Licht in die Geschichte der Elektroschocks in der Schweiz
Red. Die Anstaltspsychiatrie des 20. Jahrhunderts agierte in einer Grauzone zwischen Therapie, Disziplinierung, Freiwilligkeit und Zwang. Der Publizist Fredi Lerch hat die Geschichte der Elektroschocks in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Münsingen anhand von Krankenakten in einem Buch aufgearbeitet. Seit 2017 kommen bei schweren Depressionen Stromstösse wieder zum Einsatz. Im Folgenden fasst Lerch die nicht ungewöhnliche Krankengeschichte einer Frau zusammen, die innert elf Jahren 107 Elektroschocks erhielt.
Die ersten drei Anstaltsaufenthalte
Als Emma Herzog1 am 6. Juni 1963 erstmals in die Heil- und Pflegeanstalt Münsingen eintritt, ist sie 57 Jahre alt und hat bereits eine lange Krankengeschichte hinter sich. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg lebt sie zeitweise in den Anstalten von Freiburg i. B. und in Emmendingen in Süddeutschland und wird dort unter anderem mit Elektroschocks behandelt. Nach Münsingen bringt sie 1963 ihre Schwester, die als Diakonissin in Hondrich bei Spiez arbeitet, weil es «nicht mehr ging»**.
Der erste Eindruck, den Emma Herzog in Münsingen macht, wird in der Krankengeschichte so festgehalten: «Gespannt, bedrückt, wenig intelligent wirkend, etwas stumpfsinnig und gehemmt.» Am 10. Juni 1963 beginnt man mit einer Elektroschockkur. Nach der ersten Behandlung «ist Pat. etwas entspannter». Als man sie nach vier Behandlungen fragt, ob sie besser schlafe, antwortet sie: «Was heisst besser schlafen, wenn man die Augen nicht mehr hat?» Ja, sie sehe alles, habe aber das Gefühl, die Augen seien ausgeschaltet. Sie frage sich, ob das vom Hirn komme. Weil sie nicht gut denken könne.
Die Kur wird bis zum 19. Juli weitergeführt, umfasst schliesslich zehn Behandlungen. Ende Juli stellt man eine «gute Wirkung» fest: Die Patientin sei jetzt viel ruhiger, beschäftige sich beim Rüsten von Gemüse, habe Kontakt. Auffallend sei noch eine gewisse Ängstlichkeit, wenn es um das Decken des Tisches gehe und um das Aufräumen des Geschirrs.
Im Rahmen eines «Résumés» diagnostiziert der Oberarzt eine «depressiv gefärbte paranoide Schizophrenie mit schubweisem Verlauf». Zwei Tage später beginnt man eine zweite Kur mit vier Elektroschockbehandlungen, wonach die Patientin «wieder etwas aufgelockert» wirkt. Ende August wird sie mit «einem kleinen Vorrat an Melleril», einem Antipsychotikum, nach Hondrich entlassen.
Ein halbes Jahr später, am 27. Dezember 1963, wird Emma Herzog zum zweiten Mal in der Anstalt Münsingen aufgenommen. Beim Eintreten will sie die Hand nicht geben. «Denn sie sei nur Luft», wie sie sagt. Sie habe «kindisch» gelächelt, als sie den Protokollierenden «sofort» erkannt habe: «Geht gerne auf Abt. V.» Auf dieser Abteilung fällt den Pflegenden auf, dass Emma Herzog wieder darüber klagt, «sie werde mit dem Geschirr putzen etc. nicht fertig», weshalb sie gar nichts mehr tue. Auch weigere sie sich, auf die Toilette zu gehen.
Am 3. Januar 1964 beginnt eine Elektroschockkur mit vier Behandlungen. Danach ist die Idee, Luft zu sein, verschwunden und einer Mitpatientin, die sich vor der vorgeschlagenen Elektroschockbehandlung fürchtet, erklärt sie, «die ES hätten ihr sehr viel genützt und ihr gut getan, man müsse keine Angst vor dieser Behandlung haben». Am 1. April 1964 vermerkt der behandelnde Arzt, «nach E.S. ist sie jedes Mal etwas besser. Die Prognostik der Pat. ist nicht günstig.» Mitte Mai wird sie entlassen – vermutlich wieder nach Hondrich. (Bild eines Elektroschockgeräts: Michael Fund, PZM)
Bereits drei Wochen später, am 6. Juni 1964, bringt sie ihre Schwester zur dritten Aufnahme: «Sie wirkt antriebslos und affektiv merkwürdig steif mit lebhaftem Blick.» Auf der Abteilung ist sie danach ruhig, aber «ganz verschlossen, kontaktarm, innerlich ängstlich und gespannt». Am 23. Juni wird mit einer Elektroschockkur mit schliesslich acht Behandlungen begonnen. Notiz vom 21. Juli: «Deutliche Besserung. Absetzen der ES. Klagt über Schmerzen im Nacken.»
Allmählich «intellektuell reduziert»
Doch bald verschlechtert sich Emma Herzogs Zustand auf der Abteilung. «Vor dem Essen kam sie in eine panische Angst wegen des Tischdeckens und des Abwaschens. Auch tagsüber waren ihre Gedanken nur beim Geschirr.» Am 7. August beginnt eine weitere Elektroschockkur mit sechs Behandlungen, wonach «es nun wieder recht gut» geht. Im Herbst wird von der Verlegung auf eine geschlossene Abteilung berichtet, «da sie wieder in eine Unruhe mit dem Geschirr» gekommen sei. Nach einer Kur mit sieben Elektroschocks während des Oktobers geht «es ihr wieder besser».
Mitte Januar 1965 meldet sich erneut «das alte ‘Gestürm’ mit dem Geschirr». Man verordnet wieder Elektroschocks, eine Kur mit vier, Mitte Februar eine weitere mit drei und Ende März eine mit zwei Behandlungen. «Wenig Besserung. Die Pat. wollte immer wieder Tisch decken, was sie bekanntlich immer wieder in Ängste versetzt. Sie wurde deshalb im Nähsaal beschäftigt.» Die Kur Ende März wird abgebrochen, weil Emma Herzog «während der Narkose zum ES» einen «Kollaps» erleidet.
Ins Asyl Gottesgnad entlassen
Nun schweigt die Krankengeschichte ein Jahr lang. Am 1. Februar 1966 stellt der behandelnde Arzt fest, die Pat. habe «beträchtlich abgenommen», sie sei «intellektuell reduziert», so dass man «an das Bild einer progredienten Demenz erinnert» werde. Am 25. Juni 1966 wird sie ins Asyl Gottesgnad nach Spiez entlassen.
Gut zwei Jahre später die vierte Aufnahme, die zur längsten und zugleich letzten wird. Am 29. August 1968 begleitet der Fürsorger des Asyls Gottesgnad Emma Herzog nach Münsingen und gibt an, die Frau sei in letzter Zeit «sehr unruhig und nachts schlaflos» gewesen, weshalb sie «Mitpatienten und Pflegepersonal wesentlich» gestört habe.
Bis Mitte November geht es «recht ordentlich», dann verändert sich Emma Herzogs Verhalten schlagartig. Der Gesichtsausdruck wird «starr», und «ganz unmotiviert» habe sie erklärt, «sie werde einfach mit dem Geschirr nicht fertig», obschon sie «auf der Abt. nichts damit zu tun» habe. Als die Erhöhung der Largactildosis nicht hilft, wird auf ein anderes Neuroleptikum, Sordinol, umgestellt. Als auch das nicht hilft, beginnt man Ende November 1968 mit einer Elektroschockkur (fünf Behandlungen). Danach geht es einige Wochen «besser». Mitte Januar 1969 ist Emma Herzogs «Zustand jedoch wieder ganz schlimm», sodass der «Chef» eine neurologische Untersuchung anordnet, weil «vielleicht massive Gehirnverkalkungen» vorlägen. Am 15. Januar 1969 wird Emma Herzog auf die geschlossene Abteilung «VI» verlegt, «da sie bei uns [Abteilung V, fl.] pflegerisch nicht mehr haltbar» gewesen sei.
Elektroschocks gegen Folgen der Elektroschocks
Die Zeit bis zum Herbst 1970 verbringt Emma Herzog vor allem in der «Kolonie», einer Aussenstation der Klinik. Eintrag in der Krankengeschichte vom 2. Oktober 1970: «Nachdem es einige Zeit einigermassen gegangen war – die Pat. ist eben schon weitgehend abgebaut –, wirkt sie jetzt ausgesprochen steif.» Man behandelt mit drei Elektroschocks. Schon bald die nächste Krise: Die Elektroschock-Krankenkarte vermerkt eine weitere Kur (4 Behandlungen) ab dem 4. Dezember. Die nächste Krise Mitte August 1971: Erneute Besserung nach einer Kur mit vier Elektroschocks. Weihnachten 1971: «Sie stand ratlos herum, ass fast nichts und das Wenige sehr unsauber, rasche Besserung auf drei ES.»
Elektroschocks bis zum Kollaps
In den nächsten zweieinhalb Jahren erzählen Emma Herzogs Krankengeschichte und das Elektroschock-Krankenblatt ziemlich Unterschiedliches: In der Krankengeschichte gibt es nebensächliche Hinweise auf zwei Elektroschockkuren und daneben das Protokoll zu kolikartigen Schmerzen im Oberbauch, die schliesslich eine Gallensteinoperation im Bezirksspital Belp nötig gemacht hätten. Das Krankenblatt vermerkt für diese Zeit sechs Elektroschockkuren, und zwar im Dezember 1972 (2 Behandlungen), im Oktober 1973 (5), im November 1973 (1), im März 1974 (2), im April 1974 (3) und im Juli 1974 (3). Die Krankengeschichte erwähnt erst wieder die nächste – vom 6. bis 13. August 1974 – als «neue ES-Serie» mit drei Behandlungen, die erfolglos verlaufen sei: «Nach der zweiten u. dritten traten längere, bis zu zwei Tagen anhaltende Verwirrtheitszustände auf, sodass wir damit aufhören müssen.» Verordnet wird stattdessen das Neuroleptikum Haloperidol.
Am 29. August 1974 erleidet Emma Herzog einen Kreislaufkollaps. Die Ärzte vermuten einen Herzinfarkt. Die Krankengeschichte hält noch gleichentags fest: «Die apnoische Phase während der ES bekommt der Pat. sicher nicht gut, sodass es gut wäre, wenn man diese Behandlung nicht mehr bei ihr anwendet.»
Das ist – nach 26 Kuren mit 107 Schockbehandlungen – das Ende der Elektroschocktherapien von Emma Herzog. Im Winter 1974/75 leidet die unterdessen knapp 69jährige Frau an einem hartnäckigen «remittierenden Fieber» («abends bis 39 Grad»). Vermutet wird ein Harnwegsinfekt, aber die Antibiotika-Behandlung spricht nicht an. Anfang März ist Emma Herzog «kaum mehr ansprechbar«. Am 5. März 1975 ist sie in der Psychiatrischen Klinik Münsingen – wie die Institution seit 1967 heisst – gestorben.
Die Rückkehr des Elektroschocks
Im 20. Jahrhundert hat man in der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen ab 1939 Elektroschocktherapien angewendet. Dabei wurden an den Schläfen der behandelten Personen zwei Elektroden fixiert und dann ein Stromstoss ausgelöst. Weil es in den ersten Jahren zu massiven Verletzungen der Behandelten kam, zu Brüchen und Luxationen, wurden sie später narkotisiert, muskelrelaxiert (kurzfristig gelähmt) und künstlich beatmet, bevor der Stromstoss erfolgte. Die Therapieform wurde ab den 1950er Jahren durch die Psychopharmaka zunehmend konkurrenziert und geriet später durch die öffentliche Kritik auch beim Klinikpersonal in Misskredit (insbesondere wurden Hirnschädigungen vermutet). 1988 wurde die Therapie in Münsingen eingestellt.
Seit Herbst 2017 kommt der Elektroschock in Münsingen insbesondere bei schweren Depressionen wieder zur Anwendung. Statt mit Strom aus der Steckdose wird mit Kurzstromapplikationsgeräten und entsprechend kleineren Stromdosen gearbeitet. Neue wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass die Stromstösse im Gehirn zu hoher Ausschüttung von Neurotransmittern und Hormonen führen – was normalisierend wirke. Im ersten Jahr nach der Wiedereinführung der Therapie wurden 400, im zweiten 600 Behandlungen durchgeführt.
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Fredi Lerch: «Therapeutischer Wille unter Strom. Die Geschichte des Elektroschocks in der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen», 2019, 28.00 CHF. Zu bestellen beim Psychiatriezentrum Münsingen. Eine recherchierte Geschichte des Elektroschocks in Münsingen.
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FUSSNOTEN1Name geändert.*Bild über dem Artikel: Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Kunstmuseum Bern, Depositum Gottfried Keller-Stiftung. © Gottfried Keller-Stiftung, Bern. Fotografie: Paul Senn.-**Alle Zitate aus der Krankengeschichte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Eine Fallgeschichte ist das eine. Aber wozu führt die ganze Recherche? Welche Folgerungen? Geht es nur um Elektroschock? Werden die Patienten immer noch angefesselt und mit Schlafkuren ruhiggestellt? In Münsingen und der Waldau wurden bis in die 70er Jahre zahllose Bauernknechte und -mägde aus dem ganzen Kanton interniert, nachdem sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Wie sieht die soziale Zusammensetzung der Insassen heute aus? Gibt das Buch Antworten auf solche Fragen?
Dass Elektroschock (heute Elektrokrampftherapie genannt) wieder vermehrt angewandt wird, zeigt, dass die Psychiatrie keine Ahnung vom Aufbau des Menschen hat und eben wirklich eine Pseudowissenschaft sondergleichen ist. Heute geben sie den Schock unter Narkose und mit einem Muskelrelaxans, damit es keine Krämpfe mehr gibt! Aber die so hochgelehrten Weissmäntel wollen einen epileptischen Krampfanfall erzeugen, ein Aberglaube aus dem Mittelalter, dass dies heilsam sein soll. Dank dem Muskelrelaxans können sie nun die Energie noch erhöhen (ca. 10-fache Menge eines elektrischen Zauns, der durchs Gehirn gejagt wird!!) bis ihr sogenanntes Grandmal eintritt. Mit dieser menschenunwürdigen Behandlung wurde noch niemand geheilt, aber fatale Nebenwirkungen wie Gedächtnisverlust und Gleichgewichtsstörungen etc. treten immer auf. Die Psychiater geben dies zu und sagen, dass dies wieder verschwindet. Das stimmt nur bedingt, aber was mit Garantie wieder zurückkehrt, ist die Depression, die geheilt werden sollte! Also wird munter weiter geschockt. Und das im Namen von Hilfe und Heilkunde. Ein Betrug sondergleichen, der einzig die Kassen füllt, denn eine «Behandlung» kostet sicher Fr. 1’000.00 bis 2’000.00 (die Krankenkasse bezahlt ja) und z.B. machen sie im Burghölzli bereits über 1000 Behandlungen pro Jahr!