Russland verstehen mit Infosperber?
(cm) Peter Lüthi, ein Schweizer Lehrer im Ruhestand und perfekt Russisch sprechend, reist seit vielen Jahren regelmässig in die Ukraine und nach Russland. In seinen Augen ist das Bild, das Infosperber von Russland vermittelt, nicht richtig. Infosperber gibt ihm hier Gelegenheit, seine Sicht darzustellen.
«Es ist wieder einmal an der Zeit – nach der kurzen Russland-Euphorie, die sich an Gorbatschovs erlösendes Wirken knüpfte – entschieden für Russland einzutreten. Das kann heissen, der Berichterstattung der sogenannten Leitmedien, die eine überwiegend antirussische Stimmung erzeugen, etwas entgegenzusetzen: «sehen, was andere übersehen» (auch in Russland) und analytisch die Manipulationen zerpflücken, ob diese nun auf Unkenntnis, Käuflichkeit oder geostrategischer Absicht beruhen. Auf längere Sicht braucht es mehr: dem Leser Unterlagen und Sichtweisen zur Verfügung stellen, die Bausteine zu einem eigenen Verstehen Russlands bilden können – das ist noch etwas anderes als die «eigene Meinung», deren Bildung Infosperber erleichtern will. («Eigene Meinungen» sind oft die Feinde von Entwicklung, wie in der Regel die Meinungsspalten bestätigen.)
Das geht auch mich etwas an als jemanden, der wie andere Europäer aus einem rätselhaften Grund sein Leben nach Osten und nicht nach Westen, nach der russischsprachigen und nicht nach der angloamerikanischen Kultur orientiert hat. Meine Gedanken zur Berichterstattung und Meinungsbildung Infosperbers über Russland und die Ukraine beruhen auf einer jahrzehntelangen Vertiefung in die russische und ukrainische Geschichte, auf unzähligen Gesprächen mit Menschen aus beiden Ländern in ihrer Muttersprache sowie auf eigenen, nicht durch Touristikangebote, Youtube oder RT vermittelten Wahrnehmungen. (Seit 1990 bin ich jedes Jahr in Russland und/oder in der Ukraine mit LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern tätig und habe 1999 in Basel ein Studium in Osteuropäischer Geschichte und Russisch abgeschlossen.)
Infosperber hat sich nach meinem Eindruck für eine dreifache Strategie entschieden: Für Russland eintreten heisst 1. Putin als Hoffnungsträger verteidigen, besonders seine Aussenpolitik als berechtigt und friedensstiftend verstehen, 2. Missstände in Russland, die durch Putins 20-jährige Regierung mitverantwortet werden, verschweigen, um der antirussischen Propaganda nicht in die Hände zu arbeiten, und 3. die Ukraine in schwarzen Farben schildern, so dass Russland im Vergleich heller strahlt und Putins Ukrainepolitik sich umso besser rechtfertigen lässt. Diese Strategie halte ich für riskant: wegen der nur ausgetauschten Feindbilder, wegen ihrer unbeabsichtigten Übereinstimmung mit der auf russischen Staatsmedien verbreiteten Propaganda (und dadurch Verlust der Glaubwürdigkeit), wegen einem fundamentalen Widerspruch zu den eigenen deklarierten Werten. (Der Beitrag von R. Berger ist meines Wissens eine Ausnahme.)
Ich beginne meine Betrachtung mit einer Provokation, um anschliessend an diesem anschaulichen Beispiel einen Ausweg anzudeuten, den ich aus dem Dilemma heutiger Russlandversteher suche. Bei der Wahl dieses einen Beispiels leitet mich auch die Notwendigkeit, mich auf eigene Wahrnehmung berufen zu können, die sich nicht als NATO-Propaganda entlarven lässt, obwohl sie Russland unter Putins Lenkung von einer bedenklichen, meine tiefen Sorgen weckenden Seite zeigt. Ich riskiere also, den Russlandfeinden in die Hand zu arbeiten. Aber ich habe es gesehen, und es beunruhigt mich als Freund Russlands.
2015 hielt ich mich beruflich in Irkutsk auf. Unübersehbar in der Stadt die staatlich proklamierte Erinnerung an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, der immer noch nicht als Weltkrieg, als Menschheitstrauma erinnert werden soll, um den sowjetischen Heldenkult nicht abzuschwächen. Auf Gedenktafeln wird des Endkampfs mit dem Terminus «Stalinschläge» und einem Stalinfoto gedacht. Vor dem Schauspielhaus zitiert eine neue Schautafel stolz ein Anerkennungsschreiben Stalins. Der traditionelle tägliche Aufmarsch der Mittelschüler im Stechschritt vor der ewigen Flamme wurde in diesem Jubiläumsjahr aufgebessert. (In Jaroslavl sah ich 2019 nicht Mittelschüler, sondern Kinder mit umgehängtem Sturmgewehr am Soldatendenkmal aufmarschieren.) Nur durch einen in Irkutsk lebenden Schweizer erfuhr ich von einer verschwiegenen Gedenkstätte ausserhalb der Stadt für die etwa 15’000 im Auftrag Stalins 1937/1938 dort Erschossenen. Dahin muss man entschieden wollen, die Route ist nicht beschildert, der letzte morastige Weg mit einer Kette abgesperrt. Über den Massengräbern – mit den am Ort der Erschiessungen verscharrten Opfern des grossen Führers, der gerade in der nahen Stadt im Auftrag der Putin-Regierung gefeiert wird – ist am Ende der Perestrojka ein tief berührendes, still in einem Birkenhain liegendes «Memorial» errichtet worden, das ganz ohne Pathos dem Grauen gerecht wird, von dem alle wussten und wissen, nur mit der Bitte ergänzt, man möge alles tun, damit solches sich nicht wiederhole. Ein Historiker in Irkutsk erzählte mir, wie die Forschungen zur stalinistischen Repression unter Putin wieder unerwünscht sind, genauso wie neue Forschungen zur damaligen Führung der Sowjetarmee (nach Putins eigenen Worten brauchen wir keine «neuen Historiker», auch keine russischen). Die Regierung ging zunehmend feindseliger – gerade 2019 – gegen die Organisation Memorial vor, die sich um eine Aufarbeitung der Massenverbrechen und um die Würdigung der Opfer verdient gemacht und auch diese Gedenkstätte geschaffen hat. In der einheitlichen Abschlussprüfung aller Mittelschulen muss man keine Fragen zu den Repressionen beantworten können, sondern, neu eingefügt, die Namen von Truppeneinheiten und ihrer Kommandeure im Vaterländischen Krieg auswendig wissen. Patriotismus zu erzeugen ist ja die vom Staat geforderte Zielsetzung des Geschichtsunterrichts. Es war im selben Frühjahr 2015, als der Sieg auf dem Roten Platz in Moskau mit besonderer Grossartigkeit gefeiert wurde, nicht ohne assoziativen Bezug zum aktuellen Ereignis auf der Krim, das in den staatlichen Medien eindeutig als «Sieg» konnotiert wurde. Ich erspare mir die Beschreibung, da man sich als Augenzeuge diese sakrale Erhöhung des Imperiums samt den neusten Atomraketen als Kultgegenstände im Internet anschauen kann. (Das Video ist kein NATO-Fake, es ist von den Staatsmedien stolz als Selbstausdruck von Putins Russland ins Netz gestellt. Ich empfehle, sich der Wirkung dieses Gottesdienstes der Macht während der ganzen Dauer auszuliefern.)
Soll ich nun solche Wahrnehmungen verschweigen, wenn ich für Russland eintreten will? Soll ich versichern, dass die neue Verehrung eines der ganz grossen Menschheitsverbrecher als Sieger gar nichts sage über die Gesinnung der Regierenden? Soll ich Ängste in schwachen Nachbarstaaten vor dieser sich theokratisch inszenierenden Militärmacht mit Stalinhintergrund einfach lächerlich finden, eine Anti-Russland-Hysterie als Produkt westlicher Propaganda?
Ich möchte für Russland eintreten, das heisst, ich muss Russland verstehen lernen. Die westlichen Leitmedien verpassen dieses Kriterium, indem sie mit Antipathien und Ängsten spielen. Aber nicht nur Antipathie, gesteigert zu Hass, verhindert ein Verstehen, sondern ebenso Sympathie, gesteigert zur Schwärmerei, zum Schönreden von Gefährlichem, Hässlichem und Ausweglosem. Empathie hingegen ist weder Antipathie noch Sympathie, sie kann und will auch den dunklen Seiten ins Auge schauen, weil sie ja verstehen will, weder verteidigen noch anklagen. Dadurch führt sie zum Erkennen des Tragischen in Russlands Geschichte und Politik als Grundlage von Mitleid. Empathie führt aber auch zum Entdecken von dem, was zukunftsfähig ist in diesem seltsamen Russland, was erst bescheiden im Entstehen ist, was sich immer wieder in der Begegnung mit russischen Menschen begeisternd andeutet, was jedoch der Inszenierung auf dem Roten Platz, dem Patriotismus und der obrigkeitlichen Kreation russischer Identität absolut fremd gegenübersteht, diesem Kult des Abgestorbenen. Was helfen der Bevölkerung in ihren Nöten die dem Doppeladler auf der Rubelmünze wieder aufgesetzten imperialen Zarenkrönchen zum Schritt in die Zukunft? Was hilft ihr der Kriegshafen Sewastopol? Was helfen den Kindern und Frauen die Versicherungen der Männer im Moskauer Patriarchat und im Kreml, Russland sei gegenüber dem dekadenten Westen der treue Hort heiliger Familienwerte? (Ein Leiter des staatlichen Statistikamtes beklagte, Russland komme schwer aus der demographischen Krise heraus, solange es Weltmeister im Abtreiben sei, und Frauen geniessen kaum Rechtsschutz gegen die im europäischen Vergleich überdurchschnittliche häusliche Gewalt.)
Das Schimpfwort «Putinversteher» scheint mir zu viel der Ehre. Wer Putin für den weissen Ritter hält, der zuallererst an das Wohl seiner russländischen Bevölkerung denkt, dann an das Wohl der «russischen Brüder» in den Nachbarstaaten, schliesslich sogar an das Wohl der syrischen Bevölkerung und erst dann an die Restauration des Imperiums und vielleicht gar nicht an sich selber – der versteht ihn nicht, genauso wenig wie jemand, der ihn für den Bösewicht hält, der immer lügt und den Weltfrieden in Unordnung bringt. Wenn dieselbe scharfsinnige Demontage der amerikanischen Lügen, wie sie in westlichen Anti-Mainstream-Medien eingeübt ist, auch auf Putins Regierungstätigkeit angewendet wird, bleibt vom weissen Ritter nicht viel übrig, ohne dass daraus ein zu bestrafender Dämon wird.
Die Lösung, die Infosperber vorschlägt, ist mathematisch richtig: Ein ausschliesslich negatives Bild (in den westlichen Leitmedien) plus ein ausschliesslich rechtfertigendes Bild Russlands – zu dem ein ausschliesslich negatives Bild der Ukraine unerlässlich scheint – bei Infosperber ergeben zusammen die Wahrheit. Im Leben erweist sich aber diese Logik als unfruchtbar für eine Konfliktlösung. Befeuert durch die Eigendynamik des Internets, bilden sich geschlossene Communities, die antirussisch und prorussisch aufeinander einhacken, anklagend und verteidigend, blind der empirisch nicht nachweisbaren Logik vertrauend, dass der Feind des Bösen ein Guter sein muss und dass der, welcher eine Lüge aufdeckt, selber die Wahrheit sagt. Minus und plus ergibt aber mathematisch null und nicht Verstehen. Farblich gesprochen: Schwarz und Weiss ergeben Grau. Verstehen ist aber bunt, ein nie endender Prozess der empathischen Annäherung, immer nur ein Verstehen-Lernen.
Eine dramatische Problematik sehe ich ausserdem darin, dass diejenigen Journalisten und Bürger in Russland, die am meisten die Werte Infosperbers teilen, verraten werden in ihrem Bedrängtsein durch die Staatsmacht, wenn sie neben den von der Regierung absolut kontrollierten Leitmedien einen Hauch von Unabhängigkeit bewahren wollen und wenn sie von offiziellen Sprechern als «Agenten» oder «5. Kolonne» bezeichnet werden. (Diese für die Denunziationen der Stalinzeit übliche Terminologie ist unter Putin zurückgekehrt.) Es geht für mich, der die Werte Infosperbers teilt, an die Schmerzgrenze, wenn in diesem Medium nicht nur pragmatisch die Stabilisierung Russlands und ein geschicktes Agieren in der Weltpolitik unter Putin gewürdigt werden, sondern wenn eine geballte Staatsmacht dem wohlwollenden Vertrauen der Leser empfohlen wird, die seit 20 Jahren sich weder von einem unabhängigen Parlament noch von einer unabhängigen Justiz noch von staatsunabhängigen Medien begrenzen lässt.
Auf meinem Lebensweg mit Russland ergaben sich Möglichkeiten, für dieses einzutreten: Ich kann Lehrer z. B. bei einem Geschichts- und Staatskundeunterricht unterstützen, der nicht in Patriotismus und Gefolgschaft endet. Ich kann an Initiativen für eine neue Landwirtschaft tätig teilnehmen, die ökologischen Umgang mit der Natur als Teil einer Neuerung sehen, die in der russischen Geschichte eine kulturelle Revolution darstellt: Ökologische Landwirtschaft wird gelebte Solidarität zwischen Stadt und verelendendem Dorf, wird unerlässliches Standbein einer zukunftsfähigen Pädagogik für die Stadtjugend und einer zukunftsfähigen, nicht nostalgischen und nicht im Alkohol ertrinkenden russischen Dorfkultur. Warum soll ich nicht gleichzeitig Putins Lügen (auch in Bezug auf Ukraine, Donbass und Krim) und seine Bedienung lebensfremder Nostalgien durchschauen, genauso wie die diesbezüglichen Lügen westlicher Politiker? Werde ich dadurch zum Feind Russlands?»
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… und ein paar Bemerkungen seitens Infosperber
Sehr geschätzter Herr Lüthi
Ihre Bemerkung betreffend meinen Kollegen Roman Berger macht deutlich, dass sich Ihre Kritik an mich wendet, da die meisten Artikel auf Infosperber zum Thema Russland und/oder Ukraine von mir geschrieben wurden. Ich erlaube mir deshalb hier eine ebenso persönliche Entgegnung.
Sie, Peter Lüthi, sind Lehrer. Sie vertreten in Form der Waldorf-Pädagogik eine Pädagogik, die nicht nur die intellektuellen Fähigkeiten der Jugendlichen zu steigern, sondern neben dem Kopf auch Herz und Hand zu fördern versucht. Sie haben es mit jungen Menschen zu tun, Sie haben die Aufgabe, ihnen ein positives Menschenbild zu vermitteln. Es geht um unsere Zukunft.
Auch ich stamme aus einer Lehrerfamilie. Ich studierte Geschichte und wurde nach einem militärkritischen Leserbrief von einer Zeitungsredaktion dazu aufgefordert, doch öfters zu schreiben. So wurde ich nicht auch wieder Lehrer, sondern Journalist. Bei Infosperber habe ich nun vor allem die Aufgabe, die Leserinnen und Leser darauf aufmerksam zu machen, wenn die grossen Medien einseitig informieren. Und das tun sie, wenn es um Russland geht, schon lange und deutlich: einseitig negativ nämlich.
Infosperber beansprucht keine Deutungshoheit. Und immer wieder stellen wir eine Box unter unsere Artikel, in der darauf aufmerksam gemacht wird, dass durch unsere «Korrektur»-Arbeit erneut der Eindruck von Einseitigkeit entstehen kann:
Ergänzende Informationen
Red. Besonders in geopolitischen Auseinandersetzungen versuchen alle Konfliktparteien, ihre eigenen Absichten zu vertuschen, die Gegenseite zu diskreditieren, falsche Fährten zu legen und die Medien zu instrumentalisieren.
Als Zweitmedium gehen wir davon aus, dass unsere Leserschaft die von grossen Medien verbreiteten Informationen bereits kennt. Deshalb fokussiert Infosperber auf vernachlässigte Fakten, Zusammenhänge und Interessenlagen. Das kann als einseitig erscheinen, soll aber die grossen Medien ergänzen.
Immer mehr Bürgerinnen und Bürger schätzen unsere Zusatzinformationen, um sich eine eigene Meinung zu bilden.
Zu Ihrem anschaulichen Beispiel, die Pflege der Erinnerung militärischer Erfolge: Als Historiker kann ich Russland, in dessen Kultur die Geschichte immer schon eine wichtige Rolle spielte, in diesem Punkt sogar ein wenig verstehen. Hitler hatte 1941 schon fast ganz Europa in der Hand – zum Teil durch Allianzen, zum Teil durch militärische Besetzungen. Nicht auf seiner Seite waren praktisch nur noch Teile Skandinaviens und das Vereinigte Königreich. Es gab in Europa nur noch eine Hoffnung, wer Hitler-Deutschland und den Nationalsozialismus bezwingen könnte: Russland. Und Russland hat es tatsächlich geschafft – mit 27 Millionen Toten, die Hälfte davon Zivilisten. Es gibt auch heute noch kaum eine russische Familie, die in diesem schrecklichen Krieg nicht wenigstens einen Vorfahren, den Grossvater vielleicht oder einen Grossonkel, verloren hat.
Was tun andere Länder zur Pflege der militärischen Vergangenheit? Schauen Sie sich die Reenactor-Szene in Deutschland oder auch in Irland an. Auch da werden kriegerische Ereignisse theatergleich nachgebildet und gefeiert. Und als Schweizer: Hand aufs Herz! Obwohl die Schweiz im Zweiten Weltkrieg militärisch nicht involviert war und keine Opfer zu beklagen hatte: Es gab bis in die 1970er Jahre hinein die Kadetten. Auch ich musste – als damals 12-Jähriger – im Aargau immer am Donnerstag-Nachmittag militärisch uniformiert antreten. Zofingen spielt «Chriegerlis» noch heute am Jugendfest jeweils am ersten Juli-Wochenende mit dem gespielten Gefecht auf dem Heitere-Platz zwischen den mit Kanonen bewaffneten Freischärlern und den – natürlich immer siegreichen – Kadetten.
Haben Sie schon einmal ein deutsches Dokument gesehen, das von Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident, Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin, Daniel Günther, Präsident des Bundesrates, und von Prof Dr. Dr. h.c. Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, also von den fünf ranghöchsten deutschen Politikern und Beamten gemeinsam unterschrieben ist? Es gibt dieses Dokument: ein Aufruf zur Unterstützung des «Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.», erschienen zum Beispiel in der «Zeit» Nr. 27/2019 und auch als gedruckter Flyer, und dies unter der Schlagzeile «Gemeinsam für den Frieden in Europa». Auch da wird des kriegerischen Einsatzes der Soldaten gedacht, die sich für das «Vaterland» eingesetzt haben und dabei umgekommen sind – für das Vaterland unter Hitler notabene, so wie, auf der anderen Seite, die russischen Soldaten für ihr Vaterland unter Stalin umgekommen sind.
Waren Sie schon mal in Prag und dort auf der Burg? Ist nicht die dortige Wachablösung eine vergleichbare Show wie die, die Sie im Bild von Irkutsk (siehe oben) festgehalten haben?
Die erste Waldorfschule in Russland wurde 1996 gegründet. Mittlerweile gibt es davon mehr als ein Dutzend und die Moskauer Waldorfschule ist «in den Bildungskreisen des Landes anerkannt und dank ihrer pädagogischen Eigenart zu einem festen Bestandteil der Moskauer Schullandschaft geworden», wie ich auf der Website der Waldorfschule Moskau lesen kann. Schon zweimal wurde ein Lehrer der Moskauer Waldorfschule in Russland zum «Lehrer des Jahres» erkoren. Im November 2010 besuchte Wladimir Putin – damals als Premierminister – die Waldorfschule Moskau sogar persönlich. Sind das keine Hinweise darauf, dass Russland offener ist, als es die westlichen Leitmedien wahr haben wollen?
Sie schreiben von Ihren persönlichen Begegnungen. Muss ich extra erwähnen, dass auch ich in Russland etliche Bekannte habe, im vergangenen Jahr in Russland war und auch dieses Jahr wieder im Sinn habe, hinzufahren?
Ihre These, dass ich kritisch über die Ukraine nur schreibe, um wegen der Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland die Verhältnisse in Russland in besserem Licht erscheinen zu lassen, geht in die falsche Richtung. Weil der Westen die Ukraine gerne im eigenen Einflussbereich – nicht zuletzt auch in der NATO – verortet haben möchte, lassen seine Leitmedien manche problematische Entwicklung in diesem Land einfach unbeleuchtet. Da ist meine Aufgabe als Journalist von Infosperber, auf diese Themen aufmerksam zu machen, zum Beispiel auf die dortige Verherrlichung der Nazi-Kollaborateure Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch, oder auch auf die lebhafte dortige Neonazi-Szene.
Verbinden tut uns, Sie als Lehrer, mich als Journalist, so hoffe ich, dass wir beide daran arbeiten, die Welt friedlicher werden zu lassen, Sie auf Ihre und ich auf meine Weise.
Christian Müller
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Herr Lüthi, ihre Ausführungen haben mich nicht überzeugt. Leider habe ich nicht soviel Zeit um so ausführlich auf ihre Erläuterungen einzugehen. Das Putin kein politischesEngelchen ist, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber stellen Sie sich mal Russland vor ohne Putin. z.B. einem Jelzin der seine Wahlen durch die USA mitfinanzierte. Ein schwaches Russland, dass vom Westen geradezu zerpfückt wird und im Chaos zerfällt. Eines ist auf jeden Fall ganz klar. Wer sich fragt wer in der Welt die meisten Kriege anfängt und überall auf dieser Welt die Politik massiv und mit Gewalt beeinflußt, das ist sicher nicht Russland und auch nicht Putin. Ich auf jeden Fall habe Verständniss für die Handlungen von Putin. Wären die Amerikaner nach dem Fall der Mauer z.B. aus Deutschland abgezogen, sähe das bestimmt etwas anderst aus. Stattdessen rückt die NATO mit Deutschland wieder mal direkt zur russischen Grenze vor.
Zum Abschluß hätte ich noch eine gute Buchempfehlung : Eiszeit von Frau Gabriele Krone Schmalz. Eine renomierte Russlandkennerin. Da deckt sich viel mit meinen Kenntnissen. Hermann Naegele Schwarzwald
Ich bitte Sie, Herr Müller: Sie wollen doch nicht ernsthaft das Zofinger Jugendfest mit dem (historisch fragwürdigen) Erinnerungskult in Russland auch nur im Entferntesten vergleichen? Hier eine freiwillige und für die Schweiz doch reichlich exotische Veranstaltung, dort Zeremonien, die von oben verordnet bzw. zumindest auf gesellschaftlichen Druck hin stattfinden. Niemand redet die Opfer Russlands im Zweiten Weltkrieg klein, aber heute werden sie zu politischen Zwecken missbraucht.
Weiss nicht, warum man eine Kritik auf vergangene Artikel sofort mit einer Replik kontern muss.
Herr Christian Müller fühlt sich hier mit Verweis auf Herrn Berger angesprochen, obwohl Herr Lüthi exakt Herrn Berger von seiner Kritik ausnimmt.
Als Mitglied der Konzernleitung einer Schweizer Chemie Firma führte ich 1987 Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung. Dort konnte ich die wichtige Rolle des KGB erfahren. Was mich am meisten beeindruckte war die fachliche Kompetenz dieses Elitekorps. Sie kannten die Forschungstätigkeiten unserer Firma bis in die Einzelheiten. Die besten Hochschulabgänger Russlands wurden vom KGB angestellt. Diese Leute sahen klar das Ende der Sowjetunion voraus. Putin stammt aus diesem Elitekorps. Später war ich zweimal in St. Petersburg, wo ich interessante Gespräche mit Einheimischen führte. Mein Eindruck ist klar: Russland ist immer noch stark durch den zweiten Weltkrieg geprägt. Die Belagerung von St. Petersburg (Leningrad) durch die Nazis, die etwa 1,1 Millionen Bewohner in den Hungertod trieb, sitzt immer noch tief in den Seelen der Leute. Die Leistung Putins ist enorm, wenn man sich an die katastrophale Situation unter Jelzin erinnert. Geopolitisch hat Putin extrem weitsichtig und klug gehandelt. Wenn ein dritter Weltkrieg trotz allen Provokationen durch die NATO – bis jetzt! – verhindert werden konnte, ist dies zu einem wesentlichen Teil Putin zu verdanken. Auch sein Einsatz in Syrien konnte die extrem gefährliche Lage dort entschärfen. Dass Putin nicht eine zarte Kreatur ist und auch Schattenseiten aufweist, gehört zur Gesamtbeurteilung. Unter dem Strich war und ist seine Rolle jedoch als Wiederbeleber Russlands und als globaler Friedensbewahrer eindeutig positiv.
Wer regelmässig mehr über Russland erfahren will, geht auf anti-spiegel.ru! Einerseits ist die Adresse Programm, andererseits gibt es oft Übersetzungen des russischen TV, zusammen mit Erklärungen, wie das in Russland genau funktioniert. (Im Moment die Übersetzung einer Fragestunde mit Putin. Selbst uns Schweizern kann das Augenwasser kommen, wenn das dort tatsächlich so funtioniert.
Der Betreiber der Seite ist Deutscher, wohnt in St. Petersburg und blickt auf eine jahrelange Geschäftstätigkeit in Russland zurück.
Vielen Dank für den Artikel von Peter Lüthi!
Hat Christian Müller seine Entgegnung eigens mit dem Ziel geschrieben, zu zeigen, wie Lüthi recht hat? Das wäre ihm vollends gelungen!
Niemand bestreitet, dass die russische Bevölkerung im zweiten Weltkrieg enorme Opfer erbringen musste. Kann man daraus irgend etwas positives über Stalin ableiten? Eben nicht. Niemand nimmt es den Russen übel, wenn sie der Kriegsopfer gedenken. Aber die Opfer Stalins hätten es auch verdient, dass ihrer gedacht wird.
Christian Müller war für mich klar der meistgeschätzte Autor bei infosperber – bis zu den Krim-Artikeln. Dass ein Schweizer, dem das skrupulöse Vorgehen bei der Jura-Verselbständigung bekannt ist, die Aneignung der Krim durch Russland, ohne dass irgendwelche Gespräche mit der Ukraine stattgefunden hätten, problemlos mit dem Hinweis auf eine Volksabstimmung nach Aneignung legitimieren kann, finde ich doch erstaunlich. Ebenso erstaunlich ist Müllers Replik. Auf diesem Niveau lässt sich schlecht diskutieren. Das hat Peter Lüthi auch sehr deutlich gemacht. Ich sehe durchaus gute Argumente für eine Zugehörigkeit der Krim zu Russland. Aber gerade das Krim-Beispiel zeigt, wie überholt Einheitsstaatlichkeit in Vielvölker-Situationen ist. Dem Minoritätenproblem der Krimtataren beispielsweise hilft eine Mehrheitsabstimmung überhaupt nicht. Es würde ihnen auch nicht helfen, wenn man sie in ein Homeland einsperren würde. Die Diskussion müsste auf einer völlig anderen Ebene stattfinden. Nach Gesichtspunkten politischer, sozialer und kultureller Nachhaltigkeit beurteilt gibt es eben die Alternative, dass ein Land entweder diesem oder jenem Staat angehört, gar nicht. Es muss die Möglichkeit der kulturellen Zugehörigkeit zum einen Land geben, während die wirtschaftliche Verflechtung zu einem anderen Land viel stärker sein mag. Doch die Indoktrination durch den historisch ziemlich jungen Einheitsstaatsgedanken sitzt wohl zu fest in den Köpfen. (Dazu mehr in meinem Buch «Eintopf und Eliten»)
@Matthias Wiesmann: Danke für Ihre wertvollen Hinweise, auch auf Ihr Buch! Wir sind nicht so weit voneinander entfernt. Ich kritisiere an der Ukraine genau die Einheitlichkeit, die von Kiew aus angestrebt wird: gleiche Sprache, gleiche Konfession, etc., was auch historisch nie so war. Ich bin ein Anhänger des Systems der Subsidiarität (für eine gewisse Autonomie in Stufen): Gemeinschaftliche (staatliche) Kompetenzen sollten auf die unterste mögliche Ebene gesetzt werden, also auf die Gemeinde, den Bezirk, den Kanton bzw. in der Ukraine den Oblast, etc., während man zum Beispiel Klima-Politik tatsächlich vor allem weltweit gemeinsam betreiben sollte. Für die Organisationsform der Subsidiarität, die in der Schweiz doch noch relativ stark präsent ist – das Bildungswesen zum Beispiel kantonal geregelt – gibt es in der Ukraine leider kaum Ansätze. Die Sprachgesetze in den letzten Jahren und die Zusammenführung der verschiedenen orthodoxen Kirchen sprechen eine deutliche Sprache.
Ich hatte das Glück, meine postgraduale Ausbildung in Moskau zu Zeiten Gorbatschows zu absolvieren und den ganzen Hype um Perestroika und Glasnost mitzuerleben und meinen daheim gebliebenen Kollegen und Freunden über die Wunder zu berichten.
Da werde ich das erste Mal quengelig, wenn der jeweilige Staat hartnäckig Russland genannt wird, obwohl Russland bekanntlich am Ural endet. Deswegen heisst der aktuelle Staat ja Russländische, nicht Russische Föderation.
Wenn ich meinen kaukasischen, sibirischen oder kasachischen Studienkollegen gesagt hätte, sie wären Russen, hätte mich nur die aufkeimende Freundschaft vor einem längerem Krankenhausaufenthalt bewahrt. Da werden die ziemlich ekelig, denn jenseits des Urals gibt es nur zugezogene, aber keine eingeborenen Russen. Ausserhalb von Russland (Europa) ist nicht Russland, war aber UdSSR und ist heute RF.
So geht das weiter. Die Krim gehört zu diesem Russland, egal welcher Staat gerade in Moskau oder Kiew herrscht, denn ein Land ist ein Land und ein Staat ein Staat. Auch als Teil des ukrainischen Staates war die Krim Teil des Landes Russlands. Dafür war Ulan Ude immer die Hauptstadt Burjatiens, also mongolisch, egal ob zur UdSSR, oder RF gehörig.
Länder sind langlebig und wichtig, Staaten kurzlebig und unwichtig. Das lernt man in einem grossem Staat, der aus vielen Ländern besteht. Die Staaten über den Ländern kommen und gehen, die Ländergrenzen bleiben erhalten.
Ich finde es schön, das IS auch anderen Meinungen Platz einräumt. Ich habe an Herr Lüthi einfach die Frage: wann ging es Russland jemals besser als unter Putin? Wären die Sanktionen nicht gekommen, würde es sogar noch besser gehen. Aber selbst so, wann war Russland stabiler, sicherer, wohlhabender als jetzt?
(Die «Sanktionen» sind eine Aggression des Westens, mit dem lächerlichen Argument, die Übergabe der Krim an die Ukraine – welche ohne legitime Basis durch die Sowjetunion vorgenommen worden war – zu verteidigen)
Ich schätze die Möglichkeit von Infosperber, dass Peter Lüthi eine andere Sichtweise schreiben durfte. Ebenso schätze ich die andere Sicht die Infosperber über ein Thema schreibt, ausserordentlich!! Leider ist aber auch nicht von der Hand zu weissen, dass die Infosperbersicht meist eine linkslastige Sicht darlegt. Wenn die andere Sicht noch fast eine Lobhudelei ist, wie teilweise bezüglich Putin, gibt mir das zu denken. Putin kommt aus der Führung des Geheimdienst, mit unrühmlichen Taten. Taten welche man (zu Recht) aber bei der USA kritisiert, siehe Assang. Auch in der Gegenwart mussten Putin-Gegner sogar mit Mordanschläge erfahren. Wie man so einen Menschen mit dieser Vergangenheit UND Gegenwart, auch wenn er viel Gutes machte, vertrauen kann, ist mir unbegreiflich.
Fakt ist auch der unvorstellbare Blutzoll von der damaligen UdSSR wegen Nazideutschland. Aber ebenso Fakt ist, der Nichtangriffspakt der beiden Ländern, mit der vorgesehenen Aufteilung des restlichen Europas. Ausserdem, dass dieser Blutzoll bei der Verteidigung des Landes bezahlt wurde. Also eine Reaktion, keine Aktion gegen was. Es war kein Kampf gegen die Ideologie, mit der man ja einen Nichtangriffspakt hatte.
Klar wird die Geschichte in vielen Ländern auch verfälscht. Aber unter Putin wurde diese verstärkt! Die innenpolitischen Auswirkungen daraus sind enorm. Die Anerkennung einiger Waldorfschulen fällt dagegen kaum ins Gewicht und kann deshalb nicht auf dieselbe Stufe gestellt werden.
Die beste Antwort auf die Kritik von Peter Lüthi ist der Artikel in der gleichen IS Ausgabe „UN-Sonderermittler: Brisante Enthüllungen im „Fall Assange“. Kehren wir doch erst vor der eigenen Tür!
Sehr wichtige und unbedingt notwendige Auseinandersetzung. Sichtweisen beinhalten immer Einschränkungen, das geht gar nicht anders. Deshalb hier als wichtiges Beispiel, wie man sich gegenseitig auf anständige und verständnisvolle Weise darauf aufmerksam machen kann. Es macht Mühe, ist aber der einzig richtige Weg. Danke dafür an beide.
Es ist nicht sehr Aufschlussreich, den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Russland mit einem Satz abzuhandeln. Ich finde, dass das Buch ‹Der Teufelspakt› von Sebastian Haffner ein guter Versuch ist, etwas Licht in die verworrene Zeit vor dem 2. Weltkrieg zu bringen.
Wenn man Putins Medienzensur anprangert, sollte man vielleicht auch einmal erwähnen, wie viel Internetadressen in der Schweiz gesperrt sind.
Mit den Russland-Artikeln löst Christian Müller stets aufs Neue eine rege Kontroverse aus. Warum? Ich meine, weil eine grundlegende Unterscheidung fehlt: Jene zwischen Geschichte (Vergangenheit) und aktueller Politik (Gegenwart, Zukunftsgestaltung).
Müllers Kernbotschaft ist, so meine ich, dass die Mainstream-Medien und Politiker/«Experten» zunehmend systematisch eine einseitige Geschichtsschreibung vorantreiben. Bestimmte Begebenheiten werden erwähnt, hervorgehoben, überzeichnet, andere dadurch aus dem Bewusstsein verdrängt bzw. geraten in Vergessenheit.
Dabei geht es diesen Damen und Herren doch nicht ansatzweise um Geschichte per se – nichts könnte von ihren Interessen weiter weg sein. Für sie ist Geschichte staubig/langweilig. Spannend ist sie nur insofern, als sie sich für (aktuelle) Politik/Machtspiele instrumentalisieren lässt.
Daher auch: Sich hier über Stalin/Putin zu streiten bzw. unterschiedlicher Meinung zu sein (ob z.B. bei Stalin mehr die Verbrechen oder die Befreiung Europas hervorgehoben werden sollte) mag also ein interessanter Zeitvertreib oder sogar ehrenwertes Unterfangen sein. Nur, es geht an der Sache vollkommen vorbei! Hier geht es – leider – um ein «Wetzen der Messer», um Gegenwart und Zukunft! Um eine weiteres Ausdehnen der Machtsphäre eines bereits immens viel Stärkeren.
Zum Vergleich: Für den Westen waren die Verbrechen Saddam Husseins irrelevant, solange die Geschäfte zu «unseren» Gunsten keinen Schaden nahmen.
Dann wurde die Geschichte «neu» geschrieben. Die Betonung verlagerte sich auf sein verbrecherisches Tun, wobei es auch zusehends legitim erschien, Lügen (Babybrutkasten, Massenvernichtungswaffen, 9/11) «unter die Leute zu bringen». Hier war niemand von einem Verlangen nach Geschichtskenntnissen getrieben, sondern einzig und allein von deren Instrumentalisierung.
Je allumfassender sich die Geschichte eines Verbrechers namens Saddam in den Köpfen einnistete, desto leichter wurde das «Spiel», um das es von Beginn an überhaupt ging: Das Begehen eines Verbrechens – ein Krieg gegen/um Irak. Die Geschichte hatte nur einen Zweck: Ein Verbrechen begehen zu können. Es galt zu verhindern, zurückgepfiffen und nicht «verteufelt» zu werden (bzw. sich nicht als «Teufel» bzw. Zuträger zu einem Verbrechen zu empfinden, sondern im Gegenteil sich sogar als Wohltäter und Erlöser (von dem Bösen) zu feiern).
Wer damals glaubte, es wäre seine vordringlichste Aufgabe die Verbrechen Saddams anzuprangern (und sein Nebenan zu Gleichem anzuheizen), bemerkte offensichtlich nicht, dass er mit seinem (tugendhaften) Tun exakt auf jenen Leim kroch, der für ihn ausgelegt wurde. Er leistet, mit der Einengung der Diskussion auf die Grösse der Verbrechen Saddams, jenes letzte Quäntchen Arbeit, die für das Go-Ahead (die Invasion/unser Verbrechen) erforderlich war …
@Stephan Kühne: Sie haben vollkommen recht: Es geht um die Gegenwart. Aber die Aufarbeitung der Geschichte sollte dazu beitragen, dass kriegerische Handlungen nicht mit falschen geschichtlichen Erklärungen sozusagen «legitimiert» werden können.
Mich überzeugt die Argumentation von Herrn Lüthi. Negativen Verzerrungen im Mainstream, meine ich, kann man nicht mit einem ins Positive verzerrten Bild in der Gegenöffentlichkeit korrigieren. «Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.» schreibt Brecht. Zorn über die Mainstream-Lügen sollte uns nicht dazu verführen, ihnen ein verzerrtes Bild der Realität entgegenzusetzen.
Seit mehr als drei Jahrzehnten bin ich im Rahmen städtepartnerschftlicher Beziehungen regelmäßig in Belarus und erlebe bei einigen Freunden dort eine heftige, mir schwer verständliche Ablehnung der Putinschen Politik. Ist die nur mit familiären Beziehungen in die Ukraine erklärbar?
Gegen Ende meiner Studienzeit (Slavistik war eins meiner Fächer) war ich vor 50 Jahren Mitglied einer der zahlreichen ML-Gruppen, in denen jegliche Kritik an Stalin, erst recht die Beschäftigung mit seinen Verbrechen tabu war. Diesen blinden Fleck habe ich mit Hilfe von O. Figes «100 Jahre Revolution», H. Gollwitzer «und führe mich, wohin ich nicht will», E. Jöris «Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren. Ein Jahrhundertdiktat», W. Ruge «Gelobtes Land. Überleben in Stalins Russland», E. Ruge «Metropol» u.a. getilgt.
Ich schätze die Kultur und die Menschen Russlands und und deshalb schmerzt es mich, wenn positive Ansätze wie die von Memorial blockiert werden.
Bemühen wir uns um die ganze Wahrheit.
Es ist mir nicht gelungen, die Debatte um Russland aus dem fruchtlosen Anklagen und Verteidigen herauszuholen. Wenn ich die Lage der Menschen verstehen will, kann ich nicht auf dieser Ebene verharren, die den Anklägern und Verteidigern viel Befriedigung, aber wenig Erkenntnis bringt. Ich habe kein Argument gefunden, warum es uns, denen Russland am Herzen liegt, nicht Sorge bereiten muss, dass Stalin rehabilitiert, Gedanken an die Millionen seiner Ofer missachtet und der Jugend ein militarisierter Patriotismus verordnet wird; dass die Werte des KGB hochgehalten werden und das zentrale Staatsfest darin gesehen wird, dass Tausende zum willenlosen Instrument eines Kommandanten erniedrigt werden. Als denkender Mensch kann ich gleichzeitig die rettende Stabilisierung des Landes anerkennen und die dafür verwendete Ideologie mit Schrecken konstatieren. Wie sollen US-Verbrechen im Irak meine Sorgen um Russland mindern? Warum hält Infosperber unabhängigen Journalismus in der Schweiz für notwendig, stellt sich aber hinter eine Regierung, die unabhängige Journalisten durch Gesetze und angeordnete Gerichtsurteile zunehmend behindert? Weil die sog. unabhängigen russischen Journalisten in Wirklichkeit (von Soros etc.) gekaufte Agenten sind? Weil die echten Gesinnungsgenossen von Infosperber bei Russia Today arbeiten und nicht bei Doschd? Weil die russische Regierung im Gegensatz zum Bundesrat ohnehin die Wahrheit sagt und der Kreml im Gegensatz zum Bundeshaus eine korruptionsfreie Zone ist?
NACH DIESEM LETZTEN EINTRAG DES GASTAUTORS SCHLIESSEN WIR DIE DISKUSSION ÜBER OBIGEN ARTIKEL AUF INFOSPERBER AB. VIELEN DANK FÜR DIE REGE TEILNAHME.
Vielen Dank für Ihren Beitrag, Herr Lüthi. Ich rinde es wichtig und richtig, immer wieder daran zu erinnern, dass alle Akteure kritisch zu beleuchten sind.
Ihr Beitrag zur scheinbar höchst fragwürdigen Erinnerungskultur in Russland war wertvoll.
Auf der anderen Seite gebe ich auch Herrn Müller Recht, wenn er seine Beiträge hier verteidigt: Der Infosperber kann und will nicht alles abdecken, dafür fehlen einfach die Ressourcen.
Ausserdem ist für Leser aus den D-A-CH-Ländern die Kritik der hiesigen Medien viel wichtiger als die Kritik an Russland. Dies schliesst natürlich nicht aus, auch dort zu kritisieren, was kritisiert werden muss!
Ein gewisser Dirk Pohlmann (investigativer Filmemacher) berichtet hingegen davon, dass in russischen Medien viel kritischer über die eigene Regierung berichtet wird, als hier im Westen. Ich kann das weder bestätigen noch dementieren, möchte aber darauf hinweisen, dass es sowohl «im Westen» wie auch «im Osten» wohl kritischere und unkritischere Stimmen gibt.
PS: Wie glaubwürdig ist eine Organisation wie Reporter ohne Grenzen, die einseitig finanziert wird und in ihrem Jahresbericht zur Pressefreiheit hunderte russische Journalisten ausmacht, die vom Staat behelligt werden, aber den politisch verfolgten Publizisten Julien Assange «vor der eigenen Haustür» «vergisst"?