerbung kam aus der Haute-Savoie und war vorerst auf die Mont-Blanc-Region beschränkt. Der französische Verband der Alpen- und Bergvereine (FFCAM) startete das Projekt im März 2011 in Chamonix. Es gab aber ein Problem. Die Gemeinden Chamonix und Courmayeur strebten seit 20 Jahren an, den Mont Blanc auf der Weltnaturerbe-Liste zu verewigen. Die zwei Interessen waren nicht koordiniert. Einigen schien dies problematisch, andere hofften auf Synergien. Das intensive Bedürfnis der Region nach Unesco-Nähe ist nicht ohne Nebensinn. Die höchste Erhebung in den Alpen ist auch ein Rummelplatz für Renommier-Touristen und dilettierende Egomanen. Jährlich wollen 30’000 Menschen rundherum oder auf den Berg. Das Refuge Vallot, eine Biwak-Schachtel (4362 M.ü.M) auf dem Weg zum Gipfel, dient als Abfalldeponie. Das ramponierte Image, so war der Plan, sollte mit dem Kultur-Diplom aufgewertet werden.
Profis am Berg, Amateure im Papierdschungel
Die Unesco signalisierte dem Alpenverein die wärmere Zuneigung. Die Arbeit der französischen Alpinisten kam trotzdem nicht voran. Sie fragten andere Staaten an. Der Club Alpino Italiano (CAI) und der Schweizer Alpen-Club (SAC) sagten im Jahr 2017 zu.
Alpinistinnen und Alpinisten sind in Fels und Eis erprobt. Foto: Walter Aeschimann
Die Protagonisten der drei Alpenvereine waren zu dieser Zeit noch immer «Amateure», zwar in Fels und Eis erprobt, aber mit komplexen Antragsformularen, der Unesco-Sprache und -Etikette etwas überfordert. Dies schildert Bernard Debarbieux in der «Revue de géographie alpine 2019». Der Professor für kulturelle und politische Geografie an der Universität in Genf war von Anfang an dabei. Seine Schlussbilanz lautet: «Die Registrierung einer kulturellen Praxis auf der Unesco-Welterbeliste war ein Abenteuer.»
Drei Staaten, drei Bergsteigerverbände und drei nationale Klubvereinigungen: Dies sind die offiziellen Vertreter, die auf den eingesandten Konvoluten stehen. In Wahrheit waren hunderte von Akteuren daran beteiligt. Alle hatten eigene Ideen, jedes Land verfolgte andere Prioritäten. SAC-Präsidentin Françoise Jaquet sass ab 2017 in der Arbeitsgruppe. Wir treffen uns in Jack’s Brasserie Schweizerhof in Bern und sprechen über das Unesco-Abenteuer, über die Schwierigkeit der Länder, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu definieren und über die SAC-Politik. Unser Gespräch ist anregend kontrovers. Wir trennen uns entspannt. Ich schicke den Text zum Gegenlesen. Sie schickt ihn unverändert zurück, die Zitate somit autorisiert. Die promovierte Mikrobiologin beklagt jedoch die kritische Annäherung an das Thema. Einige Stunden später will sie alle autorisierten Zitate nicht mehr in der Zeitung lesen. Das Verhalten lässt erahnen, wie schwierig die Arbeit in der Dreiländer-Gruppe war.
Sind Heliflüge Alpinismus?
Eine riesige Herausforderung war bereits, das Vorhaben zu verteidigen. Die Bewerbung sei «nebensächlich», kritisierten laut Debarbieux viele Alpinisten. Der Alpenraum habe ernstere Probleme: exzessiver Leistungssport und Konkurrenzverhalten in den Alpen, boomende Expeditionen mit rein kommerziellen Geschäftsmodellen, überlastete Autostrassen in die Alpentäler, von Menschen überfüllte und zugemüllte Mode-Routen, touristische Projekte mit überdimensionierten Transportanlagen inklusive touristische Helikopterflüge auf die Gipfel, künstlich beschneite Pisten, ein zunehmend globalisierter Bergtourismus. Und über allem schweben die spektakulären Erscheinungen des Klimawandels auch in den Alpen.
Die bedrohliche Anordnung wurde intensiv erörtert. Bereits die Frage, ob touristische Helikopterflüge auch Alpinismus seien, spaltete die drei Länder. Der SAC hätte touristische Helifliegerei in die Definition aufgenommen. Für die französischen Gipfelstürmer kam dies nicht in Frage. Der Disput war letztlich aber unerheblich. Er passte eh nicht ins Unesco-Schema. Die Bürokraten am Sitz in Paris verwiesen auf die Konvention von 2003. Gemäss Absatz 2 geht es um «kulturelle Ausdrucksformen und Traditionen». Inbegriffen sind «Massnahmen zur Sicherung des kulturellen Erbes», etwa Bildung, Dokumentationen oder Forschungen. Das Bewerbungsteam musste neue Wege suchen im Unesco-Labyrinth und nahm kundige Vermittler in die Seilschaft auf: Chefbeamte, Formular-Experten, auf kulturelles Erbe spezialisierte Wissenschaftler. «Es war ein Gebot der Effizienz, aber auch des Opportunismus», schreibt Debarbieux.
Romantische Retrowelt
Die von der Unesco akzeptierte Version verdrängt nun alles, was heikel scheint. Sie zeichnet eine romantische Retrowelt und lädt sie mit frühmodernem Pathos auf. Es gehe um die «Kunst» und die «Ästhetik», einen Gipfel zu besteigen, um physische, technische und intellektuelle Fähigkeiten, diese Kunstform zu beherrschen. Dieses Wissen gelte es künftigen Generationen zu vermitteln. Es gehe um «Respekt» vor den Bergkameraden und der Natur sowie um «Teamgeist».
Das Bergseil symbolisiert den Teamgeist. Foto: Walter Aeschimann
Das Bergseil symbolisiere letztere Eigenschaft. Die «Kontemplation», das beschaulich-sinnliche Nachdenken über die Landschaft im «harmonischen Einklang mit der natürlichen Umgebung» soll Alpinisten bei ihren schöpferischen Tätigkeiten leiten.
Einig waren sich die Verbände, dass sie den freien Zugang in die Berge und das Recht auf eigenes Risiko bewahren wollen. Dass Behörden den Irrsinn am Mont Blanc regeln möchten, kommt bei den Alpenvereinen nicht gut an. Die individuelle Freiheit wird höher gewichtet als der Schutz der Natur.
Ökologie hat keinen Vorrang
Das ökologische Bekenntnis verhallt zu oft als hohles Echo in den Felsformationen, auch in der Schweiz. Als Beleg führe ich beim Treffen mit SAC-Präsidentin Jaquet diverse Beispiele an. Der SAC ästhetisiere und verniedliche im Magazin «Die Alpen» eine touristische Hochglanzwelt. Er wehre sich gegen zu viele Wildschutzzonen. Um viele Menschen auf die Gipfel zu bekommen, baue er hoch-alpine Wege zu familientauglichen Erlebnispfaden aus, alpine Schutzhütten gestalte er in Luxusherbergen um.
Jaquet reagiert mit der überlegten Gelassenheit einer erfahrenen Alpinistin. Ihre Antworten entsprechen sinngemäss den offiziellen Versionen, die auf der SAC-Homepage oder im -Magazin nachzulesen sind: Immer mehr Menschen würden in die Berge gehen. Der SAC könne diesen Trend nicht stoppen. Er könne die Menschen jedoch für mehr Respekt vor der Umwelt sensibilisieren. Er hoffe, dass er mit dem Unesco-Label im Hintergrund künftig mehr Gewicht erhalten werde. Insbesondere bei Diskussionen über Nutzung und Schutz sowie den freien Zugang in die Alpen. Im Übrigen hinterfrage sich der SAC laufend.
Ein exklusiver Club von Ländern
Alpinismus ist in viele Disziplinen aufgesplittert und eine weltweit gelebte Praxis. Deshalb mag erstaunen, dass im Unesco-Verfahren nur drei Länder vertreten sind. Deutschland, Österreich und Slowenien wurden angefragt. Sie winkten ab, weil das Prozedere zu mühsam schien. Das Vereinigte Königreich als Wiege des Alpinismus hat die Unesco-Konvention nicht unterschrieben. Auch nicht die USA. Es können nur Länder mitarbeiten, die das Papier unterzeichnet haben. Dies würde auf die Andenstaaten oder Nepal und Pakistan im zentralen Asien zutreffen. Sie könnten laufend einbezogen werden. Vorerst dürfen Frankreich, Italien und die Schweiz exklusiv mit dem Kultur-Abzeichen werben. Das Label löst oft einen zusätzlichen Ansturm von Touristen aus, die noch mehr Schaden hinterlassen. Die Verbände sehen diese Bedrohung für die Alpen nicht. Sie hoffen auf den gegenteiligen Effekt. Das Unesco-Verfahren habe bei allen Beteiligten ein «tiefes Nachdenken über Alpinismus und seine Bedeutung ausgelöst», schreibt Debarbieux. «Dank der Registrierung wird Bergsteigen künftig auf eine andere Weise ausgeübt.»
Die Unesco steht nun in der Pflicht, dieses Versprechen einzufordern.
Dieser Text erschien in einer gekürzten Form bereits in der Wochenzeitung WOZ.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine