Anti-Terrorismus: Gesetzesflut torpediert öffentliche Freiheit
Anlässlich des fünfjährigen Jahrestags des Terroranschlags auf die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» präsentierte die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) am 22. Januar eine Bilanz der von Frankreich verabschiedeten Anti-Terrorgesetze und prangerte eine Vielzahl von Missständen an.
Die CNCDH, welche die französische Regierung berät und ihr Vorschläge im Bereich der Menschenrechte, im humanitären Völkerrecht und in der humanitären Hilfe unterbreitet, fand deutliche Worte: Sie sprach unter anderem von einem «freiheitszerstörenden Missbrauch» sowie von einer Gesetzesflut, die das Gesetz widersprüchlich mache und Menschen muslimischen Glaubens stigmatisiere.
Kritikpunkt 1: Ungenaue Formulierungen im Gesetz
Unter dem Titel «Fünf Jahre nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo: Menschenrechte auf dem Altar der Sicherheit geopfert?» kritisiert die CNCDH die mehr als zwanzig Sicherheitsgesetze, die seit 1986 in Frankreich verabschiedet worden sind. Die Kommission spricht von einer besorgniserregenden Entwicklung für die Grundrechte und -freiheiten. Die «Vermehrung von Gesetzestexten», so die Kommission, «ist mehr eine Frage der politischen Zweckmässigkeit als eine wohlüberlegte Gesetzgebungsarbeit und […] macht das Gesetz ungenau, ja sogar unentschlüsselbar und widersprüchlich».
Weder gebe es eine einheitliche, allen Staaten gemeinsame rechtliche Definition des Terrorismus. Ebenso sei der Begriff «Radikalisierung» nicht viel mehr als ein schwer fassbares Konzept. Terrorismus werde in Frankreich nur durch seinen Zweck definiert und es gebe eine Reihe von Straftaten, die «Terrorakte darstellen, wenn sie vorsätzlich im Zusammenhang mit einer individuellen oder kollektiven Organisation mit dem Ziel begangen werden, die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror ernsthaft zu stören».
«Dieser Mangel an Präzision und die damit verbundenen Risiken wurden von den Sonderberichterstattern für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus bei den Vereinten Nationen angeprangert», schreibt die CNCDH.
Kritikpunkt 2: Verhaftungen auf Vorrat
Die Kommission zeigte sich besorgt über die wachsende Bereitschaft des Gesetzgebers, die Festnahme von Personen aufgrund eines Verdachts zuzulassen – noch bevor der potenzielle Straftäter oder die potenzielle Straftäterin überhaupt Gesetze überschritten hat. Dieses «Vorsorgeprinzip» habe katastrophale Auswirkungen auf die Grundrechte und die Grundfreiheiten der Bürgerinnen und Bürger.
Seit 2010 bestehe die Bereitschaft, potenzielle Straftäterinnen und Straftäter dingfest zu machen, bevor sie überhaupt eine Straftat vorbereitet hätten, so Simon Foreman, Rechtsanwalt und Vorsitzender der CNCDH-Unterkommission «Dringlichkeit». Man wolle nicht mehr wissen, wer schuldig, sondern wer verdächtig sei, sagte Michel Tubiana, Rechtsanwalt und Ehrenpräsident der Liga für Menschenrechte. Man bewege sich vom Grundsatz weg, dass Freiheit die Norm sei. Vielmehr gelte heute der Grundsatz, dass Freiheit das sei, was erlaubt sei.
Kritikpunkt 3: Verwaltungspolizei mit weitreichenden Befugnissen
Die CNCDH prangert auch die Machtverschiebung vom Strafrechtssystem hin zur Verwaltungsgerichtsbarkeit an. Während das Ziel der Verwaltungspolizei im Prinzip die Prävention sei, könne sie nun – basierend auf einer Gefahr für die öffentliche Ordnung – Massnahmen ergreifen, die den Befugnissen der Richter ähneln würden.
Als Beispiel nennt die Kommission die sogenannten «notes blanches»: Dabei handelt es sich um nicht unterschriebene Dokumente ohne Quellenangaben, die von den französischen Geheimdiensten zur Verfügung gestellt werden. Diese Zettel reichen in vielen Fällen aus, damit der Verwaltungsrichter eine Durchsuchung oder einen Hausarrest anordnen kann. Auf den «notes blanches» sei oftmals nicht einmal der Hinweis auf die kriminelle Handlung vermerkt, die von der Person ausgehen könnte. Der Verdacht beruhe auf einem Gefühl, schlussendlich ersetze der Hausarrest die gerichtliche Überprüfung.
Kritikpunkt 4: Racial Profiling
Die Auswüchse im Kampf gegen den Terrorismus führten auch zu einer «Schwächung des nationalen und sozialen Zusammenhalts», schreibt die CNCDH. So würden vor allem Menschen muslimischen Glaubens und Aussehens ins Visier genommen. Man sehe immer wieder, dass Kriterien wie die Religionsausübung oder der Kleidungsstil beim Aussprechen von Massnahmen berücksichtigt würden.
Ausnahmezustand mit massiver Gesetzesverschärfung
Als Attentäter der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) am 13. November 2015 an fünf verschiedenen Orten in und um Paris mit Schusswaffen und Bomben angriffen und dabei 130 Menschen ermordeten, reagierte die französische Regierung umgehend. Noch am selben Abend verhängte sie den Ausnahmezustand und änderte das Notstandsgesetz von 1955, um den «Inhalt den aktuellen Umständen anzupassen».
Die Folge war ein massiver Ausbau der Kompetenzen des Sicherheitsapparats. Seither können in Frankreich Personen bereits bei einem Verdacht auf eine mögliche Gefahr für die Sicherheit und die öffentliche Ordnung mit Hausarrest belegt werden. Bei einem Verdachtsfall sind die Durchsuchung von Häusern und elektronischen Geräten ohne richterliche Anordnung möglich. Unter anderem ermöglicht die Gesetzesänderung auch die vereinfachte Auflösung von Versammlungen und Demonstrationen. Verdächtige können während vier Stunden ohne Anwalt auf den Polizeiposten festgehalten werden.
Es sind vor allem Menschenrechtsorganisationen, die diese Gesetzesverschärfungen als nicht vereinbar mit den Menschenrechten und als massiven Eingriff in die Privatsphäre kritisieren. Aber die französische Regierung winkte ab. Die getroffenen Massnahmen seien notwendig geworden, um die erneute Verübung von terroristischen Attentaten zu verhindern, hiess es.
Vom Ausnahme- zum Normalzustand
Auch nach der massiven Ausweitung seiner Kompetenzen konnte der französische Sicherheitsapparat eine Reihe weiterer Terroranschläge nicht verhindern. Nichtsdestotrotz verlängerte die französische Regierung den Ausnahmezustand insgesamt sechs Mal, er endete im November 2017. Allerdings nur, weil gleichzeitig einige Gesetzesverschärfungen beschlossen wurden, die viele Bestimmungen des Ausnahmezustandes in normales Recht überführten. Der Ausnahmezustand – und damit auch der Eingriff in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger – wurde normalisiert.
Die Bevölkerung von Frankreich lebt seit 2015 in einem Staat, der die Innere Sicherheit über fundamentale Menschenrechte, wie zum Beispiel über das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Meinungsäusserungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sowie das Diskriminierungsverbot stellt. Und das, obwohl bei vielen Menschen in Frankreich inzwischen die Erkenntnis gereift ist, dass sie unter dem Ausnahmezustand und den darauf folgenden scharfen Sicherheitsgesetzen nicht besser oder schlechter vor Terrorismus geschützt sind, als das zuvor der Fall war.
Bald nach dem Ausrufen des ersten Ausnahmezustandes häuften sich in Frankreich die Berichte über zahlreiche Missbräuche: Improvisierte, überzogene und schlecht durchgeführte Polizeieinsätze, Aussetzer und brutales Vorgehen von Sicherheitskräften sind nur einige davon. Immer wieder wurde auch das Versammlungsrecht torpediert. So haben Beamte im Namen des Ausnahmezustandes zwischen November 2015 und Mai 2017 639 Einzelmassnahmen angefordert, um Personen davon abzuhalten, an öffentlichen Versammlungen teilzunehmen.
Die meisten der Massnahmen wurden im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen das Arbeitsgesetz ausgesprochen – und damit nicht im «Kampf gegen das organisierte Verbrechen, den Terrorismus und dessen Finanzierung». Vielmehr kommt die eigene Bevölkerung unter die Räder.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine